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Bislang galt eine Querschnittslähmung immer als unheilbarer Schicksalsschlag, der die Betroffenen bis ans Lebensende an den Rollstuhl fesselte. Die Wissenschaftlerin Ursula Hofstötter forscht seit 20 Jahren zusammen mit ihrem Kollegen Karen Minassian an der Medizinischen Universität Wien an einer Therapiemöglichkeit für Querschnittslähmungen und Rückenmarksverletzungen – dabei spielen vor allem nicht invasive Elektroden eine grosse Rolle.
In einem der unteren Stockwerke des Allgemeinen Krankenhauses (AKH) in Wien gibt es anstatt Fenstern grelle orangefarbene Wände und künstlich beleuchtete Topfpflanzen. Hier befindet sich hinter einer unscheinbaren Tür das Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik, wo Ursula Hofstötter gemeinsam mit Karen Minassian eine Forschungsgruppe aus rund zehn studierenden Mitarbeitern aus den Bereichen Medizin, Physik und Mathematik leitet. Ein grosser Teil ihrer Forschung beschäftigt sich mit dem Einsatz von nicht invasiven Elektroden, durch die Rückenmarksverletzungen therapiert werden können. Durch diese Elektroden, die selektiv Nervenfasern bei deren Eintritt ins Rückenmark von der Körperoberfläche aus stimulieren, kann die Kontrolle über Muskelgruppen, die beispielsweise durch Rückenmarksverletzungen verloren gegangen ist, teilweise wiederhergestellt werden.
Eigentlich studierte Hofstötter nicht Medizin, sondern Technische Mathematik an der Technischen Universität Wien (TUW). „Tatsächlich hat mir mein Mathematikstudium auch im biomedizinischen Bereich viel weitergeholfen, da es mich gelehrt hat, komplexe Probleme zu abstrahieren und auf einfachere zurückzuführen. Heute sehe ich mich trotzdem mehr als Neurowissenschaftlerin“, so Hofstötter. Am Ende ihres Diplomstudiums traf die Wissenschaftlerin nämlich zufällig im Rahmen einer Vorlesung Karen Minassian, der sich damals bereits mit dem Thema der neurologischen Bewegungskontrolle im menschlichen Körper befasste und Hofstötter mit ins Boot holte. „Seit 20 Jahren arbeite ich nun schon mit Karen Minassian zusammen, heute leiten wir gemeinsam diese Forschungsgruppe hier, mit dem Ziel, basiswissenschaftlich mehr über die Bewegungskontrolle auf der Ebene des Rückenmarks zu lernen, um dadurch das Therapieangebot für Personen mit Verletzungen am Rückenmark zu erweitern“, erklärt sie.
Denn häufig hat es Hofstötter mit Betroffenen zu tun, die von vielen anderen Medizinern, Therapeuten und Spezialisten ernüchternde Diagnosen erhalten haben. „Oft kommen Menschen zu mir, denen gesagt wurde, sie seien austherapiert – sprich: Sie glauben, dass ihre derzeitige Lage, sei es jetzt ihre eingeschränkte Mobilität oder krampfhafte Spastiken, nicht mehr verbessert werden kann“, so Hofstötter. Sie hat es mittlerweile geschafft, mit ihrer Therapie rund um nicht invasive Elektroden vielen dieser „austherapierten“ Patienten das Gehen oder andere Bewegungen wieder zu ermöglichen.
Sag niemals nie – mein Ziel wäre es ja, dass ich irgendwann arbeitslos bin, weil es einen grossen Durchbruch gab und alle
Fragestellungen geklärt sind.
