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Bietet Flexport tatsächlich die aktuell beste Logistiklösung? Gründer Ryan Petersen, der sich selbst als Retter der Schifffahrt positioniert, brachte Flexport eine Bewertung von acht Milliarden US-$ ein. Doch Branchenkonkurrenten sagen, dass der 41-jährige Fast-Milliardär und sein Start-up nur Show seien – und warten auf seinen Untergang.
Natürlich gibt es immer noch Zweifler. „Sichtbarkeit ist eine Lösung für ein Problem, das es eigentlich nicht geben dürfte“, sagt Adam Banks, der ehemalige Chief Technology and Information Officer von Maersk, dem zweitgrössten Seeverkehrsunternehmen der Welt mit einem Jahresumsatz von 40 Mrd. US-$. Seiner Meinung nach gehören Maersk und seinen Konkurrenten die Container; sie werden auch die Daten besitzen wollen und sie nicht an Petersen abgeben. Andere bezweifeln, dass Flexport den Sieg auf diesem Markt davontragen wird: Ein Herausforderer, der schwungvoll in den Markt eingetreten ist, ist das in Chicago ansässige Project 44, ein reines Logistikdatenunternehmen, das im Januar 420 Mio. US-$ (bei einer Bewertung von 2,6 Mrd. US-$) einsammelte. Viele Menschen würden lieber mit der „Schweiz“ von Project 44 arbeiten als mit einem dreisten Konkurrenten wie Flexport, argumentiert Project-44-CEO Jett McCandless.
Ryan Petersen hat sich inzwischen an diese Sticheleien gewöhnt. „Unsere Branche hält mich für einen Clown – was mich nicht weiter stört“, sagt er. „Ich muss die anderen Marktteilnehmer weiterhin davon überzeugen, dass ich verrückt bin, damit sie nicht die Kurve kriegen und mit uns konkurrieren.“
Als die Fähre nach San Francisco den Hafen von Oakland verlässt, dreht sich Ryan Petersen, Gründer und Geschäftsführer von Flexport, um und beobachtet, wie ein riesiger 370-Fuss-Kran einen Frachtcontainer nach dem anderen an das Deck eines Frachtschiffs hievt. Petersen bewundert die sauberen Reihen der blauen, rostroten und gelegentlich blaugrünen Rechtecke, die sich auf dem Schiff der Post-Panamax-Klasse auf dem Weg nach Yokohama, Japan, stapeln. „Ich wünschte, ich könnte mit einer Hololens hineinschauen, um zu sehen, welche Container von Flexport sind“, sagt er. „Ich garantiere, dass wir auf jedem Containerschiff an der Westküste sind.“
Das klingt nach Angeberei, aber für Petersen, 41, ist es einfaches Kalkül. Flexport besitzt keine eigenen Züge, Flugzeuge oder Schiffe. Aber als einer der am schnellsten wachsenden Akteure im Bereich „Digitale Spedition“ ist Petersens acht Jahre altes Unternehmen bereits der weltweit siebtgrösste Abnehmer von Frachtraum auf Transpazifikrouten. Auf so gut wie jedem Schiff, das nach Asien fährt, befinden sich mindestens ein oder zwei Container mit kalifornischen Mandeln oder Autoteilen, die von der Software von Flexport dorthin gebracht wurden.
Flexport wurde 2013 gegründet, um Papierzollformulare zu automatisieren, und wird von einigen der prominentesten VCs und Tech-Milliardären des Silicon Valley unterstützt – darunter Peter Thiels Founders Fund, Yuri Milner und Masayoshi Son. Seit 2013 wurden die Services deutlich erweitert: Das Unternehmen hilft Kunden wie Georgia-Pacific (Brawny-Papierhandtücher, Angel-Soft-Toilettenpapier), dem Hersteller von Sanitärarmaturen Gerber und dem Lautsprecherhersteller Sonos dabei, den Versand von Waren von der Fabrik zum Lager und in die Geschäfte zu bewältigen. Die Software von Flexport analysiert und optimiert die Lieferkette der Kunden und automatisiert sie, wobei sie oft Wege findet, die Lieferzeit um einige Tage zu verkürzen und den Kunden Millionen an Verzugsgebühren zu ersparen. Durch die zentrale Sendungsverfolgung und Nachrichtenübermittlung von Flexport entfallen Tausende von E-Mails, was den Kunden durchschnittlich vier Arbeitsstunden pro Woche erspart. Gegen ein Entgelt gleicht Flexport sogar ihren ökologischen Fussabdruck aus.
