REBEL WITH A CAUSE

Als erster Chief Digital Officer läutete Rahmyn Kress die digitale Ära ein. Es folgte die Innovationstochter HenkelX, heute HenkelX Ventures. Eine Rückkehr zu jenem Umfeld, in dem er sich am wohlsten fühlt: Start-ups.

Es ist 12 Uhr Mittag auf der Kensington High Street, die Menschen tummeln sich auf den Strassen, denn es ist „Lunch Time“. Das historische Northcliffe House, jener Bürokomplex im Art-déco-Stil im Westen Londons, verbirgt neben dem grössten Medienunternehmen Grossbritanniens, DMGT (Daily Mail and General Trust), auch Ungeahntes. Denn dass hier in der britischen Hauptstadt eines der grössten deutschen Unternehmen den Hauptsitz seiner Innovationsplattform hat, ist durchaus ungewöhnlich.

Und dennoch findet sich hier Henkel X Ventures (vormals Henkel X), der Innovationsarm des deutschen Konsumgüterriesen. Um dessen Entstehungshintergrund zu verstehen, muss man Rahmyn Kress kennen, der uns an diesem Tag in seinem Büro empfängt. 2017 wurde Kress von Henkel mit einer Mammutaufgabe betraut: Henkels Digitalisierungsprozess vorantreiben, das Schlagwort „Industrie 4.0“ im Unternehmen zur Realität machen und so auch die digitalen Geschäfts­kanäle ausweiten. Kein ­Kinderspiel bei einem Unternehmen dieser ­Grössenordnung: Henkel beschäftigt weltweit rund 53.000 Mitarbeiter in 120 Ländern.

Warum Henkel gerade Kress für diese Schlüsselposition auswählte, zeigt ein Blick in die Vita des Managers – dass er diese Vita aber überhaupt vorweisen kann, war eigentlich nicht zu ­erwarten. Kress verbrachte seine Kindheit in Deutschland, bis es ihn mit 14 Jahren nach England verschlug. Er hatte damals mit gewissen Herausforderungen zu kämpfen, wie er erzählt: „Zu meiner Zeit gab es ­Diagnosen wie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Anm.) oder Dyslexie sowie entsprechende Massnahmen für solche Beeinträchtigungen noch nicht. Das Ergebnis war, dass ich oft von Schulen verwiesen wurde und ganz schön in der Welt ­herumgekommen bin. Irgendwann bin ich dann in ­Oxford gelandet und fühlte mich endlich ­angekommen“, erzählt Kress. Mit seiner Plattform „the­beautifulminds.club“ und der dazugehörenden Stiftung will er Menschen mit ähnlichen Diagnosen helfen.

Rahmyn Kress
... promovierte an der American University in London. Er war in leitenden Positionen bei Universal Music und Accenture tätig, bevor er 2018 CDO bei Henkel wurde. Seit September 2019 ist er General Partner von Henkel X Ventures.

Trotz Lern- und Konzentrationsschwächen studierte Kress ­Betriebswirtschaft in London und schloss mit einem PhD im Bereich Finance Management and Organizational Behaviour ab. Die ­erste grössere Station in seiner Karriere war Universal Music, wo er neben den Bereichen Wertschöpfungskette und Logistik auch für die digitale Transformation verantwortlich war. 2008, als die Digitalisierung von Konzernen noch in den Kinderschuhen steckte und von Trial and Error lebte, trieb Kress bereits die Digitalisierungsprozesse für das Label voran. „Damals waren wir etwa der festen Überzeugung, dass jedes Label seinen ­eigenen Onlinemusikstore eröffnet. Streaming­services, wie es heute nur zwei bis drei tonangebende Anbieter gibt, waren da noch unvorstellbar.“

2011 zog es Kress nach ­Paris, wo er das Tech-Unternehmen ­Digiplug als CEO leitete. Das Unternehmen, das sich im Besitz der Unternehmensberatung Accenture befindet, bietet Tools an, die anderen Unternehmen das ­Medienmanagement und Liefer­services ermöglichen sollen. Der Wechsel zum Mutterkonzern Accenture erfolgte fliessend; von 2014 bis 2017 war Kress in Berlin tätig, bevor er die Leitung von Accenture Ventures in London übernahm. Im Juni 2017 wurde er CDO bei Henkel.

