Neue Tricks für ein altes Einhorn

Vor einem Jahrzehnt machte Airbnb Unterkünfte günstig und attraktiv. Jetzt muss das Unternehmen schnell expandieren, um seine Bewertung von 29,3 Milliarden US-$ vor dem anstehenden Börsengang zu rechtfertigen.

Rund 32 Sekunden lang sitzt der ständig unruhige Brian Chesky still. In Airbnbs Hauptsitz in San Francisco konzentriert sich der 37-jährige CEO auf das iPhone in seinen Händen. Es zeigt ein Marketingvideo, in dem die Gäste während einer Airbnb-Experience in einem Tierheim mit Ziegen spielen. Das Service wird seit zwei Jahren als Teil des „Reiseführer-Geschäfts“ angeboten. Cheskys Hund Osso sitzt währenddessen unter dem Tisch und leckt die schwarzen Turnschuhe des Milliardärs. „Wow!“, sagt er nach dem Ende des Videos zu den acht Mitarbeitern.

Aufstieg im Zeitalter des Digital Native

Vielleicht ist die Rückkehr zu jener Magie, mit der Airbnb gross wurde – einzigartige, aber leistbare Unterkünfte – ein Fortschritt in einer Welt voller Pfennigfuchser. Denn in den zehn Jahren seit seiner Gründung hat das Unternehmen vor allem von einem Generationswechsel profitiert: Digital Natives haben kein Problem damit, mit Fremden mitzufahren, auf Smartphones für potenzielle romantische Partner nach rechts zu swipen – und eben im Gästezimmer von Unbekannten zu schlafen. Airbnb nutzte das, um nicht nur eine Bewertung von 29,3 Milliarden US-$ zu erreichen, sondern auch drei Milliarden US-$ Risikokapital einzusammeln. Ganz nebenbei haben die Gründer Brian Chesky, Joe Gebbia und Nathan Blecharczyk jeweils ein Vermögen von 3,7 Milliarden US-$ angesammelt – und ihren Unternehmensnamen wie Google, Xerox oder Uber zu einem Verb gemacht.

Hohe Bewertung, niedrige Marge

Mit all dem Geld kommt aber eine einzigartige Herausforderung, quasi der „Fluch des Einhorns“: Wie kann Airbnb höhere Bewertungen als der Hotelgigant Hilton oder American Airlines rechtfertigen? Airbnb verdiente 2017 nur 100 Millionen US-$ (auf Cashflow-Basis), bei einem Umsatz von 2,6 Milliarden US-$ – eine Marge von nur etwa vier Prozent. (Hilton und American Airlines haben Margen von rund 27 Prozent). Wie kann Airbnb bei mehr Wettbewerb und schärferen Gesetzen wachsen und die zehnfache Rendite erzielen, die seine Investoren verlangen? Beobachter gehen von einem Börsengang Mitte 2019 aus – Chesky und Co. brauchen also schon bald Antworten.

Airbnb hat im Gegensatz zu Riesen wie Google nur einen Geschäftszweig: Es verbindet Menschen, die leere Häuser und Wohnungen haben, mit Menschen, die sie für kurze Zeit mieten wollen. Die Expansion mithilfe von Reisetouren, Experiences und Reservierungen in Restaurants kommt also nicht überraschend. Ein weiteres Problem: ein schwaches Führungsteam, ohne Chief Financial Officer und Chief Marketing Officer. Hinzu kommt CEO Chesky, der – obwohl er viele Milliarden von diversen Investoren einsammelte – deren Interessen nicht ganz oben auf die Agenda setzt. „Früher ging es um finanzielle Kennzahlen. Jetzt erkennen Unternehmen, dass wir eine grössere Verantwortung gegenüber der Gesellschaft haben. Wir müssen dafür sorgen, dass das Leben grossartig ist.“