Die Schifffahrt ist ein riesiger Teich, in dem viele fischen wollen. Nach Angaben des Beraters Armstrong & Associates beliefen sich die weltweiten Ausgaben für Logistik im Jahr 2020 auf neun Billionen US-$, das entspricht etwa 11 % des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. Die Logistik für Dritte, von der die Spedition einen grossen Teil ausmacht, beläuft sich auf fast eine Billion US-$. In den USA ist dies ein Geschäft mit einem Volumen von 230 Mrd. US-$, was 1,1 % des nationalen BIP entspricht. Die Nachfrage ist rekordverdächtig: Laut der Allianz-Tochter Euler Hermes stieg das weltweite Handelsvolumen im Jahr 2021 um 8,3 %. Im vergangenen Herbst gaben die Amerikaner 20 % mehr für Waren aus als im Februar 2020.
Das Angebot kann da nicht mithalten. Waren aus China für die USA brauchen jetzt mehr als einen Monat länger als noch im Jahr 2019, während die Kosten für den Versand eines Containers von unter 2.000 US-$ vor der Pandemie auf über 20.000 US-$ im letzten Sommer gestiegen sind (der aktuelle Preis liegt bei etwa 15.000 US-$). Menschen, die sich bis jetzt nie Gedanken über die globale Lieferkette gemacht haben, werden jetzt aufmerksam.
Eine von Oracle durchgeführte Umfrage unter 1.000 Erwachsenen in den USA ergab, dass 87 % der Befragten Probleme mit dem Versand hatten; die Hälfte gab an, in den letzten Monaten Bestellungen storniert zu haben. Für Flexport bedeutet das alles Geschäft – der Umsatz erreichte 2021 3,3 Mrd. US-$ gegenüber 1,3 Mrd. US-$ im Jahr 2020 und 670 Mio. US-$ im Jahr davor (Flexport gibt etwa 80 % seiner Einnahmen direkt an seine Versandpartner weiter). Im vergangenen Jahr erzielte das in San Francisco ansässige Unternehmen mit 37 Mio. US-$ seinen ersten Gewinn.
Kein Wunder also, dass sich mächtige Investoren immer wieder einmischen. Der neueste: Andreessen Horowitz, das prominente Risikokapitalunternehmen, das Petersen zusammen mit Founders Fund, dem E-Commerce-Star Shopify und anderen im Januar mit einer neuen 900-Mio.-US-$-Kriegskasse (bei einer Bewertung von acht Mrd. US-$) ausgestattet hat. Forbes schätzt, dass Petersens 9%ige Beteiligung an Flexport nach dem Standardabschlag von 10 % für Privatunternehmen 650 Mio. US-$ wert ist. Rechnet man noch ein produktives Angel-Investment-Portfolio hinzu, liegt der Wert bei 750 Mio. US-$ – Petersen klopft also an die Tür zum Milliardärsstatus.
Petersen selbst möchte aber nicht als Pandemieprofiteur gesehen werden, sondern lieber als „Mr. Fix-it“ der Schifffahrt. Flexport durchforstet die Kundendaten und versucht, jeden kostbaren Container voller zu beladen (die meisten werden nur zu 70 % gefüllt). Leichtere, hochwertige Produkte wie die beliebten Pullover von Everlane werden vom Seeweg auf den Luftweg verlagert. Für Unternehmen, die mit knappen Lagerbeständen konfrontiert sind, hat Flexport eine App entwickelt, mit der Lkw-Fahrer zehn Tage im Voraus erfahren können, wo sie gebraucht werden.
