VIDEOCALL STATT WARTEZIMMER

Als Lösung für überfüllte Wartezimmer beim Arzt gründete CEO Katharina Jünger das Telemedizinunternehmen Teleclinic. Während die Coronapandemie für viele Unternehmer eine grosse Herausforderung darstellt, boomt das Start-up der Deutschen.

Die Coronapandemie stellt ­viele ­Unternehmen vor grosse Herausforderungen, einige wenige ­profitieren jedoch auch von den ­veränderten Bedingungen, etwa Amazon, Streamingdienste wie Netflix – und das Münchner Tele­medizinunternehmen Teleclinic. Letzteres ermöglicht über eine App Arztbehandlungen via Ferndia­gnose und Videocalls und ­konnte 2020 ein Patientenwachstum von 500 % verzeichnen. Wurden 2019 deutschlandweit noch 3.000 Onlinesprechstunden durchgeführt, waren es im Pandemiejahr 2020 ­alleine im zweiten Quartal 1,2 Millionen. „Wir werden förmlich überschüttet mit Arztanfragen, weil Patienten derzeit – wenn nicht unbedingt erforderlich – nicht in die Praxis gehen“, erzählte uns Gründerin und CEO Katharina ­Jünger in einem Interview im April 2020. Nun interviewten wir die ­Forbes Under 30 2020-Listenplatzierte erneut. Denn einiges hat sich in der Zwischenzeit getan. So war im April 2020 der Service lediglich für Privatversicherte und Selbstzahler nutzbar, mittlerweile wird der digitale Arztbesuch auch von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Das Unternehmen kooperiert nun mit 260 Ärzten und beschäftigt 60 Mitarbeiter.

Mit der von Jünger ent­wickelten Teleclinic-App können nicht nur Diagnosegespräche über Videokonferenzen stattfinden, ­sondern auch Rezepte und Krankschreibungen vergeben ­werden. ­Dafür teilen Patienten in der App zunächst ihr Anliegen mit, ­füllen anschliessend einen digitalen Anam­nesebogen aus und geben einen Terminwunsch an. Innerhalb von 30 Minuten wird dem Patienten ein zum Anliegen passender Arzt für die digitale Beratung zugewiesen. Teleclinic verdient anteilig an den Behandlungskosten der Ärzte; wie viel der prozentuale Anteil ist, gibt Jünger nicht bekannt. Vor ihrer Einstellung werden die bei Teleclinic praktizierenden Ärzte mittels Richtlinien, die das Unternehmen in Zusammenarbeit mit ­diversen Fachgruppen entwickelt hat, beurteilt und stetig geprüft.

Weiters hat das Start-up im Zuge der Pandemie ein breites Portfolio an Home-Testkits angelegt. Einerseits können Coronatests (Antikörper- und Antigentests) durchgeführt werden, aber auch Tests, um beispielsweise Vi­tamin-D- oder Eisenmangel festzustellen. Letztere werden allerdings nicht von der Krankenkasse übernommen. Eine weitere Neuerung, auf die sich Jünger bereits freut, ist das digitale Kassenrezept, das bis Ende dieses Jahres auf den Markt kommen soll. Damit werden die momentan noch privaten ­Rezepte in Zukunft von der Krankenkasse übernommen.

Aus einer Arztfamilie stammend weiss CEO Katharina Jünger, was es heisst, wenn Wartezimmer überfüllt sind. Als Lösung gründete sie Teleclinic.

Eine wöchentliche Wachstumsrate von 50 %, wie sie das ­Unternehmen während der ­ersten Covid-Welle verzeichnete, erreicht Tele­clinic zwar mittlerweile nicht mehr, trotzdem vergrössert sich das Start-up stetig. Durch die Pandemie ­hätten sowohl Patienten als auch ­Ärzte die Vorteile von Telemedizin erkannt und würden deshalb auch in Zukunft darauf zurück­greifen, so Jünger. Laut einer Studie von Global Market Insights betrug der weltweite Telemedizin-Umsatz 2019 45 Milliarden US-$ und könnte laut Prognose bis 2026 auf ein Volumen von bis zu 175 Milliarden US-$ wachsen.

