TRASH WALK

New York ist die berühmteste Stadt der Welt. Doch der Big Apple ist nicht nur für die Freiheitsstatue und das Empire State Building bekannt, sondern auch für riesengrosse Müllberge. Dabei gäbe es durchaus Lösungen – aber keine Einigkeit.

Der Gestank an diesem Sommerabend ist unerträglich. Süsslich und schwer hängt er in der Luft der 90. Strasse auf der Upper West Side in Manhattan. Vor einem roten Backsteinhaus mit Flügeltür und Blumenkranz türmen sich weisse und grüne Mülltüten. Eine junge Frau mit roten Locken beugt sich über einen der Säcke und schreit: „Bücher!“ Sie holt Handschuhe mit Blümchenmuster aus ihrem Jutebeutel, bevor sie den Knoten eines Sacks aufmacht. „Das steht auf meiner Leseliste!“, ruft sie und fischt ein Buch heraus. Es geht als erster Gegenstand in einen kleinen Wagen. Weitere Bücher folgen; einen weiteren Stapel lässt sie im Sack, den sie wieder ordentlich verknotet. Die junge Frau will nicht gleich zu Beginn des Abends den Wagen zu voll laden: „Wer weiss, was ich heute noch finde.“ Sie macht aber noch einige Fotos von den Büchern und einer grossen Fake-Zimmer­pflanze und postet sie in die Facebook-Gruppe „Buy nothing“ – inklusive Ortsangabe. Wenn sie es nicht braucht, dann vielleicht jemand anderes.

Anna Sacks ist Trashwalkerin – so nennt sie sich zumindest selbst. Ein paar Mal die Woche zieht sie los und sucht im Müll von Haushalten und Unternehmen nach Dingen, die noch zu gebrauchen sind. Das können verpackte Hygieneprodukte sein, die eine grosse Drogeriekette aussortiert hat; in privatem Müll findet sie auch oft Kuriositäten, Designermode und teures Geschirr – entweder behält sie die Dinge oder spendet sie. „Wenn es hergestellt wurde, kann es gebraucht werden“ ist ihr Motto. Manches muss man nur einmal ab­waschen. Der Geruch mache ihr nichts mehr aus, sagt sie, sie ekle sich vor nichts – auch nicht vor einem klebrigen Pokerkoffer mit Karten und Chips.

Die 30-Jährige macht ihre Trashwalks schon seit 2018. Ihre Beute teilt sie in sozialen Netz­werken wie Tiktok und Instagram. Laut Sacks fehlt es den New Yorkern an Bewusstsein, was recycelt oder richtig entsorgt werden kann – oder an Zeit: Bei Umzügen landen hier manchmal ganze Wohn­­ausstattungen im Müll.

Sacks wühlt auch im Müll von Unternehmen wie Starbucks oder grossen Drogeriefilialen. Im Januar 2020 begleitete die New York Post Sacks, als sie den Müll von Starbucks durchsuchte und feststellte, dass die Kaffeehauskette „jeden Abend ein Festmahl aus unverkauftem Essen wegwirft“. Eine Woche nach der Veröffent­lichung ihrer Story kündigte Starbucks neue Ziele zur Reduktion des Abfalls an. Ein weiterer prominenter Gegner: die Drogeriekette CVS. Das Unternehmen wirft laut Sacks ungeöffnete Ware weg – von Pflastern bis hin zu Sandwiches, die kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums stehen. Sacks sagt, sie habe in einem Jahr rund 50 Kilogramm Lebensmittel und andere Artikel von CVS gerettet und gespendet. Die Frau, die sich vor Müll schon lange nicht mehr ekelt, sagt: „Es ist so widerlich, dass Unternehmen so etwas tun, anstatt Menschen zu helfen.“

