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Udo Schloemer hat sein Geld mit Immobilien verdient und dann die Berliner Start-up-Szene mitgeprägt. Der von ihm mitgegründete Innovationshub Factory Network war quasi ein Zuhause für frühe Gründer. Doch jetzt baut Schloemer das Konzept radikal um: weg von Coworking, hin zu einem „Company Builder“ für künstliche Intelligenz. Sein Ziel: Europas Antwort auf das Silicon Valley.
„Sie war schon immer mein Vorbild“, sagt Udo Schloemer und zeigt auf das eingerahmte Poster, das an der Wand seines Büros lehnt – die Rede ist von „Pippi Langstrumpf“, der Heldin der weltbekannten Kinderbuchtrilogie von Astrid Lindgren, die offensichtlich aber auch Erwachsene massgeblich prägt. „Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt“, sagt Schloemer. „Das war für mich immer ein gutes Lebensmotto.“
Im Gespräch wird schnell klar, warum Schloemer Langstrumpf als Vorbild hat: Er hat sein Leben all jenen gewidmet, die die Welt eben nicht akzeptieren, wie sie ist, sondern sie infrage stellen und anders – genauer gesagt: besser – machen wollen. Dazu gehören neben Unternehmern und vor allem Start-up-Gründern auch Musiker und Künstler allgemein: „Meine Tochter (Julie Schloemer, Gründerin der Kunstplattform JMES World, Anm.) sagt immer: ‚Du wirst Künstler, weil du die Welt, so wie du sie vorfindest, nicht akzeptierst.‘“
Udo Schloemer ist Mitgründer von Factory Network. Das Berliner Unternehmen ist all jenen, die je einen Fuss in die deutsche und insbesondere die Berliner Start-up-Szene gesetzt haben, ein Begriff: Als eine der ersten Institutionen bot Factory Network mit seinem Gebäude in Berlin-Mitte Gründern ein Zuhause. Nicht ohne Erfolg: Laut eigenen Angaben wurden 19 % aller Start-ups in Berlin in der Factory gegründet. Seit 2018 haben die dort ansässigen Start-ups über fünf Mrd. € an Risikokapital eingesammelt.

Doch das Konzept steht vor einer kompletten Neuausrichtung. Auch wenn Schloemer betont, dass klassisches Coworking nie die Stärke der Factory gewesen sei, war es doch das, was nach aussen hin bekannt war – und das Geld brachte; denn vor allem, um grosse Corporates, etwa Google, zu überzeugen, war Coworking wichtig. Dabei sei aber der Community-Gedanke immer im Vordergrund gestanden. Start-ups bezahlten Mitgliedschaften und bekamen dabei nicht nur Bürofläche, sondern auch eine Reihe anderer Start-ups und Corporates, mit denen sie sich austauschen konnten: „Unsere Stärke war nie Coworking, auch wenn wir den Begriff bewusst gewählt haben. Unsere Stärke war immer das Netzwerk“, so Schloemer.
Covid zeigte ihm, dass Coworking in dieser Form nicht mehr funktioniert. In den letzten Jahren fokussierte sich die Factory stärker auf das Anbieten von Dienstleistungen; die eigentliche Vision sei dabei ein Stück weit verloren gegangen. Schloemer: „Wir haben uns in Richtung Dienstleistungs-Community-Coworking entwickelt. Und da sage ich: Das hat mit meiner Vision nichts mehr zu tun.“
Und die ist gross: Schloemer will mithelfen, das „Silicon Valley Europas“ zu bauen. „Wir müssen Deutschland und Berlin so attraktiv machen, dass die besten Talente der Welt zu uns kommen und geile Firmen bauen. Dabei dürfen wir aber nicht deutsch denken, sondern europäisch – wir wollen, dass Europa sich so positioniert, dass man mit China und den USA auf Augenhöhe reden kann.“

Doch wer jene anziehen will, die den Status quo nicht akzeptieren, darf auch nicht davor zurückschrecken, sich selbst infrage zu stellen. Also muss sich die Factory verändern – und da bleibt kein Stein auf dem anderen. Im Zentrum der neuen Ausrichtung steht künstliche Intelligenz: „KI wird die Welt in den nächsten zwei bis drei Jahren verändern“, sagt Schloemer. Er will, dass die Factory in Berlin hier eine führende Rolle spielt. Im Zuge der rund 1.500 Gründungen, die im Umfeld der Factory passiert sind, sammelte Schloemer aber auch viele Erfahrungen – und weiss, was nicht funktioniert.
Seine Idee: Die besten Talente der Welt müssen nach Berlin kommen und hier in wenigen Tagen ein Produkt bauen. Die Factory will diesen Gründern alles abnehmen, was nicht das Kerngeschäft betrifft; vorrangig administrative und rechtliche Dienstleistungen, aber auch Themen wie Design oder Marketing. Das grösste Asset sei aber das Netzwerk der handelnden Personen. Auch Schloemer selbst will alles geben, damit die Start-ups, die entstehen, erfolgreich sind. Im Gegenzug bekommt Factory aber nicht mehr einen Mitgliedsbeitrag der Start-ups, sondern 10 % der Anteile; das Unternehmen übernimmt also eine Art Mitgründer-Rolle bei den Start-ups.