Petersen hat sich auch nicht davor gescheut, sein öffentliches Image zu verbessern. Zu Beginn des Lockdowns schickte er Hunderttausende Schutzausrüstungen nach Wuhan in China. Als das Coronavirus die US-Küste erreichte, setzte er sein Team darauf an, Spezialflugzeuge zu buchen, um Millionen von Masken zu verschicken. „Jede Krise braucht einen Helden, und Ryan Petersen hat sich als das Gesicht dieser Krise positioniert. Er engagiert sich dort, wo viele Führungskräfte es nicht tun. Das ist es, was die Öffentlichkeit sehen wollte.“
Die Branche war so wertvoll und gleichzeitig für Produktentwickler so unattraktiv.
Alexis Ohanian, Reddit
Für Insider der Logistikbranche ist jedes Interview und jeder Fernsehauftritt eher ein Beweis für Petersens Opportunismus. „Flexport hat sich in der Branche viele Feinde gemacht“, sagt ein erfahrener Vertreter der Sparte, der nicht genannt werden möchte, weil er befürchtet, Geschäfte mit Petersen zu verlieren. Aber niemand kann Petersens Effektivität bestreiten. Während Petersen also Flexport in Position bringt, um in die Offensive zu gehen, wenn die Schifffahrtswelt wieder in die Normalität (wie vor der Pandemie) zurückkehrt, ist er bestrebt, die Zweifler zum Schweigen zu bringen. „Wenn wir Probleme für Flexport lösen können, können wir auch Probleme für die ganze Welt lösen“, sagt er. „Wir haben ein gutes Gefühl. Die Menschen sollten an uns glauben.“
Ryan Petersen wuchs in Bethesda, Maryland, direkt an der Umgehungsstrasse von Washington, D. C., auf. Seine Mutter, eine Biochemikerin, leitete ein Unternehmen, das Firmen bei der Einhaltung von Lebensmittelsicherheitsvorschriften unterstützte. Sein Vater war Ökonom der Regierung, der ein Programmierunternehmen betrieb. Petersens älterer Bruder David blieb die ganze Nacht auf, um eine frühe Online-Videospielcommunity aufzubauen und zu verwalten. Ryan aber zog ein Auslandsstudium in Spanien und Freiwilligenarbeit in El Salvador vor.
Nach seinem dreisprachigen Abschluss (Englisch, Spanisch und Portugiesisch) in Wirtschaftswissenschaften an der University of California, Berkeley, im Jahr 2002 strebte Petersen zunächst erfolglos eine Karriere im globalen Mikrokreditgeschäft an. Er kaufte mit seinem Bruder David Schmuck aus China ein, um ihn weiterzuverkaufen, oder Führerscheine, die auf „Elvis Presley“ ausgestellt waren. Nachdem sie einen Container mit Motorrollern gewinnbringend auf Ebay verkauft hatten, stiegen sie ins Motorräder- und Ersatzteilegeschäft ein. Im Jahr 2005 zog Petersen dann für zwei Jahre nach China, um die Produkte aus erster Hand zu beschaffen – ein Job, der den Brüdern als Inspiration für ihr nächstes Unternehmen, eine Suchmaschine für weltweite Versandmanifeste, diente. Die Firma bauten die Brüder mit Davids College-Zimmergenossen auf, während Ryan die Columbia Business School besuchte. Importgenius.com war innerhalb weniger Jahre profitabel und erwirtschaftet auch heute noch Millionenbeträge. Aber das Duo hatte grössere Ambitionen: Als David 2013 beim Accelerator Y-Combinator für ein auf die Baubranche ausgerichtetes Start-up angenommen wurde, schnappte sich Ryan eine Luftmatratze und zog mit ins „Boot Camp“.
Der junge Petersen hinterliess einen bleibenden Eindruck bei Paul Graham, dem Mitbegründer des Accelerators, der sich für den globalen Handel interessierte. Jahrelang hatte Petersen an einer anderen Idee getüftelt, dem „Turbotax für Zollpapiere“, um Waren über die US-Grenze zu befördern. Als er schliesslich im März 2013 die Genehmigung dafür erhielt, stellte er seine Start-up-Idee Flexport im Oktober auf einer Veranstaltung mit 2.000 Teilnehmern auf der Bühne vor Graham vor. Petersen wurde als einer der letzten Gründer unter Grahams direkter Mentorenschaft in die YC-Gruppe 2014 aufgenommen. Er stach einfach heraus.
