Mit dem FORBES-NEWSLETTER bekommen sie regelmässig die spannendsten Artikel sowie Eventankündigungen direkt in Ihr E-mail-Postfach geliefert.
Unter Serg Bell entwickelte sich Acronis zum wertvollsten Softwareunternehmen der Schweiz. Nun widmet sich Bell, der den CEO-Posten des mit 3,5 Mrd. US-$ bewerteten Cybersecurity-Unternehmens 2021 abgab, bereits seinem nächsten Coup: Unter dem Dach der neu gegründeten Constructor Group will er technische Universitäten von internationalem Renommee aufbauen. Doch Herkunft und Vermögen des Unternehmers sorgen immer wieder für Gesprächsbedarf.
Ganz plötzlich geht eine ohrenbetäubende Sirene los. Alle Beteiligten blicken sich irritiert um. Ein Rettungswagen? Feueralarm? Nein. Vielmehr werden an diesem Mittwoch alle Alarmsirenen in der gesamten Schweiz getestet. Es ist ein zutiefst analoges Ritual, das so gar nicht zur Tätigkeit des Unternehmens passt, in dessen Büro wir die Sirenen hören. Denn während die Schweiz wie jedes Jahr im Februar ihre Alarmsirenen testet, beschäftigt sich Acronis zwar auch mit Sicherheitssystemen, aber ausschliesslich im virtuellen Raum. Das Unternehmen hat sich mit seinen Lösungen zum wertvollsten Softwareunternehmen der Schweiz entwickelt, Bewertung: 3,5 Mrd. US-$.
In Schaffhausen sind wir wegen jenes Mannes, der Acronis gegründet hat: Serg Bell. Um den Mitgründer, Minderheitsaktionär und früheren CEO von Acronis ranken sich zahlreiche Gerüchte, denn der Seriengründer ist umtriebig – über zehn Unternehmen hat er bisher gegründet, kürzlich kamen zwei Universitäten dazu. Sein Vermögen, seine Herkunft, die Pläne für seine Unternehmen und Projekte: Über all das wird gerne spekuliert. Auch Bells Team stattet uns mit Informationen aus: Vor dem Interview wird uns gesagt, wie er tickt; worüber er gerne spricht, was er nicht mag. Wir werden auch gewarnt, dass er während Interviews gerne Multitasking betreibt und am Smartphone arbeitet, während er auf Fragen antwortet.
Als wir Bell wenig später in seinem Büro treffen – der Raum verfügt über mehrere Bildschirme und Fitnessgeräte und gleicht damit eher dem Set-up eines professionellen Gamers als einem Vorstandsbüro –, könnte der Gesprächspartner entspannter nicht sein. Zwar ist Serg Bell tatsächlich nicht ganz einfach zu interviewen – mehrmals sagt er etwa „Eigenartige Frage!“, nur um dann doch zu antworten –, doch er ist fokussiert, wach, interessiert und klar in seinen An- und Aussagen.
Bell hat zwei Hüte auf: 2021 gab er die Rolle als CEO von Acronis ab, seither führt der Deutsche Patrick Pulvermüller die Geschicke des Unternehmens. Bell selbst will sich nämlich verstärkt um seinen zweiten Hut kümmern: 2019 startete er das Schaffhausen Institute of Technology (SIT), das im gleichen Gebäude wie Acronis angesiedelt ist. 2022 folgte dann der Kauf der privaten Jacobs-Universität in Bremen. Beide Institutionen wurden kürzlich in Constructor University umbenannt und sind Teil der von Bell gegründeten Constructor Group, die auch die Töchter Constructor Technology und Constructor Capital aufweist.