„Wir nehmen künftig keine Membership-Beiträge mehr, sondern unser Ziel ist, die Unternehmen erfolgreich zu machen. Wir bekommen Anteile, dafür halten wir den Gründern aber den Rücken frei, stellen das komplette Kapital und unser Netzwerk zur Verfügung.“ Doch Schloemer will sich nicht nur auf Gründer fokussieren: Auch Künstler und Musiker sollen Teil dieses Konzepts werden. Auch hier will Factory ähnlich unterstützend wirken, und im Gegenzug sollen 10 % der Rechte am zukünftigen Werk an die Factory gehen.
Ein grosses Vorbild in alldem: Andy Warhol. Dessen Atelier „The Factory“ sei ein Ort gewesen, wo Kreative, Künstler und Andersdenkende zusammenkamen und Neues schufen. Genau das soll auch die Factory in Berlin sein. Doch der Name bietet auch andere Konnotationen: „Der Name Factory ist im Nachhinein eigentlich das Beste, was uns passieren konnte. Wir vergleichen unseren Ansatz intern gerne mit Henry Ford: Die Factory ist das Fliessband, das ‚T-Modell‘ sind die Talente – und heraus kommen erfolgreiche Unternehmen“, so Schloemer.
Was genau diese Gründer bauen, ist dem Factory-Team nicht so wichtig. Ein klarer Fokus auf KI muss vorhanden sein; zudem durchlaufen die Start-ups vorab einen klaren Selektionsprozess, der laut Schloemer hart sein wird. Wie genau dieser abläuft, will er im Interview aber noch nicht verraten. Er verweist auf Stefan Krause, der dazu in Zukunft mehr sagen könne – Krause ist seit September 2025 als CEO an Bord. Er war in seiner Karriere etwa im Vorstand von BMW und der Deutschen Bank, bevor er E-Mobilitäts-Start-ups in Kalifornien und Deutschland gründete.
Krause soll Schloemers Idee nicht nur strukturieren, sondern letztendlich zum Leben erwecken. Schloemer: „Ich habe mit Stefan einen brillanten CEO, der 100-mal besser strukturiert ist als ich.“ Er selbst will als Chairman die Vision vorantreiben und von aussen Impulse geben: „Ich will keine aktive Rolle übernehmen.“
Schloemer und Krause gehen davon aus, dass das neue Setup im Vollausbau bis zu 400 Gründungen pro Jahr ermöglichen wird. Sollte das tatsächlich klappen, würde das eine enorme Beschleunigung der bisherigen Zyklen bedeuten. Denn obwohl Start-ups deutlich schneller als Grosskonzerne agieren, sind insbesondere jene, die sich mit Risikokapital finanzieren, trotz allem auf gewisse Zyklen angewiesen, vor allem, was Finanzierungsrunden angeht. Und die Due Diligence grosser VCs kann gerne mal sechs Monate dauern. Schloemer betont mehrmals, dass diese Zeit nicht mehr da sei – die Welt werde schneller: „Wer heutzutage in drei Tagen kein Produkt bauen kann, hat keine Zukunft im digitalen Bereich.“

Nicht umsonst denken Schloemer und Krause auch darüber nach, einen Fonds aufzusetzen, der parallel zur Factory existiert und in die Unternehmen investiert. Denn die Anteile, die die Gründer abgeben, werden von der Factory GmbH gehalten, von der bis heute mehr als die Hälfte Schloemers Familie gehört – er investiert stets gemeinsam mit seiner Frau Sabrina.
Zwar werden die Einnahmen aus Beteiligungen erst mit den ersten Exits realisiert, dennoch ist die Factory durch ein starkes Fundament finanziell abgesichert. Aktuell arbeiten für die Factory 60 Mitarbeiter, das ist also kein kleiner Brocken. Doch auch in Sachen Exits erwartet der Unternehmer mehr Tempo: „Es wird die nächsten zwei oder drei Jahre Hunderte von Exits im Bereich Dienstleistungen von künstlicher Intelligenz geben.“
Insgesamt ist Schloemer mehr als optimistisch – denn wenn alles so klappt, wie er sich das vorstellt, könnte die Factory in zwei Jahren 800 Start-ups mitgründen. Wenn nur eines davon einen Return bringt, wie es die ganz grossen Start-up-Erfolgsgeschichten in Europa geschafft haben, wäre der ganze Betrieb finanziert: „Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass uns das nicht gelingt.“ Und zwar auch, weil Schloemer und sein Team davon ausgehen, die Chancen, dass ein Start-up in Zukunft Erfolg hat, in ihrem neuen Setup erhöhen zu können: „Bisher scheiterten im Schnitt rund neun von zehn Start-ups. Wir hoffen, die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöhen zu können, sodass es nur sieben von zehn sind.“
Ähnlich soll der Erfolg in Musik und Kunst gelingen; denn auch hier müssten sich die wichtigsten Protagonisten – eben die Kreativen – oft um Themen kümmern, die nicht ihr Kerngebiet sind. In Kürze eröffnet Factory daher ein eigenes Gebäude, das diese beiden Themen beheimaten soll – und ebenfalls dafür sorgen soll, dass Europa vorankommt.
