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Stephan Sigrist über die Kunst, die Zukunft zu antizipieren.
Als Leiter des Thinktanks W.I.R.E. beschäftigt sich Stephan Sigrist mit der Frage, wie die Welt in Zukunft aussehen könnte. Dabei ist der Forscher überzeugt, dass endgültige Prognosen unmöglich sind, und wir viel eher versuchen sollten, das Morgen selbst zu gestalten.
Wie beschreiben Sie einem Kind Ihren Job?
Wir beschäftigen uns mit der Welt und möchten herausfinden, wie Technologien unser Leben beeinflussen. Wir fragen uns, ob es wünschenswert ist, selbstfahrende Autos oder einen Roboter zu haben, der zu Hause aufräumt. Welche Risiken und Chancen bestehen da? W.I.R.E. beschäftigt sich damit, was auf uns zukommt, wie wir leben und leben werden.
Doch wie planbar ist die Zukunft?
Die Zukunft ist zu einem wesentlichen Teil weder plan noch prognostizierbar. Daher gilt es, eine differenzierte Sichtweise zu entwickeln. Prognosen bezüglich des Potenzials von Technologien sind schwierig. Aus Fortschritten der medizinischen Diagnostik lässt sich nicht ableiten, wann und ob eine Krebstherapie verfügbar ist. Andererseits gibt es Bereiche, wo wir relativ genaue Vorstellungen haben, wie die Zukunft aussehen wird Stichwort Demografie. Wir wissen, dass die Gesellschaft in der Tendenz älter wird und die Bevölkerung wächst. Daraus ergeben sich Schlüsse für das Gesundheitssystem. Es wird aber immer auch Entwicklungen geben, die uns überraschen – wir sind kein Prognoseinstitut. Es gilt aber auch für Unternehmen, ihre Resilienz gegenüber unerwarteten Entwicklungen zu stärken.
Können Sie dennoch sagen, wie die Welt 2025 aussehen wird?
Wir können nicht mit Genauigkeit in die Zukunft sehen, es ergeben sich aber aus unseren Analysen Signale, aus denen wir übergeordnete Tendenzen ableiten: Es werden mehr Prozesse automatisiert, wir werden einen wesentlichen Teil unserer Kommunikation über virtuelle Tools bestreiten und vermehrt 3D Drucker nutzen, um Dinge zu realisieren. Eine präzise Vorausschau ist nicht zwingend wünschenswert, denn sie könnte dazu führen, dass alle Unternehmen in die gleiche Richtung forschen und investieren. Unser Ziel ist es daher, Unternehmen keine fixe Zukunft vorzugeben, sondern sie mit unterschiedlichen Argumenten zu bewegen, sich eine eigene Vorstellung zu machen. Das führt letztlich dazu, dass die Bandbreite an Innovationen grösser wird und nicht enger. Innovation lebt von Vielfalt, Zukunft ist nicht nur Schicksal. Es geht darum, sie zu gestalten.
Wenn wir alles durchplanen, fehlt doch auch die Überraschung …
Weil wir nicht alle Bereiche steuern können, gibt es immer Entwicklungen, die uns überraschen. Dort benötigen wir Flexibilität. Man muss da aber auch zwischen einem Individuum und einem Unternehmen unterscheiden. Was die langfristige Perspektive anbelangt, benötigen wir in einer sich rasant verändernden Welt Menschen und Prozesse, die helfen, sich darüber Gedanken zu machen, wohin die Reise führen soll. Eine wünschenswert Zukunft zu definieren ist möglich. Gerade dies ist trotz oder angesichts der neuen Rahmenbedingungen der Digitalisierung oder der steigenden Lebenserwartung zentral.
Wir müssten den Menschen in den Mittelpunkt stellen, betonte der französische Zukunftsforscher Gaston Berger. Und: Wir können Zukünfte nur mit den Betroffenen entwickeln. Doch einer der wichtigsten Megatrends ist die Digitalisierung rund um Stichworte wie Big Data oder Predictive Analytics. Der Einzelne wird immer öfter durch Entwicklungen überholt. Ist dieser Trend nicht auch eine Gefahr für die Vorstellung vom Menschen im Mittelpunkt?
Absolut. Die Digitalisierung krempelt jeden Lebensbereich radikal um. Wenn Digitalisierung mit Technologie gleichgesetzt wird, heisst das, dass Innovation dazu führt, dass Menschen sich auf das ausrichten müssen, was Technologie ermöglicht. Zwar werden Prozesse im Berufsleben an Algorithmen ausgelagert allerdings nur bei repetitiven, einfachen Aufgaben. Je komplexer das Vorliegende ist, desto weniger können wir uns auf Maschinen verlassen es braucht also den Menschen vielleicht sogar noch mehr.
Wird die Zukunftsforschung nicht immer schwieriger, wenn sich die Welt so rasant verändert?