Der Unternehmer, der aus einer Professorenfamilie stammt, einen Doktortitel trägt und Schätzungen zufolge über 200 Patente selbst eingereicht hat, hatte immer eine Affinität zur Wissenschaft. Sein H-Index – eine Masszahl für die Wahrnehmung von Wissenschaftlern in Fachkreisen – liegt bei 40. Zum Vergleich: Stephen Hawking lag bei 75, der Rekordwert ist 316. Dennoch: Seine Karriere machte Bell als Unternehmer. Warum startet jemand, der unternehmerisch und somit finanziell so ziemlich alles erreicht hat, eine Universität? Ist es seine Leidenschaft? Bell: „Ich habe keine Leidenschaft. Ich mache einfach Dinge, die die richtige Kombination aufweisen aus: Gutes tun, Spass haben und Wohlstand erwirtschaften. Bei Acronis geht es vorrangig darum, Gutes zu tun und damit Geld zu verdienen, weniger um den Spass. Bei der Constructor Group stehen das Gute und der Spass im Vordergrund, da geht es weniger darum, viel Geld zu verdienen.“
Doch bei all seinen Erfolgen begleiten Bell stets hochgezogene Augenbrauen – denn aufgrund seiner russischen Herkunft (Bell wurde in Sankt Petersburg geboren, ist aber seit 2001 Staatsbürger seiner Wahlheimat Singapur) werden seine Schritte in Westeuropa und den USA mit Argusaugen verfolgt. Ein Bericht der Washington Post untersuchte etwa mögliche Beziehungen Bells – sowie anderer russischstämmiger Tech-Unternehmer – zum Kreml. Doch was ist dran an solchen Gerüchten? Und was plant Bell unabhängig mit Acronis und der Constructor Group?
Wohlhabend war Bell zwar schon vor Acronis, zuletzt hatte er das von ihm gegründete Unternehmen Parallels Inc. verkauft; das Cybersecurity-Unternehmen Acronis hat ihn aber in neue Sphären gehoben. Und das, obwohl das Kerngeschäft nicht wahnsinnig glamourös ist, wie Bell erzählt: „Wir sind quasi Klempner“, so Bell. „Die Leute interessieren sich nicht grossartig dafür, wie ihre Toilette funktioniert, solange sie es tut. Genauso ist es bei Unternehmen mit IT-Systemen.“
Wichtig ist Bell, dass Acronis nicht so sehr ein Cybersecurity-Unternehmen sei als vielmehr eines im Bereich Cyber Protection. Denn Verbrechen gibt es im Netz zwar haufenweise, sie machen aber nur rund 30 % der Tätigkeit von Acronis aus. „Wenn ein junger, fitter, starker Mensch von einem Dieb angegriffen wird, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihm seine Tasche gestohlen wird, nicht so hoch wie bei einem alten oder schwachen Menschen. Genauso sehen wir die IT-Systeme unserer Kunden: Es geht darum, sie auf dem neuesten Stand zu halten, damit Attacken, wenn sie passieren, weniger Aussicht auf Erfolg haben.“ Acronis nennt dies „cyberfit“.
Die Acronis-Produktpalette zieht sich von Data Protection über Backup- und Disaster-Recovery- bis hin zu Cloud-Lösungen. Und der Ansatz scheint zu funktionieren: Acronis ist in Schaffhausen und Singapur angesiedelt, hat über 2.000 Mitarbeiter in 45 Niederlassungen und 2022 in einer Finanzierungsrunde 250 Mio. US-$ eingesammelt – bei einer Bewertung von 3,5 Mrd. US-$. Zu den bisherigen Investoren gehören die Finanzriesen Blackrock und Goldman Sachs sowie das Private-Equity-Unternehmen CVC, das etwa auch in Breitling investiert ist. Rund 5,5 Millionen Privatkunden sowie 500.000 Unternehmen setzen auf Acronis.
