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Vor wenigen Hundert Jahren waren die Gewässer vor New York eines der diversesten Ökosysteme der Welt, insbesondere wegen ihrer einzigartigen Austernpopulation – bis der Mensch die Schalentiere ausrottete. Das Billion Oyster Project will das rückgängig machen.
Im Hafen von New York herrscht nur wenig Verkehr, bloss einzelne Boote fahren an diesem Vormittag durch die Gewässer zwischen Manhattan und Brooklyn. In der Ferne sieht man einige Jetskis über das Wasser rasen; dahinter die Freiheitsstatue. „So ruhig ist es hier meistens“, sagt Pete Malinowski. Er steht am Bug eines fahrenden Boots und kommentiert die vorbeiziehende Szenerie: „New Yorks Hafen ist die grösste und schönste offene Fläche der Stadt und wird definitiv nicht ausreichend genutzt.“
New Yorks Gewässer, insbesondere der Hudson und der East River, die Manhattan auf der Ost- und der Westseite säumen, haben heute einen schlechten Ruf. Viele New Yorker sind sich einig, dass zwischen den Bezirken eine giftige Jauche fliesst, zu der man am besten Abstand hält. Doch vor rund 400 Jahren lebten hier noch Wale, Delfine, Robben, Seepferdchen, dazu unzählige Fischarten – in einem Austernriff, das eines der vielfältigsten Ökosysteme der Welt war. Dann fischte die wachsende Bevölkerung der Megametropole die Austernpopulation vollständig leer, mit fatalen Folgen: Anfang des 20. Jahrhunderts ist das Ökosystem praktisch leblos. Die Gewässer sind verschmutzt, der Hafen ist zugebaut und die maritime Umgebung aus dem Bewusstsein der New Yorker verdrängt. Die meisten Strassen der Stadt enden dort, wo das Wasser beginnt, erinnert Malinowski: „New Yorker denken nicht darüber nach, dass sie auf einer Inselgruppe leben, die von einem natürlichen Ökosystem umgeben ist. Wir verlassen New York, um in der Natur zu sein.“
Das will Malinowski ändern. Sein Projekt, das Billion Oyster Project, will bis 2035 eine Milliarde Austern im Hafen von New York ansiedeln. Die Austern sollen insbesondere die Wasserqualität im Hafen verbessern – denn eine erwachsene Auster kann bis zu 189 Liter Wasser pro Tag filtern. Zudem siedeln sich Austern in Riffen an. Einst dienten diese als natürliche Abwehr gegen stürmisches Wetter; das soll auch in Zukunft wieder so sein. Die Idee kommt nicht von ungefähr, denn vor wenigen Hundert Jahren waren die Gewässer vor der Megametropole genau das: ein florierendes Austernriff.
Die Zahl von einer Milliarde Austern, die sich Malinowski und sein Co-Gründer Murray Fisher zum Ziel gesetzt haben, klingt zwar gewaltig, stellt aber nur einen Bruchteil der Austernpopulation dar, die noch vor einigen Hundert Jahren im Hafen von New York lebte. Rund 40 Hektar des Hafens will die Initiative mit Austern besiedeln; damals gab es rund 90.000 Hektar an Austernriffen.
Seit 2014 hat das Projekt bereits rund 100 Millionen Austern im Hafen angesiedelt. Rund 10 % des Wegs sind also geschafft. Bis 2035 muss das Tempo jedoch deutlich anziehen. Doch bereits der Teilerfolg zeigt erste Effekte: Die Wasserqualität im Hafen sei messbar besser geworden, erklärt Malinowski.
„Man kann sich die Austernriffe wie Bäume in einem Wald vorstellen“, sagt er. „Sie machen die Luftqualität besser, stabilisieren den Boden und schaffen die richtigen Bedingungen, damit Tiere im Wald überleben können.“ Der Hafen sei in gewisser Weise ein abgeholzter Wald. Malinowski: „Man stelle sich vor, 30 Millionen Menschen würden rund um dieses nicht existente ‚Wald‘-Gebiet leben – es würden sofort neue Bäume gepflanzt. Aber weil dieses Ökosystem unter Wasser liegt, wird darüber anders nachgedacht.“
Beim Billion Oyster Project geht es insbesondere auch darum, den Bewohnern der Stadt ihre Umgebung vor Augen zu halten: „Wir wollen, dass jeder Mensch in New York City einen Zugang zur Restauration der Natur hier hat“, sagt Malinowski.
Ein grosser Teil des Projekts sind somit auch die New Yorker selbst. Rund 15.000 Freiwillige helfen aktuell mit, ausserdem auch junge New Yorker, besonders von der New York Harbor School. An der öffentlichen Highschool auf Governors Island sollen Schülerinnen und Schüler auf maritime Karrieren vorbereitet werden – die Austernzucht gehört hier zum Curriculum. Malinowski selbst war hier einige Jahre lang Lehrer. Hinzu kommen einige Dutzend Restaurants, die Austernschalen an das Projekt spenden – denn die Schalentiere sind noch immer eine beliebte Delikatesse im ganzen Nordosten der USA und stehen in vielen New Yorker Restaurants auf der Speisekarte.
Austern aus dem New Yorker Hafen werden aber wohl nicht auf einem Restauranttisch landen. „Unsere Austern sind giftig“, sagt Malinowski. Die Wasserqualität im Hafen sei nicht gut genug, dass Schalentiere aus diesem Wasser gegessen werden könnten. Und: „Austern sind Freunde, kein Futter.“ Die Austern des Billion Oyster Projects hätten eine wichtigere Aufgabe, als gegessen zu werden, sagt der Gründer.
Das Projekt ist eine Non-Profit-Organisation mit 47 Angestellten, so Malinowski. Etwa sieben Mio. US-$ pro Jahr braucht das Billion Oyster Project, um am Laufen zu bleiben, sagt er. Dazu gehören der Betrieb der Büros, Boote, Veranstaltungen und die Austern-Infrastruktur, die man an Dutzenden Standorten in New York sehen kann: Auf Governors Island sieht man aus der Ferne Haufen von Austernschalen, die dort in der Sonne lagern. Kleine Tanks am Hafenrand in Brooklyn beherbergen Baby-Austern. An einem kleinen Steg vor Brooklyn zieht Malinowski zwei Austernfallen aus dem Wasser, die hier an den Stegrand angeknüpft sind. „Austern-Kindergärten“ nennt er diese.
Malinowski selbst steht durch und durch im Dienst der Schalentiere: Er ist auf Fisher Island aufgewachsen, einer kleinen Insel südlich von Long Island; seine Familie sind Austernfischer. Malinowski: „Ich habe mein ganzes Leben umgeben von Austern verbracht.“ Ein Lebensstil, den man ihm ansieht: An seinen Armen hat der Gründer zwei Austern tätowiert, an seinem Gürtel reflektiert eine goldene Austern-Schnalle das Sonnenlicht.
Bis er sein Ziel erreicht hat, könnte es noch viele Jahre dauern. Auch muss das Tempo, mit dem neue Austern angesiedelt werden, noch deutlich steigen. Malinowski scheint das aber kein bisschen aus der Ruhe zu bringen. Wie geht es weiter, wenn die Milliarde erreicht ist? „Vielleicht erhöhen wir dann auf eine Billion“, scherzt er.
Text: Sarah Sendner
Fotos: Sasha Charoensub