Die Zukunft war zwar auch in der Vergangenheit nicht prognostizierbar, heute steigt aber die Anzahl der Einflussfaktoren. Dennoch hat sich unsere Blickschärfe in den letzten Jahren erhöht, was dazu geführt hat, dass wir ein besseres Verständnis bezüglich dieser Einflussfaktoren haben. Die Komplexität steigt, es besteht eine hohe Dichte an Trends, es gibt immer neue Start-ups und mehr Daten, die verarbeitet werden müssen.
So eine ergebnisoffene Zukunftsforschung hat einerseits natürlich ihren Charme. Andererseits: Aus einem „So könnte es kommen“ können Sie keine Garantien geben …
Teils, teils – ja und nein.
Warum sollte ich Sie dann engagieren?
Sie sollten sich mit Zukunft beschäftigen, um eine bessere Entscheidungsgrundlage zu haben. Mit einer gesamtheitlichen Analyse, die nicht nur Technologien beachtet, sondern auch die gesellschaftlichen Implikationen miteinbezieht, lässt sich eine nachhaltigere strategische Richtung einschlagen.
W.I.R.E. arbeitet zwischen den Schnittpunkten digitale Wirtschaft, gesellschaftliche Innovation und Förderung der Zukunftsfähigkeit. Das kann ja alles Mögliche sein – was haben Sie konkret zu bieten?
Ganz konkret haben wir ein Früherkennungssystem entwickelt, wo wir kontinuierlich Innovationen aus unterschiedlichen Branchen beobachten; aktuell sind das zehn Sektoren. Daraus entwickeln wir „Landkarten“: Wir analysieren die Sektoren in puncto Relevanz und entwickeln spezifische Thesen, was in den nächsten Jahren passieren könnte. Diese nutzen wir dann als Tool für Entscheidungsträger, um mit ihnen Strategien für ihr Unternehmen zu entwickeln.
Verstehen Sie, dass fachfremde Personen Zukunftsforschung als Astrologie oder Hellseherei abstempeln?
Ja, das ist ein gesunder Reflex. Man sollte Personen oder Organisationen, die mit konkreten langfristigen Prognosen auftreten, kritisch begegnen. Dennoch müssen wir langfristige Entscheidungen treffen. Ein Unternehmen muss sich Gedanken machen, wie es sich mit der Digitalisierung auseinandersetzen will und braucht dazu Entscheidungsgrundlagen. Unsere Modelle können dabei helfen.
Zukunftsforscher lagen aber auch oft daneben. Zwei Beispiele: Es wurde vorausgesagt, dass kartenloses Bezahlen mit dem Handy ein bahnbrechender Erfolg werden würde Irrtum. Und der Club of Rome warnte 1972, dass die Goldvorkommen 2011 erschöpft sein würden ebenfalls falsch! Die aktuellen Goldvorkommen reichen mindestens bis in die 2060er-Jahre. Was entgegnen Sie Skeptikern Ihres Fachs?
Die Antwort darauf ist genau dieses kritische Denken, das wir bieten: Lineare Prognosen treffen nur selten ein. Eine Antwort kann darin liegen, unterschiedliche Szenarien zu berücksichtigen und nicht nur das, was aus Sicht der Gegenwart mit der grössten Wahrscheinlichkeit eintritt. Wichtig ist, Innovationen nicht nur auf das technologisch Machbare zu beziehen. Sie treten dort auf, wo sie den Menschen in ihrem Alltag etwas bringen und Nutzen stiften.
Ist die Zukunft nicht eine Obsession des Industriezeitalters? Sie zu erahnen, könnte helfen, der Konkurrenz in Wirtschaft oder Weltpolitik um einen Schritt voraus zu sein. Es geht doch hier schlicht um Geld, oder?
Absolut. Die Zukunft zu kennen ist einer der ältesten Träume der Menschheit. Es geht um Geld, es geht um Macht und es geht darum, die eigene Position zu verbessern. Wissensvorsprung schafft Vorteile.
Der Boxer Muhammad Ali hat einmal gesagt: „Impossible is not a fact. It’s an opinion.“ Der Philosoph Karl Popper formulierte einmal: „Über die Zukunft können wir nichts wissen, denn sonst wüssten wir es ja.“ Welcher Aussage würden Sie zustimmen?
Ich würde beiden zustimmen. Bei Popper würde ich eingrenzen: Wir wissen nicht nichts, wir können schon gewisse Modelle erahnen und in gewissen Bereichen präzise Voraussagen machen. Aber Ali hat recht, wenn er sagt, dass es nicht nur darum geht, die Zukunft zu erahnen, sondern auch, sie zu erfinden.
Dieser Artikel ist in unserer Januar-Ausgabe 2018 „Forecasting“ erschienen.