Belastbare Zahlen zum Umsatz gibt es kaum. Gegenüber der Handelszeitung sagte Bell 2021, dass der Acronis-Umsatz „zwischen 200 und 600 Millionen US-$ betrage“. Angesichts der jüngsten Bewertung kann man wohl eher von 600 Mio. US-$ ausgehen, obwohl der Umsatz-Multiple für Cybersecurity-Unternehmen selbst dann noch eher niedrig wäre. Die Tendenz ist jedenfalls klar steigend, denn Covid war ein Boost für Acronis – die Nachfrage nach neueren Lösungen, etwa Acronis Cyber Protect, wuchs während der Pandemie um 100 %. Und das Wachstum wird wohl weitergehen: Das Beratungshaus McKinsey schätzt, dass 2021 weltweit rund 150 Mrd. US-$ für Cybersecurity ausgegeben wurden. Laut der Studie könnte diese Zahl aber auf 1,5 bis maximal zwei Billionen US-$ wachsen, da erst rund 10 % des potenziellen Markts erschlossen seien.
Unter Acronis’ Kunden befinden sich Fussballklubs wie FC Arsenal und Manchester City. Laut Washington Postkaufte aber auch die US-Regierung, ganz konkret die Pentagon Federal Credit Union, Lösungen von Acronis. Und genau das, gepaart mit der Tatsache, dass Bell als Serguei Beloussov in Russland geboren wurde und dort aufgewachsen ist, rief die US-Geheimdienste auf den Plan. Die Situation ist etwas undurchsichtig: Laut der Zeitung lobte Putins Sondergesandter für digitale Entwicklung, Dmitri Peskow, Acronis 2019 für die Dienste, die das Unternehmen für Russland erbringe. Zudem erwähnte Peskow Bells Rolle im Aufbau eines Quantenzentrums in Russland. Auch die Tatsache, dass der ehemalige Abgeordnete der Putin-Partei „Einiges Russland“, Robert Schlegel, in Deutschland für Acronis arbeitete, wurde in dem Artikel thematisiert. Acronis liess Schlegels Nähe zum Kreml extern untersuchen – die Untersuchung fand keine verbrecherische Handlung Schlegels und schlussfolgerte, dass dieser wohl nicht die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hätte, wenn er für den Geheimdienst ein Risiko darstellen würde. Schlegel trat von seinem Posten zurück, scheint aber bis heute beratend für Acronis tätig zu sein. Bell selbst dementiert jegliche Nähe: Seit 2017 sei er nicht in Russland gewesen, so der Unternehmer, Acronis habe sich aus dem Markt zurück- und Mitarbeiter von dort abgezogen. Es gebe keine geschäftlichen Beziehungen in das Land. Im Februar 2022 – und noch mehrmals seitdem – äusserte sich Bell auf Twitter zudem kritisch zum Krieg Russlands gegen die Ukraine und schrieb unter anderem: „I am categorically against any war.“ Und: „This is totally evil and totally stupid to kill human people by human people.“
Ebendiese Verbindungen führten dazu, dass Bells Einstieg als Investor bei der Jacobs University in Bremen genau verfolgt wurde. Die private Institution, die 2001 als International University Bremen mit grossen Hoffnungen gestartet war und vom Land Nordrhein-Westfalen bis 2017 tatkräftig (zuletzt mit drei Mio. € pro Jahr) unterstützt wurde, blieb stets hinter den Erwartungen zurück. Zwar konnte das Haus einige respektable Ergebnisse in Rankings erzielen, finanziell funktionierte das Projekt aber nie – und das, obwohl die Studiengebühren mit 20.000 € deutlich höher sind als an anderen privaten Universitäten in Deutschland.
Die Jacobs-Familie, die ihr Vermögen mit verdient hatte, übernahm die Institution nach dem Auslaufen der Zuwendungen durch das Land und benannte sie in Jacobs University um. Im Jahr 2020 verkündete die Familienstiftung dann jedoch ebenfalls, dass die Zahlungen eingestellt würden. Die Anteile an der Universität wurden an einen Verein übergeben, bevor das von Bell gegründete Schaffhausen Institute of Technology die Jacobs University 2021 übernahm und 2022 in Constructor University umbenannte.