Egal, wen man in New York nach dem ­Müllproblem der Stadt fragt, die Antwort ist oft die gleiche: ein frustriertes Seufzen, gefolgt von einer langen Problemdiagnose. Das Office of Technology and Innovation des Bürgermeisters von New York will die Stadt zu einer Smart City machen. Einige der geplanten Smart-City-Systeme adressieren auch das Thema Abfallmanagement. Doch smart sei am New Yorker Abfallmanagement nichts, sagt Asher Freeman: „In New York regeln wir Müll noch ziemlich oldschool.“ Er arbeitet für den New Yorker Stadtrat Antonio Reynoso als Direktor für Landnutzung. Reynoso ist gleichzeitig Vorsitzender des Komitees für Hygiene und Abfallwirtschaft in der Stadt. Mit „oldschool“ meint Freeman die Trucks der Müllabfuhr, in die die Mitarbeiter Müllsäcke werfen, weil die Fahrzeuge keinen elektrischen Arm haben, um Tonnen anzuheben. Die Plastiktüten sind nicht nur schwer in den Truck zu befördern, sie sind auch ein hässlicher Anblick, geruchsdurchlässig – und Ratten haben sich schnell durchgekaut. Freeman will daher Mülltonnen aufstellen, um den Müll wenigstens ansehnlich zu machen.

2020 produzierten die Einwohner von New York City laut einem Bericht des Hygiene­minis­teriums täglich knapp 12.000 Tonnen Abfall. Zum Vergleich: In Berlin produzieren halb so viele Menschen pro Tag ein Drittel der Menge. Zusammen mit dem Müll von Unternehmen entstehen 3,2 Millionen Tonnen Müll pro Jahr, gegen die eine Flotte von 2.000 städtischen Müllwagen sowie etwa 90 private Entsorgungsunternehmen ankämpfen. Und der Truck ist erst der Anfang einer kilometerlangen Reise, auf die sich der Müll begibt: New York verfügt weder über eigene Müllhalden noch über Verbrennungsanlagen. Etwa zwei Drittel des Abfalls der Haushalte gehen an eine Müll­verbrennungsanlage in Essex County, New Jersey, der Rest des nicht recycelbaren Abfalls der Stadt landet auf Deponien und in Müllverbrennungs­anlagen in den Bundesstaaten Pennsylvania, South Carolina und Virginia. Das ist besonders umweltschädlich, weil die Trucks den Müll Hunderte Kilo­meter weit durchs Land fahren müssen – und teuer: Der Transport alleine kostet das Department of Sanitation jedes Jahr 429 Millionen US-$.

„Wer weiss, was ich heute noch finde.“

Die Stadt könnte sparen, wenn man Abfallstrom als Ressource ansehen würde, meint Steve Cohen. Er hat in den 70ern und 80ern in der staatlichen Umweltbehörde EPA (Environmental Protection Agency) gearbeitet und ist nun geschäftsführender Direktor des Earth Institute der Columbia Uni­versity. „Sie (die Regierung in New York, Anm.) verpasst eine wertvolle Chance“, sagt er. Städte müssten versuchen, Ressourcen aus dem recycelten Material zu ziehen. Ausserdem seien Städte weniger attraktiv für Unternehmen, wenn „ihnen schon am Flughafen der Müllgestank entgegenweht“. „So entgehen Städten auch potenzielle Steuereinnahmen“, meint Cohen.

Asher Freeman und Stadtrat Reynoso arbeiten nicht nur an Recyclingsystemen, sondern auch daran, dass New York seine Müllmenge ins­gesamt reduziert. Der aktuelle Bürgermeister Bill de Blasio hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 gar keinen Abfall mehr auf die Deponie zu schicken. „Davon sind wir weit entfernt, und wir haben in de Blasios Amtszeit fast keine Fortschritte gemacht“, sagt Freeman. Reynoso und er schlagen deshalb unter anderem bezahlten Müll vor: Jeder Haushalt bekommt ein Kontingent an Müllsäcken umsonst – wer mehr Müll macht, muss pro Sack zahlen.

Doch Freeman gibt zu, dass das Konzept nicht ganz einfach umzusetzen ist. Denn am Müll in New York haben sich viele vor ihm bereits die Zähne ausgebissen. „Das Thema ist politisch unsexy“, sagt er. Deswegen habe sich seit 60 Jahren nichts am System geändert. Und auch, wenn sich an bestimmten Wochentagen die Mülltüten auf den Fusswegen türmen und die Ratten hin- und herlaufen – einige Stunden später ist der Müll weg. „Es funktioniert gerade gut genug, dass es für die Menschen kein Thema ist“, sagt Freemann.

