Vom Rollstuhl ans Top

Seit einem Gleitschirmunfall 2017 ist Angelino Zeller querschnittsgelähmt, doch seine Kletterkarriere hat erst ein Jahr später begonnen. Seitdem wurde er drei Mal Weltmeister.

Der Kletterer bewegt sich schnell – ohne zu zögern, hangelt er sich von Griff zu Griff, seine Füsse hängen einfach runter. Eine kurze Rast, er hängt an einem Arm, schüttelt den anderen, um die Muskeln zu entspannen; er fordert mit einem Grinsen im Gesicht die Menge auf, ihn weiter anzufeuern. Er weiss, er ist der klare Favorit an diesem Tag in Innsbruck. Nur wenige Züge später fällt Angelino Zeller ins Seil, aber es reicht, um den ersten Platz zu sichern. Der Österreicher ist Weltcup-Sieger im Paraklettern. Schon wieder.

Zeller tritt in der Kategorie AL1 an, was bedeutet, dass er nur mit dem Oberkörper klettert. Seit seinem Debüt in der Paraklettern-Szene 2018 gewann er dreimal den Weltmeistertitel und wurde einmal Europameister in seiner Kategorie. Das hat ihm grosse Sponsoren gebracht; Marken wie The North Face oder Gloryfy – geplant war diese Karriere aber ganz und gar nicht.

Am Schöckl, dem Hausberg vieler Grazer, an einem Nachmittag im Jahr 2017, will Zeller mit einem Freund noch einen zweiten Gleitschirmflug wagen. „Der Wind war ein bisschen stärker als beim ersten Flug. Eigentlich kann man dann mit dem Schirm ein bisschen besser spielen“, erzählt Zeller uns in seiner Wohnung in Graz. Die Freunde steigen noch einmal auf den Berg und werfen sich mit ihren Schirmen in die Luft. Nach rund einer halben Stunde in der Luft will Zeller landen – doch zwanzig Meter über dem Boden, auf Baumwipfelhöhe, klappt der Schirm ein. Der damals 20-Jährige kracht mit voller Wucht auf die Wiese. „Nach dem Aufprall habe ich mich umgeschaut und gesehen, dass mein Schirm im Gebüsch liegt. Mein erster Gedanke war: ‚Mah – jetzt muss ich den Schirm wieder entwirren!‘ Ich wollte aufstehen und habe gemerkt: Ich kann nicht aufstehen.“ Zeller hatte jegliches Gefühl in den Beinen verloren.

Er ruft selbst die Rettung an. Sein Freund, der Zellers Absturz gesehen hatte, nimmt ihm den Notruf ab und organisiert Hilfe. Nach zwei Notoperationen bekommt Zeller seine Diagnose: Der zwölfte Brustwirbel ist zertrümmert, Zeller wird nie wieder gehen können.

In der Reha lernt Zeller wieder, sich anzuziehen, zu duschen, Auto zu fahren. Bei einer Inklusions­kletterveranstaltung des Alpenvereins, nur ein halbes Jahr nach seinem Unfall, hängt er sich zum ersten Mal aus dem Rollstuhl ins Seil ein. Das österreichische Paraclimbing-Nationalteam wird auf ihn aufmerksam und Zeller schafft es in den Kader. 2018, bei seinem ersten Bewerb wird er Neunter; ein Jahr später Weltmeister.

Er sei einer der wenigen Parakletterer, die vom Sport leben können, sagt Zeller. Er ist beim österreichischen Heeressport angestellt, was ihm ein fixes Gehalt von rund 2.000 € netto pro Monat sichert. Dazu kommen Sponsoren wie The North Face und Black Diamond, die in erster Linie Equipment und Filmprojekte finanzieren, und kleinere Sponsoren, von denen er zwischen 10.000 und 20.000 € pro Jahr bekommt. „Ich habe das Glück, dass ich durch den Rollstuhl viel Aufmerksamkeit kriege“, sagt Zeller pragmatisch – seine Einschränkung ist offensichtlich. Bei diesem Sport gibt es auch Kategorien für Kletterer mit neurologischen Erkrankungen, amputierten Zehen oder Sehbehinderungen; ein Werbevideo von jemandem, der aus dem Rollstuhl in die Route startet, wirkt beeindruckender als das von jemandem, dessen Koordination oder Beweglichkeit eingeschränkt ist. Dass Zeller erfolgreich wurde, als sein Sport noch klein war, hilft ihm auch bei der Sponsorensuche.

Zeller trainiert 15 bis 20 Stunden pro Woche, seine restliche Arbeitszeit ist mit „Büroarbeit“ gefüllt. Sein Training ähnelt stark dem anderer Kletterer – nur eben ohne Beine. In puncto Ausdauer im Oberkörper sei er den meisten überlegen, sagt er, selbst Wettkampfkletterern ohne Einschränkung. Die hätten dafür mehr Fingerkraft auf kleinen Griffen.

Am Fels wird es für den Grazer komplizierter. Die Wand muss überhängend sein, sonst schleifen seine Beine am Stein, und der Zustieg muss mit dem Rollstuhl machbar sein. Die Route darf keine Züge enthalten, für die man zwingend einen Tritt braucht. „Fritz the Cat“ im „Zigeunerloch“ war Zellers erste 8a-Route – eine Schwierigkeit, die selbst für Kletterer mit gesunden Beinen eine Herausforderung darstellt. Zeller musste sich die ersten Meter am Seil hochziehen, weil der Einstieg zu flach war. Dann hangelte er sich durch den Überhang.

Über die Jahre ist Gefühl in Zellers Beine zurückgekehrt. Bis zum Knie spürt er fast normal, darunter wird es taub. Er kann die Hüfte beugen, die Knie zu sich ziehen, wie er uns zeigt. Manche Nervenbahnen haben überlebt oder wachsen wieder zusammen, sagen ihm die Ärzte.

Der Grazer war schon vor dem Unfall sport­begeistert; sein Vater betrieb eine Skischule, beide ­seiner Eltern waren Skilehrer. Zeller lernte bald Skifahren, Klettern, Surfen und Paragleiten. „Ich habe gemerkt, dass ich recht schnell ins Extreme rutsche“, sagt er. Seit seinem Unfall hat er Wildwasser-Kayaking gelernt, hin und wieder fliegt er auch im Windkanal. Kitesurfen steht noch auf seiner Liste, auch Fallschirmspringen reizt ihn.

Für die Zukunft hat Zeller klare Ziele – die WM in Südkorea steht an. Er möchte wieder Mehrseillängentouren klettern; wenige Tage vor unserem Gespräch war er in den Dolomiten zum ersten Mal seit dem Unfall ­wieder in einer grossen Wand. Was für Zeller nach ­seiner Karriere als Wettkampfkletterer kommt, ist ihm selbst noch nicht ganz klar. Fest steht: „Ich mache es, solange es mir Spass macht.

Foto: Danijel Jovanovic

Erik Fleischmann,
Redakteur

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