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In Skandinaviens grösster Bibliothek Dokk1 ist schmökern fast Nebensache. Das „Community Center” versteht sich als unkonventioneller Wissensvermittler. Und das an einem Ort in Aarhus, dessen besten Tage gezählt schienen.
Die dänische Seehafenstadt Aarhus gilt mit ihren 300.000 Einwohnern als wirtschaftliches Zentrum der Region Jütland, dem Festland von Dänemark. Der Containerumschlagplatz ist der grösste im Land: hier werden etwa 50 Prozent der Containerfrachten aller dänischen Häfen umgeschlagen.
An jenem Ort am Pier, zwischen Innenstadt, dem Hafenviertel und Hauptbahnhof steht ein markantes architektonisches Gebäude: das Dokk1 – die öffentliche Hauptbibliothek von Aarhus. Die Bücherei wurde im Juni 2015 neu eröffnet. Bis zu diesem Zeitpunkt stand sie noch in Moelleparken, einem Park rund 400 Meter weiter stromaufwärts des nach der Stadt benannten Wasserlaufs Aarhus Å. Ins Dokk1 kommen seither rund 1,35 Millionen Besucher pro Jahr, welches vom Stil her die unverwechselbare Handschrift der neo-futuristischen Architekturbewegung trägt. Damit hat es einen grossen Anteil daran, dass das Hafenviertel heute zu einem der öffentlichen Hotspots der Stadt gehört. Doch das war nicht immer so. Endlose Containerumschlagsflächen, Industriehallen und grauer Beton: Bilder zeigen, dass der Hafenbezirk von Aarhus nicht gerade als Ort bekannt war, an dem Menschen ihre Freizeit verbrachten.
„Obwohl der Hafen nur etwa 400 Meter vom historischen Stadtzentrum von Aarhus entfernt ist, mieden die Bürger diese Gegend eher. Sie galt als Randbezirk, als Peripherie“, sagt Marie Østergård, Bibliotheksdirektorin des Dokk1. Der Bezug der Menschen zum Hafen und zum Wasser schien langsam verloren zu gehen, so Østergård weiter – obwohl dieser aus historischen wie aus wirtschaftlichen Gründen seit jeher einen wesentlichen Teil der Identität von Aarhus ausgemacht habe. Aus dieser Problematik heraus und um das Hafenviertel neu zu beleben, startete die Gemeinde Aarhus im Jahr 2005 ein Mammutprojekt an den Docks: „Urban Mediaspace“. „Ziel des Projektes war es, die stark von der Hafenindustrie geprägte Gegend in einen Ort zu verwandeln, in der Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zusammenkommen und sich austauschen“, so die oberste Bibliothekarin des Dokk1. „Und wo treffen sich Alt und Jung, Reich und Arm, Dänen und jene Menschen, die nicht aus dem Land kommen? Natürlich in einer öffentlichen Bibliothek“, sagt Østergård. Diese stellt auch das Kernstück von Urban Mediaspace dar.
Die Gemeinde beauftragte das dänische Architekturbüro Schmidt Hammer Lassen mit der Konzeption von Urban Mediaspace. Die Architekten hatten bereits das Aros Aarhus Kunstmuseum entworfen, eines der grössten Kunstmuseen Nordeuropas, Auf einem Areal von rund 28.000 Quadratmeter wurde das Projekt Urban Mediaspace 2015 realisiert. Insgesamt dauerte die Konzept- und Bauphase zehn Jahre. Umgesetzt wurde Urban Mediaspace von den Bauunternehmen Aarsleff und NCC. Für das gesamte Projekt nahm die Stadt 2,1 Milliarden Dänische Kronen (rund 281,2 Millionen €) in die Hand. Davon flossen etwa 1,4 Milliarden Dänische Kronen (rund 214 Millionen €) ins Dokk1 sowie ein dazugehöriges Parkhaus.
Neben der Gemeinde Aarhus als Hauptgeldgeber des Projektes gab es auch kleinere private Investoren. Einer davon ist Realdania, eine private Vereinigung in Dänemark, die Projekte in Architektur und Planung unterstützt. Realdania betreibt unter anderem das vollautomatisierte Parkhaus neben der Bibliothek. Mit 18.000 Quadratmetern nimmt die Bücherei zusammen mit dem Parkhaus den grössten Teil des Areals ein. Zählt man noch die gesamte Nutzfläche des Dokk1-Gebäudes mit seinen vier Stockwerken dazu, kommt die Bibliothek gar auf 60.000 Quadratmeter. Zum Vergleich: die alte Hauptbibliothek hatte eine Fläche von 3.500 Quadratmetern.