Zwei Drittel des New Yorker Abfalls bestehen aus Metall, Glas, Papier und Plastik – Stoffe, die sehr leicht recycelbar sind. Essensreste sind zwar schwieriger wiederzuverwenden, doch sie könnten kompostiert, in Dünger umgewandelt und für die New Yorker Parks genutzt werden, sagt Clare Miflin, die Co-Vorsitzende des Umwelt­ausschusses Zero Waste Design vom Center for Architecture in New York. Im Domino Park in Williamsburg am New Yorker East River gibt es bereits ein solches Projekt: Im Jahr 2018 begann die Architekturfirma Two Trees Management nach der Eröffnung des Parks damit, Essensreste aus lokalen Restaurants und Cafés zu sammeln und in Kompost für die Verwendung im Park umzuwandeln. Dabei werden Gartenabfälle aus dem Park mit Lebensmittelabfällen kombiniert. Die Mischung ergibt hochwertigeren Kompost als aus Landschafts­abfällen allein. Er ist auch besser für die Bäume, die schneller wachsen und so mehr CO2 aus der Stadtluft filtern können, erklärt Miflin.

„Es muss allerdings schon bei den Unternehmen anfangen, die Verpackungen und Verbrauchsgüter herstellen, die nachher wiederum im Müll landen“, sagt Miflin. Die Idee der Kreislaufwirtschaft müsse deshalb eine zentrale sein. Das zirkuläre Wirtschaftsmodell bietet eine Alternative zum aktuellen System, das Kritiker mit „Take, Make, Waste“ beschreiben. Kreislaufwirtschaft ist von Natur aus regenerativ und restaurativ und hält die Ressourcen so lange wie möglich in Umlauf. „Das Modell baut auf den Kernprinzipien auf, Abfall und Umweltverschmutzung zu vermeiden und Produkte und Materialien so lange wie möglich in Gebrauch zu halten“, sagt Cohen.

Dafür müssten Verpackungen und Produkte anders designt werden und mehr wiederverwendbare Verpackungen genutzt werden, für Lebensmittel und Speisen und Getränke zum Mitnehmen. In den USA werden 80 % der Produkte nur ein Mal verwendet und dann weggeworfen. Supermärkte müssten dazu verpflichtet werden, übrig geblie­bene Produkte zu spenden. Das sind klassische Ansätze, die auch Anna Sacks predigt.

Sehr viel futuristischer muten die Closed Loops an, grosse Staubsauger am Ende einer Mülltonne. Der Müll wird durch ein unterirdisches Rohr eingesaugt und weiter durch ein Tunnel­system bis in ein unterirdisches Lager geschickt, wo er entsprechend sortiert und entsorgt wird. Die Folge: keine Müllsäcke am Bordstein, keine Müllautos auf der Strasse. Was wie absolute Utopie klingt, wird bereits entwickelt und angewendet: Die Bewohner einer Wohnsiedlung in London leeren ihren Müll in drei entsprechende Tonnen. Sobald diese voll sind, wird der Müll in einen Tunnel gesaugt. Er wird dann unterirdisch gesammelt, und wenn dieses Lager wiederum voll ist, wird der Müll in Container gepackt, von Lkws eingesammelt und in eines von mehreren innerstädtischen Recyclingcentern transportiert. Das System stammt vom schwe­dischen Unternehmen Envac.

Während ein Grossteil der Bemühungen auf den Konsum und damit auf den Verbraucher abziele, so Steve Cohen, brauche es auch politische Lösungen. „Es bedarf eines staatlichen Eingriffs, und Investments und Technologie sind nötig“, sagt Cohen. „Nichts davon ist derzeit geregelt.“ Beim Recycling nur auf den Konsumenten zu setzen sei nicht ausreichend effektiv. Der Müll solle erst im Recyclingwerk sortiert und entsprechend recycelt werden – und zwar durch smarte Technologie. Das würde auch vermeiden, dass man unterschiedliche Fahrzeuge für unterschiedlichen Müll benötigt, was den Treibstoffverbrauch reduzieren würde. Cohen: „Ich glaube, das ist die Zukunft. Sie ist noch nicht hier, aber sie kommt.“

Text: Sophie Schimansky
Fotos: Nachman Blizinsky

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 7–21 zum Thema „Smart Cities“.

Sophie Schimansky,
Deputy Editor in Chief

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