Ursula Hofstötter
In sehr seltenen Fällen könne es zu einer vollständigen Durchtrennung des Rückenmarks kommen, was bei der Therapie zu grossen Schwierigkeiten führen könne, erklärt sie: „Vor allem durch Schuss- oder Stichverletzungen kann das Rückenmark komplett durchtrennt werden. Bei den meisten Verletzungen, wie bei Kopfsprüngen ins Wasser oder Autounfällen, kommt es nur zu einer teilweisen Durchtrennung. Dabei bleibt noch ein Rest an Kommunikation zwischen den Nervenstrukturen und Netzwerken im Rückenmark unterhalb der Verletzung und dem Gehirn bestehen – allerdings manchmal in so geringem Mass, dass die Betroffenen ohne zusätzliche therapeutische Massnahmen davon keinen praktischen Nutzen ziehen.“
Genau diesen Umstand nutzt die Wienerin mit ihrem Team: Nach einer Rückenmarksverletzung werden die Signale, die normalerweise vom Gehirn kommen, unterbrochen. Das bedeutet, dass beispielsweise die Beine nicht mehr bewegt werden können. Nun können von aussen angelegte Elektroden das verletzte Rückenmark und in Folge die darin vorhandenen Nervenverbände reaktivieren. „Die Therapie mit nicht invasiven Elektroden ist besonders einfach und effizient. Oft sind nach wenigen Anwendungen schon erste Erfolge sichtbar und Betroffene können – auch nach der Behandlung, wenn die Elektroden entfernt wurden – verschiedene Bewegungen wieder besser und selbstständig durchführen, von Transfers aus dem Rollstuhl über einige Schritte zu Hause bis zu selbstständigem Rasieren oder Zähneputzen“, so Hofstötter. Sie fügt hinzu: „Das hört sich für uns nicht nach viel an, aber für Betroffene, die jahrelang auf die Hilfe anderer angewiesen waren, ist das ein grosser Schritt.“
Die vollständige Heilung einer Querschnittslähmung ist mit der Therapie durch Elektroden noch nicht möglich, jedoch können Betroffene ihre Bewegungsmöglichkeiten dadurch verbessern. Hofstötter: „Wie bei so vielen Dingen im Leben gilt auch bei Querschnittslähmungen das Sprichwort ,Use it or lose it‘. Unsere Ansätze können im Zusammenspiel mit gängigen Therapien dazu beitragen, dass Betroffene an einem aktiven Training teilnehmen können und wieder lernen, Bewegungen auszuführen, die davor nicht möglich waren. Das trägt neben dem Funktionsgewinn auch dazu bei, Muskelmasse zu erhalten und verschiedene sekundäre Komplikationen der Verletzung möglichst zu verhindern.“
Weltweit sind laut der österreichischen AUVA (Allgemeine Unfallversicherungsanstalt) etwa 2,7 Millionen Menschen von einer Querschnittslähmung betroffen. In Österreich leben ungefähr 4.000 Menschen, die aufgrund einer Querschnittslähmung auf einen Rollstuhl angewiesen sind, meistens für den Rest ihres Lebens. „Betroffene mit einer Querschnittsverletzung sind zum Zeitpunkt des Unfalls häufig jung, und dank der heutzutage sehr guten medizinischen Versorgung haben sie praktisch eine normale Lebenserwartung“, erklärt die Wissenschaftlerin.
Hofstötter und ihr Team haben die von ihnen entwickelten Therapiemöglichkeiten inzwischen weltweit in verschiedenen Kliniken etabliert. Immer mehr internationale Forschungsgruppen haben begonnen, diese Ansätze aufzugreifen und Betroffenen damit zu helfen. „Ich arbeite nicht dafür, dass meine Forschung irgendwann unbeachtet in einem Regal verstaubt, sondern dafür, dass sie aus meinem Kopf heraus in die Welt gelangt und Menschen, die eine Therapie benötigen, auch tatsächlich erreichen kann“, erzählt Hofstötter. Im Jahr 2023 erhielt sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Karen Minassian den Forschungspreis der DSQ (Deutsche Stiftung Querschnittlähmung) – eine bedeutende Auszeichnung für die Wissenschaftlerin. Dennoch ist sie tatsächlich fast stolzer auf die Erfolge, die sie durch ihre Therapien bei Betroffenen erzielt hat: „Ich arbeitete vor vielen Jahren mit einer Patientin, die nur mit sehr grosser Mühe und unter Einsatz eines Rollators wenige Schritte gehen konnte, was ihr stark zu schaffen machte und die deshalb kaum noch ging. Wir hatten damals nicht allzu hohe Erwartungen, aber bereits nach einer Anwendung der Stimulation über die Elektroden an der Körperoberfläche stellte sich ein unglaublicher Erfolg ein: Die Person konnte plötzlich viel freier und aufrechter gehen und denselben Weg sogar in doppelter Geschwindigkeit zurücklegen, was im weiteren Verlauf zu einer Steigerung ihrer Selbstständigkeit im Alltag führte. Diesen Fortschritt mitzuerleben war für mich persönlich einer der bewegendsten Erfolge.“
Für die Zukunft wünscht sich Hofstötter, noch weitere Therapieoptionen in ihre Arbeit einzubinden und sich vermehrt auf die Therapie der oberen Extremitäten konzentrieren zu können. Hofstötter selbst ist nicht sicher, ob Querschnittslähmungen jemals vollständig geheilt werden können, sie bleibt jedoch optimistisch: „Sag niemals nie. Mein Ziel wäre es ja, dass ich irgendwann arbeitslos bin, weil es einen grossen Durchbruch gab und alle Fragestellungen geklärt sind.“
Ursula Hofstötter studierte Technische Mathematik an der Technischen Universität Wien. Heute leitet sie im Allgemeinen Krankenhaus Wien eine Forschungsgruppe. Ein grosser Teil ihrer Forschung bezieht sich auf den Einsatz von nicht invasiven Elektroden, durch die Rückenmarksverletzungen therapiert werden können.
Fotos: David Visnjic