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Was zieht eine ehemalige Topmanagerin der Pharmabranche in ein Sozialunternehmen? Für Alexandra Gruber, die seit 2015 die Geschäftsführung der Wiener Tafel innehat, liegt die Antwort auf die Frage nicht nur im sozialen und ökologischen Aspekt begründet: Für sie ist die Tafel ein Ort der Begegnung und des Miteinanders.
Manchmal trifft die Hektik des Alltags auf grosse Herausforderungen – und lässt die Welt plötzlich im Chaos versinken. Trotz all der Schwierigkeiten zeigt sich dabei auch oft eine positive Seite – so auch bei der Wiener Tafel Anfang März. Denn bei dem gemeinnützigen Verein, der Lebensmittel rettet, um sie an Bedürftige zu verteilen, stand ein Umzug des Unternehmenssitzes bevor. Die Prozesse dafür liefen seit Jahresbeginn auf Hochtouren – doch dann kam Covid-19 und legte den Betrieb über Nacht für zwei Wochen still. „Wo man derzeit auch hinschaut – es ist eine grosse Herausforderung“, sagt Alexandra Gruber, Geschäftsführerin der Wiener Tafel. „Kein Stein ist auf dem anderen geblieben.“
Es musste schnell gehandelt werden: Zum einen galt es, die Mitarbeiter – egal ob angestellt oder ehrenamtlich – zu schützen; vor allem, da 90 % aufgrund ihres Alters oder wegen Vorerkrankungen zur Risikogruppe gehören. Zum anderen mussten Prozesse, die ehemals mit physischem Kontakt stattgefunden haben, nun kontaktlos durchgeführt werden. Doch trotz der neuen Herausforderungen passten sich die Stakeholder von Unternehmen, die überschüssige Lebensmittel an die Tafel abgeben – also Landwirtschaft, Produktion, Grosshandel und Supermärkte – und die Tafel selbst gut an die neue Realität an. Das zeigte Gruber einmal mehr, dass die Wiener Tafel auch ein Ort des Miteinanders ist, wenn aktuell auch mit Sicherheitsabstand.
Alexandra Gruber
... absolvierte ein Doktoratsstudium in Pharmazie an der Universität Wien sowie einen MBA an der WU Executive Academy und einen Master in Finance an der Donau-Universität in Krems. Sie war bei mehreren Pharmaunternehmen in leitender Position tätig, etwa bei Boehringer Ingelheim. Seit 2015 ist Gruber Geschäftsführerin der Wiener Tafel.
Initiiert wurde die Wiener Tafel 1999 von Martin Haiderer und Studierenden der Sozialakademie Wien. Sie war die erste „Tafel“ Österreichs. Anfangs gab es noch keine Zentrale und kein Büro – nur einen Kleintransporter, der die übrig gebliebenen Lebensmittel und Warenspenden von Industrie und Landwirtschaft an Armutsbetroffene verteilte. 2005 konnte dann dank Spenden der erste Kühlwagen angeschafft werden, 2006 folgte der nächste; zusätzlich folgten erste Mitarbeiter für die Logistik und ein Büro – die Tafel expandierte. Mittlerweile arbeitet die gemeinnützige Institution mit über 200 Partnerunternehmen zusammen und hilft mehr als 19.000 Armutsbetroffenen in etwa 100 Sozialeinrichtungen. 2019 wurden von den ehrenamtlichen Mitarbeitern der Wiener Tafel rund 676 Tonnen Lebensmittel gerettet – über 75 Tonnen mehr als im Jahr zuvor.
„Ohne die ehrenamtlichen Helfer würden die Tafeln nicht funktionieren“, so Gruber. Grundsätzlich, so erzählt sie, helfen Menschen aus der Bevölkerung, weil sie sich gegen Lebensmittelverschwendung einsetzen oder bedürftigen Menschen helfen wollen. Spannend sei jedoch die Klammer: „Das eine funktioniert nur mit dem anderen.“
Zusammen mit weiteren österreichischen Tafeln – dem Le+O der Caritas und dem Roten Kreuz in Niederösterreich und Tirol – wurden 2019 in ganz Österreich mit über 3.800 ehrenamtlichen Helfern über 5.500 Tonnen Lebensmittel gerettet und verteilt. Damit stellt die Initiative eine Brücke zwischen Überfluss- und Bedarfsgesellschaft dar.
Eine Perspektive, die auch Alexandra Gruber 2012 überzeugte, als sie sich entschied, bei der Wiener Tafel zu arbeiten. Als studierte Pharmazeutin (Universität Wien) und mit einem MBA an der WU Executive Academy sowie einem Master in Finance an der Donau-Universität Krems in der Tasche, war sie eigentlich bestens auf eine Corporate-Karriere vorbereitet. Mehrere Stationen im internationalen Umfeld von Pharmaunternehmen, etwa bei Sandoz oder Biocrates Life Sciences, standen in Grubers Lebenslauf. Als sie sich überlegte, die Wiener Tafel ehrenamtlich zu unterstützen, arbeitete sie gerade beim deutschen Pharmariesen Boehringer Ingelheim als Director of Business Development.
