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Sie hat Hotels aus Altstadthäusern geformt, ikonische Bauten restauriert und dem Weltfussball ein Hauptquartier gebaut: Seit mehr als fünf Jahrzehnten prägt Tilla Theus die Architektur in Zürich und weit darüber hinaus. Die 82-Jährige arbeitet noch immer in Zwölf-Stunden-Tagen – mit Bleistift, Skizzen und Modellen, selten am Computer. Zwischen Tradition und Transformation, zwischen architektonischer Handschrift und ökonomischer Notwendigkeit hat sie ein Werk geschaffen, das ebenso beständig wie streitbar ist.
Zürich, Kreis 6. Am Ende eines langen Tischs sitzt Tilla Theus. Vor ihr liegen ausgedruckte E-Mails, daneben Skizzen, markierte Pläne, Materialmuster. Hinter ihr stehen Modelle aktueller Projekte, fein geordnet wie ein dreidimensionales Archiv ihres Denkens. Ein Computer fehlt – stattdessen: Bleistifte, Notizen, Korrekturen mit der Hand. Der grosse Pitch der Vorwoche verlangt Nachreichungen, die 82-Jährige absolviert einen weiteren Zwölf-Stunden-Tag. Wer hier Platz nimmt, versteht schnell: Ans Aufhören denkt sie nicht.
Tilla Theus gilt als eine der bedeutendsten Architektinnen der Schweiz, in Medien wurde sie als «Grande Dame der Architektur» bezeichnet. Den Titel hat sie sich hart erarbeitet – einen Tag nach ihrem Studienabschluss an der ETH Zürich 1969 eröffnete sie ihr erstes Büro; später, 1985, gründete sie dann die Tilla Theus und Partner AG, die sie bis heute führt. Ihr Name steht für Bauten, die Zürich und die Schweiz geprägt haben. Der internationale Meilenstein: der 2006 eröffnete FIFA-Hauptsitz in Zürich-Hottingen. Doch auch lokale Ikonen gehören zu Theus’ Schaffen, etwa das Hotel Widder, das aus neun historischen Häusern zu einem zusammenhängenden Hotel umgebaut wurde. Auch der Leuenhof an der Zürcher Bahnhofstrasse wurde von Tilla Theus und ihrem Team aufwendig restauriert, heute beheimatet das Gebäude die Boutique der Luxusuhrenmarke Audemars Piguet sowie die Privatbank Pictet.

Tilla Theus ist seit über 50 Jahren im Geschäft, sie hat viel gesehen. Doch die Herausforderungen haben sich verschoben, wie sie erzählt: Bauprojekte würden zunehmend komplex werden, vor allem aufgrund langwieriger Einsprachen. «In der Schweiz ist die Einsprache zur fünften Landessprache geworden», sagt Theus schelmisch. Für Architekturbüros bedeutet das: Teams disponieren, Planungen neu aufstellen – um im letzten Moment eventuell alles wieder umwerfen zu müssen. Parallel bleibt die Gratwanderung zwischen architektonischer Handschrift und wirtschaftlicher Tragfähigkeit. «Architekturbüros scheitern oft nicht am Entwurf, sondern am Geschäftsmodell», sagt Tilla Theus im Interview mit Forbes. Rendite und Qualität sind für sie keine Gegensätze, sondern Voraussetzung für Bauten, die über Jahrzehnte bestehen: Diese müssen funktional wandelbar sein; dabei gleichzeitig ökonomisch tragfähig und ästhetisch überzeugend. «Ein Gebäude soll so gestaltet sein, dass es konzeptionell auch in mehr als 30 Jahren noch Bestand hat und wenn nötig für veränderte Nutzungen umrüstbar ist», sagt Theus.
Für die Zukunft zeigt sie sich dennoch optimistisch. Technologien wie 3D-Druck oder KI sind für Tilla Theus hilfreiche Werkzeuge, die Prozesse vereinfachen, nicht ersetzen: «Natürlich können kostenminimierende Renditebauten Sinn machen. Gute Architektur entsteht aber nicht aus Algorithmen.» Und sie ergänzt: «Zum Denken brauche ich aber immer noch den Bleistift!» Architektur werde auch in zwanzig Jahren dort entstehen, «wo Menschen mit Vision und Engagement gemeinsam Überdurchschnittliches schaffen».