Amazon als Leitmodell

Der Plan ist folgender: Von Amazon inspiriert will Chesky, dass Airbnb zu einem Unternehmen für alles wird, was Reisende betrifft. Er hofft, dass bis 2028 pro Jahr eine Milliarde Menschen Airbnb nutzt (im Jahr 2018 schliefen alleine bis Oktober rund 100 Millionen Menschen in einer Airbnb-Unterkunft). Also überarbeitet Airbnb seine Technologie, um bald Hunderte von Kategorien verarbeiten zu können. Doch Chesky befürchtet, dass das unkontrollierte Wachstum Airbnbs Einzigartigkeit gefährden könnte. Daher versucht er, Airbnb als „Unternehmen des 21. Jahrhunderts“ zu positionieren, das nicht nur den finanziellen Ergebnissen verpflichtet ist, sondern auch anderen Stakeholdern (Gästen, Gastgebern, Mitarbeitern, Städten). Das Ergebnis ist eine Spannung zwischen der Notwendigkeit, zu expandieren, und Cheskys Wunsch, ein Unternehmen aufzubauen, das verantwortungsbewusst und nachhaltig ist. Kenneth Chenault, ehemaliger CEO von American Express und Vorstandsmitglied von Airbnb, sagt: „Man wird nicht lange überleben, wenn die eigene Marke im Leben von Menschen keine Bedeutung hat.“

Luftmatratze und Frühstück

Airbnbs Gründerstory hat im Silicon ­Valley mittlerweile Mythenstatus erlangt. Gebbia und Chesky, Absolventen der Rhode Island School of Design, waren 2007 knapp bei Kasse. Sie vermieteten eine Luftmatratze auf ihrem Boden an Leute, die für eine Designkonferenz nach San Francisco kamen. Nathan Blecharzyck half beim Aufbau der Website. Nach zwölf Monaten hatte das Start-up nur 20 Reservierungen pro Tag. Doch das Trio suchte bereits nach Investoren. Da sie inzwischen völlig pleite waren, machten die Gründer Kreditkartenschulden. Ihr grösstes Problem war mangelndes Vertrauen. Die Menschen fühlten sich nicht wohl dabei, Fremde „aus dem Internet“ in ihren Häusern wohnen zu lassen. „Das war etwas, das uns gesagt wurde, seit wir Kinder waren.“ Die Gründer fingen an, Gastgeber zu besuchen, bauten ein Bewertungssystem auf, starteten einen Kundendienst und arbeiteten an der Fotoqualität. Die Finanzkrise 2008 drängte Reisende dann, ihre Budgets zu reduzieren. Gleichzeitig brauchten viele Gastgeber Geld, um ein kleines Zusatzeinkommen zu erzielen. Bald wurde alles vom Baumhaus bis zu Einzelzimmern in Wohngemeinschaften auf der Website aufgeführt. Bis 2013 hatte Airbnb 500.000 Einträge – heute sind es über fünf Millionen.

Einzigartiges Kundenerlebnis als Schwerpunkt

Nachdem jedoch jahrelang mühelos Gastgeber hinzugefügt wurden, steht Airbnb nun vor einem Engpass. Das hat zwei Gründe. Erstens: Konkurrenz. Booking Holdings – der Eigentümer von Seiten wie Priceline und OpenTable mit einem Umsatz von 12,6 Milliarden US-$ (2017) – und Expedia (Umsatz 2017: zehn Milliarden ­US-$) haben begonnen, ihren Schwerpunkt auf Wohnungen und Ferienvermietungen zu legen. In diesem Frühjahr machte Booking Holdings seine „alternativen Unterkünfte“ zu einer eigenen Kategorie – mit fünf Millionen Einträgen.

Zweitens: Regulierung. Die Streitigkeiten reichen von professionellen Immobilienbesitzern, die mit Airbnb unregulierte Hotels schaffen, bis hin zu Vorwürfen, dass das Unternehmen die Wohnungsnot in Städten verschlimmere. In Berlin, Santa Monica oder San Francisco sank die Zahl der Einträge nach Einführung strenger Auflagen laut dem Datenanbieter AirDNA teilweise um mehr als 30 Prozent. New York City und Paris haben das Unternehmen ebenfalls ins Visier genommen.