Die Idee zur App kam ­Katharina Jünger bereits lange vor der Coro­nakrise. Die gebürtige ­Freiburgerin stammt aus einer Ärztefamilie und bekam schon früh mit, wie viel Rat Ärzte ­alleine über das ­Telefon geben können. Für ihr ­Jurastudium zog Jünger nach Berlin, danach folgte ein Master­studium in Technologiemanagement in München. Dort traf sie auch auf den Radiologen Reinhard Meier. Gemeinsam mit ihm und Patrick Palacin als Entwickler gründete Katharina Jünger 2015 im Alter von 24 ­Jahren Teleclinic. Zu diesem Zeitpunkt existierte für die Unternehmer noch eine grosse Hürde: Fernbehandlungen waren in Deutschland noch nicht erlaubt. „Als wir angefangen haben, war prinzipiell alles, was wir heute machen, verboten. Die Regulatorik so zu beeinflussen, dass wir heute so arbeiten können, wie wir es tun, war wahrscheinlich die grösste Herausforderung.“ 2018 wurde das Fernbehandlungsverbot vom Deutschen Ärztetag aufgehoben – Teleclinic stand fortan nichts mehr im Wege.

Mit ihrem Service ist Jünger jedoch nicht die Einzige: Das schwedische Telemedizinunter­nehmen Kry trat gegen Ende 2019 in Deutschland in den Markt ein und profitierte im ­vergangenen Jahr ebenfalls von der ­Pandemie. Von Februar bis März 2020 ­konnte Kry laut Business Insider ­einen 300-%-Anstieg von Videosprechstunden verzeichnen. Jameda, ein weiterer Konkurrent, bei dem vorrangig Arzttermine, aber auch Videosprechstunden gebucht werden können, konnte diese sogar um 1.000 % steigern. Anders als Teleclinic und Kry war Jameda bereits im März kassenärztlich zertifiziert, konnte also von der Kranken­kasse abgerechnet werden. Jünger lässt sich davon nicht beunruhigen: „Wenn wir unsere drei Marken­attribute – der schnellste, ­sicherste und günstigste Weg zum Onlinearzt – weiterhin einhalten, steht uns nichts im Weg, unsere Vor­reiterposition auszubauen.“

Katharina Jünger
... Katharina Jünger absolvierte ein Masterstudium in Technologie­management an der LMU in München. 2015 gründete sie das Telemedizinunternehmen Teleclinic.

Der Erfolg von Teleclinic lockt auch Investoren an. Im vergangenen Frühling konnten in einer Finanzierungsrunde 17 Millionen € eingesammelt werden – zwei Wochen vor dem Notartermin kontaktierte die Schweizer Zur Rose Gruppe, Europas grösste E-Commerce-Apotheke (zu der Marken wie Doc ­Morris und Medpex gehören), Jünger: „Ich wurde gefragt, ob wir uns vorstellen könnten, mit ihnen zu arbeiten.“ Schliesslich nahm die Unternehmerin das Angebot an und verkaufte Teleclinic im Juni 2020 an das Schweizer Unternehmen. „Einerseits ergaben sich da­raus Vorteile für die Patienten, andererseits ermöglichte der Verkauf einen anderen Zugang zu Kapital“, so Jünger. Die bisherigen Business Angels – etwa Stefan Wiskemann, Gründer der Auktionsplattform ­Ricardo – verkauften ihre Anteile, Jünger wandelte ihre in Zur-Rose-Aktien um; sie ist weiterhin CEO von Teleclinic. „Unser Ziel ist es, die Gesamtvision ‚From diagnosis to delivery‘, also die gesamte Reise der Patienten, so erfolgreich wie möglich zu gestalten“, so Jünger.

Laut der Unternehmerin können 70 % der ärztlichen Konsultationen, ­besonders ­Fälle für den Hausarzt, die Dermatologie und Kinderheilkunde, über Tele­clinic stattfinden. Trotzdem glaubt die CEO nicht, dass Tele­medizin den klassischen Hausarzt in Zukunft gänzlich ersetzen wird und nur noch Spezialisten vor Ort aufgesucht werden. „Tele­clinic soll kein Ersatz für Arztbesuche vor Ort sein, sondern eine Ergänzung“, so ­Jünger. Die grössten Innovationen im Gesundheitsbereich in den nächsten zehn bis 20 Jahren werden laut ­Jünger neben der Digitalisierung und der Einführung elektronischer Gesundheitsakten ein ­wachsender Markt im Bereich ­Telemedizin und ­Onlineapotheken sein. Mit ihrem Unternehmen will sie momentan den Fokus auf Deutschland beibehalten und sich auf die Marktführerschaft hierzulande konzentrieren. Dabei spielen für die Unternehmerin Disziplin und Rhythmus eine tragende Rolle, sowie ein ausgeglichenes Verhältnis der Säulen Gesundheit, einen erfüllenden Beruf auszuüben, Hobbys nachzugehen, eine gute Beziehung zu führen und Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. „Um langfristig unternehmerisch tätig sein zu können, müssen diese fünf Säulen immer in Balance bleiben“, sagt Jünger.

Text: Sophie Ströbitzer
Fotos: Teleclinic

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 2–21 zum Thema „Health & Wealth“.

Sophie Ströbitzer

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