Der Wunsch, sich verstärkt um die Plattform Henkel X Ventures – bis Oktober 2019 hiess die Tochter noch Henkel X – zu kümmern, war laut Kress ein ­bewusster: „Ich habe von Beginn an meine ­Aufgabe als CDO klar definiert: ­Pionier und ­Katalysator sein. Das Fundament für das Ziel ‚Industrie 4.0‘ ­wurde erfolgreich gelegt. Die weitere Instandhaltung und Forcierung wird in den entsprechenden Unternehmens­bereichen umgesetzt.“ Mit 1. Oktober 2019 löste ­Michael ­Nilles Kress bei Henkel ab – jedoch als CDIO (Chief Digital Information Officer). In der zweiten ­Phase der digitalen Transformation angekommen, setzt Henkel nun auf die Zusammen­legung der zwei Positionen Chief Digital Officer und Chief Information Officer. „Allein die Erkenntnis, dass die beiden Berufe aufgrund der Überschneidungen in Einklang gebracht werden müssen, ist ein riesiger Fortschritt“, so Kress. Im Rahmen der Initiative „Henkel 2020+“ ­bewertete das Unternehmen den Bereich Digitalisierung mit einer ­organischen Wachstumsrate im zweistelligen ­Bereich als besonders erfolgreich.

Zu den Innovationen, die zu jährlichen Effizienzgewinnen von über 500 Millionen € in der nächsten Dekade führen sollen, zählt ­unter anderem die umfangreiche Installation von Sensoren an Produktionsanlagen. Vor Kurzem verkündete das Weltwirtschaftsforum in Zusammenarbeit mit McKinsey, dass Henkel zu den globalen Vor­reitern der vierten industriellen Revolution zählt. Der Wahlbrite Kress, der Henkel X 2018 gemeinsam mit Marius Swart (im Bild links) gründete, stiess mit seinem „Start-up im Grosskonzern“ besonders zu Beginn nicht immer auf die volle Zustimmung des Vorstands. Immerhin bedeutete die ­Zusammenarbeit mit externen Start-ups und Mentoren eine gewisse Durchlässigkeit – würde die Plattform scheitern, wäre Henkels Re­putation gefährdet.

Marius Swart (links) und Rahmyn Kress: Als General Partner leiten die beiden Gründer Henkel X Ventures von London und Berlin aus.

Mitgründer Swart wuchs in Südafrika auf und studierte in den USA. Vor Henkel X war er 14 ­Jahre lang für Coca-Cola tätig, nach Aufgaben in den Bereichen ­Finance und Operations mit dem Letztstopp als Investment Lead für Coca-Cola Founders, die Start-up-Plattform des Getränkeherstellers. „Ich war an einer Weggabelung: Coca-Cola hat mir eine ähnliche Position innerhalb seiner Innovationsplattform angeboten. Doch ich wollte etwas ­Neues wagen – und gründen. Zudem erschien mir Rahmyn als der ­ideale Partner. Unsere Persönlichkeiten ­ergänzen sich“, sagt Swart, der ­wegen Henkel mittlerweile in Berlin wohnt. Was die Plattform so erfolgreich macht und von anderen unterscheidet, seien vor allem die rund 200 Mentoren, so Kress. Über die Namen der „hochrangigen Experten“ des Digitalgeschäfts zeigt er sich jedoch verschwiegen. Auch die Wissenschaft will man miteinbeziehen, etwa durch eine Partnerschaft mit der Mailänder Wirtschaftsuniversität Bocconi.

Mit der Idee seiner Ventures-Tochter steht Henkel nicht alleine da: Auch Johnson & Johnson, Siemens oder Google setzen auf Risikokapitaltöchter. Der Erfolg ist dabei jedoch nicht immer gegeben: Eine Studie der Boston Consulting Group (BCG) nennt Faktoren wie ­unklare Prioritätensetzung, starke Abhängigkeit zum Konzern oder zu stark eingeschränkte Freiheiten als Risiken für Start-ups.

Doch Kress ist überzeugt, dass der eigene Ansatz funktioniert. „Wir wollen das Wort Innovation nicht überstrapazieren oder eine grosse Show abziehen, aber das Umfeld, das wir geschaffen haben, erstaunt mich immer wieder. In ­Barcelona (bei einem Show-and-Tell-Event von Henkel X Ventures, Anm.) hatten wir etwa 40 Milliarden US-$ an potenziellen Investmentgeldern im Raum.“

Zu den jüngsten ­Investitionen von Kress und Swart zählt etwa der indische Softwareentwickler m.Paani. Das Start-up konnte in seiner letzten Investitionsrunde insgesamt 5,5 Millionen US-$ einsammeln. Mit dem Henkel X Ventures-Fonds, der 150 Millionen € umfasst, sollen aber noch einige weitere Start-ups folgen.

Text: Chloé Lau
Fotos: Marcus Hessenberg

Der Artikel ist in unserer Jänner-Ausgabe 2020 „Radical Change“ erschienen.

Chloé Lau,
Redakteurin

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