Flexport sammelte schnell vier Mio. US-$ von einer Schar namhafter Unternehmen ein. Der Mitbegründer von Reddit, Alexis Ohanian, der damals Partner von YC war, investierte zusammen mit dem Star der Forbes Midas List, Garry Tan. „Die Branche war so wertvoll und gleichzeitig für Produktentwickler so unattraktiv“, sagt Ohanian. „Kein 21-jähriger Student liegt nachts wach und sagt: ‚Ich muss das nächste Flexport bauen.‘“
Petersen erkannte, dass die Kunden sich eine Art Onlinedestination wünschten, die sich um die Zollabwicklung und ihr grösstes Anliegen kümmerte: die Frachtweiterleitung. Die etablierten Unternehmen verliessen sich immer noch stark auf das Hin- und Herschicken von Faxen oder PDFs oder auf die „Fracht-E-Mail-Weiterleitung“. Innerhalb weniger Monate hatte Flexport eine funktionierende cloudbasierte Version seiner Software zusammengebastelt.
Als Thiel und Founders Fund 2015 eine Serie-A-Investition in Höhe von 20 Mio. US-$ tätigten, präsentierte sich Flexport als digitaler Spediteur im neuen Gewand. Die Schifffahrt durchlebte kurz darauf eine ihrer regelmässig auftretenden globalen Krisen, als die siebtgrösste Reederei der Welt Konkurs anmeldete und Schiffe in chinesischen Häfen beschlagnahmt wurden. Die Turbulenzen waren gut für Flexport – das Unternehmen zog Aufträge an Land, einfach, indem es zuverlässig auftauchte. Aber diese Krise war auch eine Warnung: Eine Störung des Handels mit China könnte das Kerngeschäft von Flexport zerstören.
Als Thiel öffentlich seine Unterstützung für Donald Trump ankündigte, der sich während seiner Präsidentschaftskampagne für neue hohe Zölle gegen China einsetzte, beging Petersen eine Start-up-Sünde: Als er auf einer Konferenz im Juni 2016 auf der Bühne gefragt wurde, ob er immer noch Thiels Geld annehmen würde, wenn er wüsste, dass dieser einen Politiker unterstützt, der hart gegen den Handel mit China vorgeht, schoss Petersen aus der Hüfte: „Wahrscheinlich nicht. Es kommt darauf an, wie verzweifelt wir wären.“ Bald darauf telefonierte er mit Thiel, um sich zu erklären. Die Schadensbegrenzung funktionierte. Ein paar Monate später investierte Thiel erneut.
Zu diesem Zeitpunkt war Petersen klar, dass Flexport zwar schnell wuchs, der Logistikmarkt aber kein Markt war, auf dem ein stürmischer Newcomer den Sieg davontragen konnte. Aber als sich der Umsatz von Flexport verdoppelte und erst 200 Mio., dann 400 Mio. US-$ erreichte, und Petersen weiter Niederlassungen in Häfen von Hamburg bis Shenzhen eröffnete, wurde Softbank auf ihn aufmerksam. Im Januar 2019 setzte sich Petersen mit Masayoshi Son an den Tisch – 45 Minuten später hatte er eine Zusage über eine Mrd. US-$ in der Tasche.
„In diesem Jahr hat jedes Team alles bekommen, was es wollte“, sagt Petersen. Doch drei Tage, nachdem die zweite Hälfte des Geldes überwiesen worden war, veröffentlichte das von Softbank unterstützte Wework seinen unglücklichen Börsenprospekt. Der überlebensgrosse Mitbegründer von Wework, Adam Neumann, war innerhalb weniger Wochen von der Bildfläche verschwunden. Die Zehn-Mrd.-US-$-Investition von Son hing damit am seidenen Faden. Für Petersen änderte sich die Lage schnell: Nachdem er bereits die ersten 500 Mio. US-$ von Softbank ausgegeben hatte, wurde ihm klar, dass er den Kurs ändern musste. Die gecharterten Flugzeuge wurden eingestellt; Flexport würde ab sofort versuchen, ein rentables Unternehmen zu werden.