Udo Schloemer wuchs in der Nähe von Stuttgart auf, sein Vater war Handwerker. Ende der 90er-Jahre kam der ausgebildete Versicherungsmathematiker nach Berlin und fing an, sich auf Immobilien zu fokussieren. Schnell fing seine S + P Real Estate GmbH an, denkmalgeschützte Immobilien zu entwickeln; neben ideologischen Anreizen („eine neue Seele für alte Bauten“) machten auch Steuervergünstigungen nach der Wiedervereinigung das Geschäft für Investoren hochattraktiv. Die Zeiten liessen es zu, mit wenig Eigenkapital zu agieren; nach ersten Erfolgen verlangten die Banken aber von ihm, auch Bestandsimmobilien ins Portfolio aufzunehmen. Was Schloemer eigentlich nicht wollte, erwies sich später als Segen: 2006 klopfte Lehman Brothers bezüglich der Übernahme der Mehrheit am Unternehmen an. Neben der Entwicklungskompetenz war die US-Bank vor allem vom Bestandsportfolio beeindruckt. 87,5 % verkauften Schloemer und sein Partner an Lehman Brothers und vereinbarten wechselseitig ein Vorkaufsrecht um einen Euro im Falle einer Insolvenz des jeweils anderen. Zur Erinnerung: Lehman Brothers hatte damals eine Marktkapitalisierung von rund 50 Mrd. US-$. Schloemer hatte Kapital zur Verfügung, Berlin war im Aufwind. Zwei Jahre später ging Lehman Brothers pleite und Schloemer kaufte die Anteile für einen Euro zurück. Es war die Zeit, in der das iPhone auf den Markt kam und in Deutschland die ersten Start-ups aufkamen. Schloemer investierte früh in Soundcloud, „6 Wunderkinder“ und Studi VZ und verdiente damit auch gutes Geld. Er sammelte in seinem Family Office rund 200 Beteiligungen an, die Tickets waren bis zu 50.000 € gross.
Die Rolle als Business Angel legte auch den Grundstein für die Idee zur Factory: Schloemer fand Gefallen daran, nicht selbst operativ tätig sein zu müssen, um guten Ideen zum Erfolg zu verhelfen. Ein Ökosystem, das junge Gründer mit etablierten Konzernen verband, das war die Idee.

Die Factory ging 2014 in Berlin-Mitte an den Start, später folgten ein zweiter Standort im Görlitzer Park (mittlerweile wieder geschlossen) sowie eine Niederlassung in Hamburg. Google wurde bald Partner, der damalige CEO Eric Schmidt eröffnete die Räumlichkeiten in Mitte, internationale Player wie Mozilla, Uber und Twitter zogen ein. Innerhalb kurzer Zeit wurde die Factory ein Anlaufpunkt für Gründer aus aller Welt. Der Begriff „Coworking“ musste Journalisten damals noch erklärt werden, doch für Schloemer war das nur Etikett. In Wahrheit verstand er die Factory von Anfang an als Netzwerk, als Ort, an dem Old und New Economy zusammenkamen, an dem Talente sichtbar wurden. Über Nacht war er in einer neuen Rolle angekommen: nicht mehr Immobilienentwickler, sondern Gastgeber einer Szene, die das Versprechen trug, Berlin zu Europas Antwort auf das Silicon Valley zu machen.
Dabei spielt Berlin eine tragende Rolle – denn die Stadt bietet laut Schloemer neben Dynamik vor allem auch ein Freizeitangebot, das Talente anzieht. „Es ist oft gar nicht so wichtig, was von nine to five passiert; viel wichtiger ist, was von five to nine stattfindet. Oder dann eben wieder nine to five, aber nachts“, lacht Schloemer.
Was genau das neue Projekt ist, ist laut Schloemer noch nicht ganz klar. Er selbst sieht einen Company Builder, CEO Stefan Krause spricht gerne von einem Accelerator. Fakt ist, dass die Köpfe hinter der Factory eine Wette eingehen; dafür aber bereit sind, sich mit den Gründern ins Boot zu setzen und das Risiko mitzugehen. „Die müssen funktionieren, damit es für uns funktioniert. Also werden wir unser gesamtes Netzwerk ins Rennen schicken“, sagt Schloemer.
Für ihn ist jedenfalls klar, dass die kommenden Jahre entscheidend sind. Prognosen für fünf Jahre wagt er nicht mehr – zu stark sei die Unsicherheit. Doch trotz aller Brüche, die auf die Wirtschaft und die Gesellschaft zukommen, überwiegt bei ihm der Optimismus: „Ich glaube, dass die Welt sich in den nächsten zwei Jahren enorm verändert – in vielen Punkten auch zum Positiven“, sagt er. Es ist die Überzeugung eines Mannes, der wie Pippi Langstrumpf die Welt nicht einfach hinnimmt, sondern sie sich so baut, wie sie ihm gefällt – und der überzeugt ist, dass Berlin und Europa dabei eine Hauptrolle spielen können.
Fotos: Scheer a Moment