Tilla Theus wurde 1943 in Graubünden geboren. Sie war die Tochter des Politikers Arno Theus, doch sie wollte von Anfang an aus dem Schatten ihres Vaters treten. Ihr Weg war aber keineswegs vorgezeichnet. Der Vater wollte «etwas Anständiges» für die Tochter – sie interessierte sich für Mode, Schmuck, Stoffe, wollte etwas schaffen und entwerfen können. Ein passendes Studium für Mode gab es aber nicht, also widmete sie sich doch den Häusern; und das, obwohl ihr Vater Architektur nicht für angemessen hielt.
Doch Tilla Theus studierte schliesslich an der ETH Zürich, auch unter Bernhard Hoesli, Jacques Schader und Alberto Camenzind. Sie diplomierte 1969 und eröffnete laut eigenen Angaben «am nächsten Tag» gemeinsam mit ihrem zukünftigen Ehemann Hanspeter Grüninger ein Büro in Architektengemeinschaft. Seit 1985 führt Theus ihr eigenes Atelier in Zürich.

Der Erfolg kam schnell. Theus gewann den Wettbewerb für die Erweiterung und die Renovierung des Altersheims von Mollis, immerhin ein Projekt, das ein Volumen von sieben Mio. CHF umfasste – in den 70er-Jahren. Doch die Herausforderungen waren ebenso schnell da: Das damalige Eherecht verhinderte, dass sie als verheiratete Frau Verträge unterzeichnen durfte; Wettbewerbe blieben verschlossen, weil sie durch die Heirat ihren Bürgerort verlor. Sie musste sich durchsetzen – gegen Gesetze, gegen Strukturen und gegen die Branche. Ihr Durchbruch war die Polizeiwache an der Rathausbrücke: Der Entwurf spaltete Zürich, es kam zum Referendum; Theus zog los und warb intensiv für ihr Projekt. Am Ende gewann sie –
die Rathauswache ist aus Zürichs Innenstadt nicht mehr wegzudenken.
Ihr vielleicht komplexestes Projekt bleibt das Hotel Widder. Theus hatte erst wenige Monate ihr eigenes Büro, stand ganz am Anfang. Die Ausgangslage war komplex: neun Altstadthäuser, die auf unterschiedlichen Niveaus standen. Theus wurde eigentlich beauftragt, die Innenarchitektur zu gestalten. Sechs Wochen hatte sie für ihr Konzept Zeit – drei davon nutzte sie, um einen völlig neuen Gesamtentwurf vorzulegen. Wäre dieser abgelehnt worden, hätte Theus womöglich zusperren müssen. Doch sie war überzeugt, dass der Auftrag sonst scheitern würde: «Wenn der Gesamtentwurf nicht stimmt, hilft die schönste Innenarchitektur nichts», so die Architektin.
Ihre Herangehensweise zeigte sich im Detail. Vorhänge liess sie so entwerfen, dass sie gewendet statt ersetzt werden konnten; für ornamentale Türen suchte sie monatelang nach einem passenden Handwerker – bis sie auf einem Flohmarkt fündig wurde. Das Resultat: ein Hotel, das bis heute als eines der erfolgreichsten Häuser Zürichs gilt. Und dennoch war Theus am Rande des Bankrotts: «Ich wäre bankrott gegangen, wenn die damalige SBG nicht Hand geboten hätte für eine faire Entschädigung unseres grossen Aufwands.»