Viel Schaden war allerdings bereits angerichtet worden. Das aggressive Fundraising von Flexport – das Unternehmen hat bis heute mehr als zwei Mrd. US-$ eingeworben – bedeutete eine Verwässerung für Petersen persönlich, der heute nur noch 9 % seines Unternehmens besitzt, obwohl er keine Mitgründer hat. Und im Februar 2020, als Lockdowns in China Auswirkungen auf die gesamte Lieferkette hatten, geriet Petersen in Panik. Er entliess 50 Mitarbeiter, etwa 3 % der Belegschaft von Flexport. Reporter, die nach einem allgemeinen Trend bei Softbank-Unternehmen suchten, stürzten sich auf diese Nachricht. Die Kürzungen waren zudem ineffizient, da sie die Moral der Mitarbeiter zerstörten, aber nur minimale Einsparungen brachten. Petersen bezeichnet dies heute als seinen bisher grössten Fehler als CEO.
Als sich die Pandemie ausweitete, fanden der angeschlagene Leiter und die Belegschaft von Flexport jedoch schnell eine Aufgabe. Petersen hatte das Projekt, auf das er am meisten stolz ist, den gemeinnützigen Zweig Flexport.org, im Jahr 2017 ins Leben gerufen, um Nichtregierungsorganisationen vergünstigte Frachten anzubieten und gemeinnützige Organisationen beim Versand von gespendetem Material zu unterstützen. Zu Beginn verschickte die Organisation 350.000 Masken aus den USA nach Wuhan. Als das Virus die Region erreichte, sammelte Flexport weitere Zehntausende Masken ein, um sie an lokale Krankenhäuser weiterzuleiten. Bald arbeitete ein Team von 25 Mitarbeitern in China für die Hilfsmassnahmen von Flexport. Petersen begann erneut, Flugzeuge zu chartern, diesmal für einen guten Zweck. „Ich glaube, wir haben drei Monate lang nicht einmal tief durchgeatmet“, sagt er.
Flexport und sein Markt sahen im vergangenen Oktober ganz anders aus, als Petersen mit Stripe-Mitbegründer und -CEO Patrick Collison zu Abend ass. Im Laufe des Jahres 2021 übertraf Flexport seine eigenen Prognosen und erzielte mit einer Verdopplung der Einnahmen einen überraschenden Gewinn. Aber da die Quelle dieses Geldes Kunden sind, die viel Geld bezahlen und immer noch mit Lieferverzögerungen zu kämpfen haben, war Petersen nicht zum Feiern zumute. Collison indes war neugierig, wie der Rückstau in den kalifornischen Häfen im Vergleich zu den Engpässen in seiner Welt der Onlinezahlungen aussah. Petersen wurde klar, dass er es nicht wirklich wusste. Also flog er nach Los Angeles, um sich selbst ein Bild zu machen.
Am Tag nach seiner gecharterten Bootstour durch den Hafen von Long Beach teilte Petersen seine Erkenntnisse auf Twitter. Er skizzierte einige schnelle Lösungen, darunter eine höhere Stapelung von Containern und den Bau eines neuen Kopfbahnhofs. Petersens Beitrag wurde innerhalb kürzester Zeit mehr als 15.000-mal geteilt, unter anderem von Coinbase-Milliardär und -CEO Brian Armstrong. Der Bürgermeister von Long Beach, Robert Garcia, leitete die Liste an seine Mitarbeiter weiter; am nächsten Tag lockerte die Stadt die Beschränkungen für das Stapeln von Containern. Petersens Telefon läutete daraufhin unentwegt. Teams von Axios auf HBO und 60 Minutes baten ihn, sie auf ihren eigenen Hafenrundfahrten zu begleiten. Für Flexport war es eine Marketing-Meisterleistung, obwohl Petersen schwört, dass das nicht seine Absicht gewesen war.