Wer hat wann wie viel in Airbnb investiert? (Quelle: Crunchbase)

Im Februar erweiterte Airbnb seinen Fokus um etablierte Betreiber auf der Seite. Das Angebot reicht von Bed and Breakfasts über Ferienunterkünfte hin zu Boutique-Hotels. So geht man etwas von der eigenen Identität ab, nimmt aber eine geringere Provision – nur drei Prozent im Vergleich zu den traditionellen 15 Prozent von Online-Reisebüros wie Booking. Chesky hat die Vision von nahtlosen Reisen und sieht damit verbunden natürlich potenzielle Akquisitionen – Hotelketten, Reiseveranstalter, Transportunternehmen. Doch er ist nicht bereit, Wachstum zu kaufen. „Der Schwerpunkt von Airbnb sollte weiterhin auf einzigartigen Erfahrungen liegen, die es sonst nirgendwo im Internet gibt.“

Airbnb will Portfolio erweitern

Wenn Amazon das Vorbild sein soll, hat Chesky noch einen langen Weg vor sich. Als ersten Schritt warb er den ehemaligen Leiter von Amazon Prime, Greg Greeley, ab. Greeley leitet die Abteilung Homes, die das Hauptmietgeschäft betreut. Doch in vielerlei Hinsicht ist der Amazon-Vergleich eine hohe Messlatte: Einzelhandel hat alleine in den USA ein Marktvolumen von 5,8 Billionen US-$ – viel grösser also als der Reisemarkt. Amazon verkauft Massenprodukte wie Bücher, Kleidung und Gartengeräte; Airbnb will das Gegenteil sein. Chesky: „Leider können wir einzigartige Unterkünfte nicht einfach millionenfach kopieren. Wir müssen in mehreren Bereichen aktiv sein – denn das Angebot ist immer begrenzt.“ Der erste grosse Expansionsversuch von Airbnb ist der stark fragmentierte Markt für „Guided Tours“. Ursprünglich war die Idee einer dreitägigen, durchgeplanten Reiseroute für das Airbnb-Publikum zu teuer und aufwendig. Es wurde auf kürzere Optionen umgestellt, was zu einem Qualitätsproblem führte.

Die Überprüfungen bremsten, doch 2018 hat sich das Wachstum beschleunigt. Heute gibt es 15.000 Experiences in 800 Städten weltweit. Airbnb behält dabei 20 Prozent Kommission, was 2017 rund zwei Millionen US-$ Umsatz bedeutete – nicht mehr als ein Rundungsfehler für ein Unternehmen wie Airbnb. Laut Quellen gab Airbnb mehr als 100 Millionen US-$ für die Entwicklung des Produkts aus. Forbes schätzt aber, dass Experiences 2018 90 Millionen US-$ Umsatz erreichen könnte, was Airbnb einen Anteil von rund 18 Millionen US-$ einbrächte. Airbnb dementiert die Zahlen, nennt aber keine Details.

Gastgeber als Stakeholder

Im Dezember 2017 versammelte Chesky seine Mitgründer, um über herkömmliche Finanzkennzahlen hinauszudenken. „Wenn man eine grössere Verantwortung trägt“, sagt Chesky, „ist die Frage, wem gegenüber man diese Verantwortung hat.“ Für die meisten CEOs, insbesondere solche, die bald an die Börse gehen wollen, wären Investoren eine naheliegende Wahl. Doch Chesky will die eigenen Fortschritte neben den Investoren eben auch bei anderen Stakeholdern messen: Mitarbeiter, Gäste, Gastgeber, Städte. Airbnb hofft, dass dies die Akzeptanz ungewöhnlicher Wünsche erleichtern könnte. Dazu gehört vor allem der Plan, seinen Gastgebern Aktien zu geben, als ob sie Angestellte wären, sowie ihnen günstige Baufinanzierungen anzubieten. Zuständig dafür: die US-Finanzmarktaufsicht SEC. Der Plan zeigt den Wunsch, seinen Wurzeln treu zu bleiben.

Solche Ideen werden nach einem Börsengang jedoch schwieriger. Chesky ist diesbezüglich sichtlich nervös. Zu oft, sagt er, würden Unternehmen den Überblick verlieren und nur noch in Quartalen denken. „Ich habe viele CEOs getroffen, die langfristig orientiert sein wollen, aber mit so vielen Dingen beschäftigt sind, die damit in Konflikt stehen.“ Ungewöhnliche Worte eines CEOs, der bald an die Börse gehen will. Airbnb will die Regeln neu definieren. Letztendlich liegt es an den Investoren, zu entscheiden, ob das Unternehmen dazu bereit ist.

Text: Biz Carson / Forbes US
Fotos: Jamel Toppin / Forbes US
Übersetzung: Wolfgang Steinhauer

Dieser Artikel ist in unserer Dezember-Ausgabe 2018 „Sharing Economy“ erschienen.

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