Marie Østergård
… leitet seit Mai 2017 das Dokk1 als Bibliotheksdirektorin. Zwischen 2005 und 2016 war sie Projektleiterin des Dokk1-Gebäudes. Ausserdem war Østergård, die den Master in Englisch und Medienwissenschaften an der Universität Aarhus absolvierte, von 2013 bis 2016 Mitglied des International Network of Emerging Library Innovators (INELI) – einer weltweiten Bibliotheksinitiative der Bill & Melinda Gates Foundation, der grössten Privatstiftung der Welt.
Doch nicht nur in Sachen Grösse setzte das Dokk1 neue Massstäbe. „In Dänemark gibt es eine klare Definition davon, welchen öffentlichen Beitrag Bibliotheken leisten sollen: freier und gleicher Wissenszugang für alle Menschen“, sagt Østergård. Und Dokk1 setzte hier noch einen drauf. Denn die Bibliothek sieht sich nicht nur als Ort des gebündelten Wissens, sondern als einen, der für die Bürger selbst geschaffen ist und auf deren Bedürfnisse eingeht. Stichwort: „Borgerservices“, wie Østergård sagt, also dem dänischen Begriff für Bürgerdienstleistungen. „Wir haben trotz der Grösse des Dokk1 unsere Sammlung von rund 330.000 Büchern nicht erweitert. Ganz im Gegenteil – es wurden mehr Flächen für die Menschen geschaffen, um ihnen Wissen auf ganz andere Weisen anzubieten“, sagt die Bibliotheksdirektorin. Neben den Büchern besitzt die Bibliothek ausserdem eine Sammlung von 80.000 sonstigen Medienformaten.
Darüber hinaus bietet das Dokk1 Dienstleistungen an, die auf den ersten Blick untypisch für eine Bibliothek sind. Bürger können beispielsweise im Dokk1 ihren Reisepass oder Führerschein erneuern lassen. Im Gebäude gibt es neben einem Indoor-Spielplatz auch ein „Reparatur-Café“, in dem freiwillige Helfer beschädigte Alltagsgegenstände wie etwa Smartphones, Computer oder Fahrräder reparieren. Etwa zehn Prozent der Besucher kommt laut Østergård primär wegen dieser Dienstleistungen ins Dokk1. Wie auch der Eintritt in die Bibliothek sind die Dienstleistungen kostenlos. Ein grosser Publikumsmagnet sollen ausserdem die zahlreichen Veranstaltungen sein, die jeden Monat stattfinden. 140 sind es laut Østergård pro Monat, so etwa literarische Vorträge sowie Workshops für Kinder und Jugendliche und Kulturabende. „So ist das Dokk1 nicht nur ein Ort, an dem Know-how, Geschichten und Wissen gesammelt und angeboten werden, sondern auch neues Wissen von aussen herein kommt.“ sagt die Direktorin.
Ebenso ungewöhnlich für eine Bibliothek: Im Dokk1 geht es durchaus laut zu, so Østergård. So drängen sich Menschen von Station zu Station, die die verschiedensten Dienstleistungen erbringen. Dennoch gibt es wie herkömmlichen Büchereien Lesesäle, in die sich Menschen zurückziehen können, um zu lesen und lernen. Nicht umsonst bezeichnet sich das Dokk1 als „Community Center“, einen gemeinschaftlichen Ort, in den Bürger aller Schichten Zugang haben und für jeden etwas dabei ist.
Doch: Soll das Dokk1 auch eine Antwort der Stadt auf die rasant fortschreitende Digitalisierung sein, in der Bücher (vermeintlich) immer weniger Platz haben? „Jein“ sagt Østergård. Denn auch die Integration von neuen Technologien sei schon immer Teil des Konzepts gewesen. Laut der Direktorin haben Bibliotheken in Zeiten der Digitalisierung eine zusätzliche Aufgabe zu erfüllen: Menschen sollen dazu bewegt werden, sich in den neuen Technologien zu bilden sowie ein kritisches Denken gegenüber diesen zu entwickeln. „Im Dokk1 sehen wir uns insbesondere als Brückenbauer zwischen Wissen, Menschen und Technologien“, fasst es Østergård zusammen.
Für die Bibliotheksdirektorin hat das Dokk1 der Stadt jedenfalls seinen Stempel aufgedrückt: es ist nicht nur zu einem wichtigen Treffpunkt für die Bürger von Aarhus avanciert, sondern leistet mit seiner Agenda auch einen Beitrag für die Gesellschaft. So gesehen ist auch die wuchtige Erscheinung des Gebäudes als bereits von weitem sichtbares Symbol der Inklusion zu verstehen – und zwar in dreierlei Hinsicht: als Inklusion der Bürger, der neuen Technologien und jene des Hafenareals in den restlichen Teil der Stadt. Damit Aarhus laut den Projektbetreibern wieder zu dem wird, was es einst war: eine Stadt, „mit ihren Zehen im Wasser.“
Text: Kevin Chi
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