Für die meisten anderen in der Logistikbranche war das ein Ärgernis. „Wenn Ryan Petersen Interviews gibt, regen sich die Leute in der Branche in der Regel auf, weil er dazu neigt, die Dinge sehr zu vereinfachen. Er wirkt manchmal uninformiert“, sagt Robert Khachatryan, der 2007 im Grossraum Los Angeles die 55 Mitarbeiter zählende Spedition Freight Right Global Logistics gegründet hat. Das Stapeln von Containern habe nur begrenzte Auswirkungen, sagt Khachatryan. Petersens kühnere Vorschläge wie die Einrichtung eines staatlich geförderten Kopfbahnhofs blieben unangetastet. Das Gefühl, dass Petersen diese Lorbeeren nicht verdient hat, wiegt mehr als all die gute Presse, die er bekommt – seit Jahren argumentieren Skeptiker, dass die Software von Flexport wenig leiste. „Gehen Sie in die Büros von Flexport und Expeditors, einem 40 Jahre alten börsennotierten Spediteur mit einer Marktkapitalisierung von etwa 19 Mrd. US-$, und entfernen Sie dann alle Firmenlogos und Markenzeichen – Sie werden sehen, dass der Betrieb genau gleich aussieht“, behaupten Kritiker.
Vor sechs Jahren hatten diese Skeptiker grösstenteils recht. „Das ist einfach die Realität, wenn man ein neues Unternehmen in einem so grossen, komplizierten Geschäft ist“, sagt Ben Braverman, langjährige Flexport-Führungskraft und Petersen-Vertrauter. Die Kunden entschieden sich für Flexport nicht, weil Petersen das Rad neu erfunden habe, sondern weil die Software aus einer Hand ihr Leben vereinfache, sagt er.
Ein Beispiel ist der in San Francisco ansässige Schuhhersteller Rothy’s, seit 2017 Flexport-Kunde. Flexport verwaltet den Versand von 25 Produkten von einer Fabrik in China zu zwei Drehkreuzen in Kalifornien und Kentucky und kompensiert den ökologischen Fussabdruck des Unternehmens. Wirklich wertvoll seien jedoch die Trackingtools von Flexport, mit denen Marketingexperten und Filialleiter wüssten, wann sie neue Sendungen erwarten könnten, sagt Heather Skidmore Howard, COO von Rothy’s. „Ich würde uns beiden eine Eins plus in Bezug auf die Lieferung in einem wirklich schwierigen Jahr geben“, resümiert die Managerin.
Flexport testet derzeit ein neues Freemium-Service, das noch in diesem Jahr eingeführt werden soll und den Nutzern kostenlose Transparenz, CO2-Tracking und Nachrichtenübermittlung bietet, auch wenn sie keine Fracht mit Flexport abwickeln. Petersen plant ausserdem die Entwicklung eines Fulfillment-Produkts, mit dem Waren mit hoher Priorität – z. B. für Direct-to-Consumer-Marken – identifiziert und über eine virtuelle „HOV-Spur“ (HOV = High-Occupancy Verhicle Lane) schneller versandt werden können. „Flexport ist der endgültige Gewinner der nächsten Generation in diesem Bereich, Punkt!“, sagt David George, ein Investor in der Wachstumsphase, der die jüngste Finanzierungsrunde von Flexport im Auftrag von Andreessen Horowitz mitgeleitet hat. „Sie haben all diese Möglichkeiten, zu gewinnen“, fügt er hinzu. Petersen stimmt dem zu: „Ich sage immer, unser Verkaufsprozess ist wie das Spiel Battleship – man versenkt das Schlachtschiff nicht mit einer Stecknadel.“
Unsere Branche hält mich für einen Clown – was mich nicht weiter stört.
Ryan Petersen
Ryan Petersen (41) wuchs in Bethesda, Maryland, in einer Unternehmerfamilie auf. Seine Mutter leitete als Biochemikerin ein Unternehmen im Bereich der Lebensmittelsicherheit, sein Vater, Ökonom für die US-Regierung, leitete sein eigenes Programmierunternehmen. Petersen studierte Wirtschaftswissenschaften in Berkeley. 2013 präsentierte er Flexport im Accelerator Y-Combinator – und startete nach einer ersten Investition von Reddit-Gründer Alexis Ohanian in der Digitallogistik durch.
Text: Alex Konrad | Forbes US
Fotos: Jamel Toppin für Forbes; Noah Berger / AP