„Ich habe damals zwei- bis dreimal pro Monat ausgeholfen – die Wiener Tafel war schon damals wie eine grosse Familie“, sagt Gruber. Als 2015 der Posten der Geschäftsführung ausgeschrieben wurde, wechselte sie zur Gänze: „Nach etwa 20 Jahren in der Pharmaindustrie war es Zeit, etwas Neues zu beginnen, das noch sinnstiftender ist.“
Grubers Wechsel war aber nicht nur ein Quereinstieg in eine neue Branche, sondern auch ein Schritt von der Privatwirtschaft in den Non-Profit-Bereich. Als zentrale Unterschiede der beiden Welten nennt Gruber die grosse Dynamik, die durch die 350 ehrenamtlichen Mitarbeiter entsteht, sowie die Finanzierung: „Der Organisationsaufwand mit ehrenamtlichen Mitarbeitern ist gross – es gibt immer mal wieder eine Situation, in der jemand kurzfristig absagt. Und natürlich befinden wir uns bei der Bezahlung der Angestellten in einer anderen Welt als in der Privatwirtschaft. Hier zählt als Motivation vor allem die Wertschätzung und Sinnstiftung.“
Die Finanzierung der Organisation ist bei allem „Purpose“ generell ein grosses Thema. Grundsätzlich ist die Wiener Tafel auf Spenden angewiesen – 2018 wurden über Spendenaktionen, Mitgliedsbeiträge, Investoren und Zuschüsse insgesamt knapp über 740.000 € gesammelt. Die Covid-19-Pandemie führte jedoch zu grosser Unsicherheit. Wie geht es weiter? „Einige Unternehmen können uns nicht mehr unterstützen. Zwar kommen dafür andere auf uns zu, die gerade jetzt etwas tun wollen, doch je länger die Krise dauert, desto stärker werden sich auch die Spenden verändern“, sagt Gruber.
Im Zuge der Krise appellierte der Verband der österreichischen Tafeln deshalb an Politik und Unternehmen, zu unterstützen. Darüber hinaus forderten der europäische Dachverband European Food Banks Federation (FEBA), das Global Food Banking Network und der US-amerikanische Dachverband Feeding America als Interessensvertretung von Tafel-Organisationen in über 40 Ländern schnelle und unbürokratische Hilfsmassnahmen. „Die Unterstützung der öffentlichen Hand fordern wir schon lange“, sagt Gruber. „Wir übernehmen im Prinzip Aufgaben vom Staat und haben eine gesellschaftspolitische Funktion. Deshalb ist es wichtig, dass wir auch Unterstützung erhalten.“
Österreich zählt zu den reichsten Staaten der Erde. Dennoch gilt jeder siebte Mensch hierzulande als arm oder armutsgefährdet – 1,24 Millionen Menschen. Etwa 140.000 davon können ihre Wohnung nicht warm halten, über 21.500 Menschen sind als wohnungslos registriert und knapp 370.000 gelten als manifest arm: Sie können regelmässige Zahlungen wie die Miete nicht immer rechtzeitig begleichen, können notwendige Arzt- und Zahnarztbesuche nicht in Anspruch nehmen oder unerwartete Ausgaben finanzieren. Und: Sie müssen beim Essen sparen. Die Wiener Tafel schafft Abhilfe, indem sie nicht nur Lebensmittel an soziale Einrichtungen liefert, die diese an Bedürftige verteilen, sondern auch eine zwischenmenschliche Funktion übernimmt – etwas, das gerade jetzt zu kurz kommt. „Social Distancing ist für Tafeln das falsche Modell, denn wir leben von einem engen Miteinander, sind alle ständig in Bewegung“, erzählt Gruber.
Nichtsdestotrotz musste sich Anfang März auch die Wiener Tafel den neuen Gegebenheiten anpassen und ihre Prozesse umstrukturieren. So befinden sich derzeit viele Mitarbeiter im Homeoffice, im Lager der Wiener Tafel werden die Waren statt von 15 Mitarbeitern aktuell nur noch von zwei kommissioniert und gerichtet, sodass nun die Einrichtungen die Waren selbst abholen. Das gab es zuvor nicht. Hand- und Mundschutz sind Pflicht und vereinzelt stattfindende Lieferfahrten werden nun statt mit drei mit nur einer Person vorgenommen. „Wir haben derzeit viel mehr Waren als sonst, die wir mit viel weniger Leuten verarbeiten müssen“, so Gruber.
Damit die Bedürftigen in Zeiten der Krise bestmöglich versorgt werden können, hat sich die Wiener Tafel eng mit den Partnerorganisationen vernetzt und auf ihrer Webseite verschiedene Ausgabestellen wie Suppenküchen oder das Verteilungskonzept der offenen Kühlschränke gelistet. Laut Gruber steigt der Bedarf – neben sozialen Einrichtungen kontaktieren auch immer mehr Privatpersonen die Wiener Tafel. „Das wird uns leider länger begleiten“, befürchtet Gruber.
Deshalb wurde auch erst kürzlich eine Fundraising-Kampagne zur Erweiterung der Lager- und Kühlkapazitäten gestartet. Das Ziel: 100.000 €. Doch trotz all der Herausforderungen birgt die Krise auch ihre positiven Seiten. Gruber: „Der ökologische Gedanke hinsichtlich der Lebensmittelrettung war bereits in den letzten Jahren stark im Kommen – und nun sieht man auch, dass das Soziale und das Miteinander einen Aufschwung erhalten.“
Text: Andrea Gläsemann
Fotos: David Višnjić