Ich möchte mitprägen. Ich bin nicht einfach das Gesicht und die anderen machen.
Tilla Theus
Während viele Büros mit entsprechendem Erfolg stark wuchsen, hielt Theus ihr Team bewusst klein – sie beschäftigte stets zwischen 16 und 18 Mitarbeitende. Ihre Mitarbeiter rekrutiert sie heute von der ETH sowie von Fachhochschulen, denn «die Mischung zählt». Theus war immer wichtig, nicht nur ein Name an der Tür zu sein: «Ich möchte mitprägen. Ich bin nicht einfach das Gesicht und die anderen machen.» Wirtschaftliches Denken gehört für sie zum Handwerk. Sie weiss: Architekturbüros scheitern eher am Cashflow als an der Kreativität. Mit Bauherrschaften arbeitete sie «fast immer auf Augenhöhe»: «Zeit ist Geld. Ich lote die möglichen Risiken mit der Bauherrschaft zusammen aus und versuche, diese zu vermeiden oder – wenn dies nicht machbar ist – einzukalkulieren.»
Auch ihr Auftritt unterschied sie stets von ihren restlichen Kollegen: kein schwarzer Rollkragen, sondern pinke Schuhe und Churer Dialekt. Theus sass in Kommissionen, engagierte sich in Heimatschutz und Denkmalpflege, wirkte in Jurys mit. Sie pendelte zwischen Zürich und Graubünden, blieb dem Kunstmuseum Chur verbunden, sammelte Atelierskizzen von Augusto Giacometti. Projekte in Arosa, St. Moritz, Valbella – und immer wieder Zürich – tragen ihre Handschrift.

Die Liste der Projekte ist lang und umfasst so ziemlich jeden Gebäudetyp, den man sich vorstellen kann. Neben dem Hotel Widder, dem FIFA-Hauptsitz sowie der Rathauswache sanierte sie bis 2000 etwa auch den Hauptsitz der Schweizer Rück, verwandelte das Geschäftshaus Jelmoli durch einen Hofeinbau und eine Fassadensanierung und errichtete auch das Gebäude des Internationalen Eishockey-Verbands in Zürich.
Doch Theus’ Werk reicht weit über die Banken- und Sportwelt hinaus. In Dietikon hauchte sie dem Restaurant Krone neues Leben ein, in Arosa setzte sie mit dem Gipfelrestaurant Weisshorn ein architektonisches Zeichen über der Baumgrenze, während sie in Zürich die Volksbank an der Bahnhofstrasse modernisierte und jüngst gegenüber dem imposanten 1.000-jährigen Aargauer Kloster Muri das Hotel Caspar in den historischen Häusern «Ochsen» und «Adler» neu formte. Der Umbau des Leuenhofs an der Bahnhofstrasse schliesslich zeigt, wie konsequent Theus bestehende Substanz zu transformieren versteht, ohne ihre Geschichte auszulöschen.

Über zu wenig Arbeit kann sich Theus weiterhin nicht beklagen: Aktuell arbeiten sie und ihr Team etwa in Davos an einem Hotel- und Wohnprojekt und in Siebnen an der Neugestaltung des Dorfkerns. Sie spricht dabei von «Dorfkern-Reparatur»: Sie will historische Parzellen respektieren, denn der Massstab gehe zu oft verloren. «Alle reden vom Verdichten – aber eigentlich immer nur hinter einem, auf keinen Fall vor einem!» Das Motto in der Schweiz laute heute oft «not in my backyard» – so ziehen sich Bauverfahren oft über Jahre.
Theus’ Architektur bleibt ein Balanceakt: Gebäude mit Seele, die Geschichte bewahren und zugleich wandlungsfähig bleiben. Luxus bedeutet für sie nicht Grösse, sondern Qualität im Raum – schwer erreichbar, nur durch Sorgfalt möglich. «Zufriedenheit ist nicht mein Ziel», sagt sie. Zweifel seien Motor, keine Last.
Trotz aller Technologie ist Tilla Theus überzeugt, dass der Mensch essenziell bleiben wird, wenn es um gute Architektur geht – denn diese sei mehr als nur Masse und Zahlen. Theus: «Zuhören, Zwischentöne wahrnehmen, den Raum spüren – das müssen und dürfen wir wohl noch sehr lange selbst.
Fotos: Lukas Lienhard