Schon das Interesse von Bell erregte die Gemüter. Die Motive des Investors waren Land und Bund unklar, ein Ausverkauf wurde als Teufel an die Wand gemalt. Doch Alternativen waren inexistent und die Summen, die Bell an Investitionen versprach, überzeugten letztendlich die grössten Skeptiker. Der Kaufpreis selbst lag zwar nur bei 22.000 €, insgesamt will Bell aber rund 50 Mio. € am Standort investieren – die Hälfte davon bereits bis Ende 2024. Bell betont, dass er nur an nachhaltige Philanthropie glaube, und zitiert Konfuzius: „Gib einem Mann einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du ernährst ihn für sein Leben.“ Er will also Projekte schaffen, die nachhaltig und selbstständig funktionieren können – eine kluge Idee, wenn man sich die Historie der Universität ansieht, die er übernommen hat. „Wenn das nicht gegeben ist“, so Bell, „dann muss man ständig Geld zuschiessen.“
In Bremen sollen in den nächsten zehn Jahren 5.000 Studierende Platz finden, zudem soll 2024 ein Quantenzentrum gebaut werden – sofern die Baukosten sich wieder normalisieren, wie Bell gegenüber dem Weser Kurier betont. Durch einen an die Institution angedockten Science Park will Bell auch ein Umfeld schaffen, in dem Tech-Start-ups entstehen und wachsen können. Dass der Eigentümer der Universität dann auch Anteile an den Jungunternehmen halten und im Falle von deren Erfolg mitprofitieren könnte, erscheint logisch.
Doch auch einen anderen Verwendungszweck könnte das Investment haben: Recruiting. Laut dem Beratungsunternehmen Korn Ferry entgehen Unternehmen bis 2030 weltweit rund 8,5 Billionen US-$ an Umsatz, weil gut ausgebildete Arbeitskräfte nicht in ausreichendem Mass vorhanden sind. Es wäre doch nur logisch, wenn Acronis also die besten Studenten aus Schaffhausen und Bremen ins eigene Unternehmen lotsen würde, oder?
Doch Bell winkt ab: „Das ist vielleicht zu 0,1 % unser Fokus, 99,9 % fokussieren sich auf etwas anderes. Acronis ist ein grossartiges Unternehmen, aber wir wollen mit der Constructor Group Software für jedes Land, jedes Unternehmen, jede Universität entwickeln.“
Es geht uns darum, die IT-Systeme unserer Kunden auf dem neuesten Stand zu halten, damit sie bei Attacken gut geschützt sind.
Serg Bell
Serg Bell wurde 1971 als Serguei Beloussov im heutigen Sankt Petersburg in der Sowjetunion geboren. Bell stammt aus einer Professorenfamilie und studierte Physik am Moscow Institute of Physics and Technology. Seinen Masterabschluss in Physik sowie Elektrowissenschaften absolvierte er im Anschluss, bevor er 2007 sein Doktorat in Computerwissenschaften erlangte.
Bereits 1994 zog er nach Singapur, seit 2001 ist er Staatsbürger seiner Wahlheimat – eine Tatsache, die er und sein Team regelmässig betonen. 1999 gründete Bell Parallels Inc., ein Unternehmen, das es unter anderem ermöglichte, das Windows-Betriebssystem auf dem Mac zu verwenden. 2018 wurde das Unternehmen an das kanadische Unternehmen Corel (heute Alludo) verkauft. Der Kaufpreis wurde nicht bekannt gegeben, Techcrunch gibt jedoch an, es sei „kein grosser“ Exit gewesen. Doch nicht nur politische Beziehungen, auch Bells Vermögen ist immer wieder Gegenstand von teils wilden Spekulationen. Die Ursprünge der 600 Mio. US-$, die regelmässig in Medien kolportiert werden, konnte Forbes nicht nachverfolgen. Vielmehr liegt Bells Nettovermögen laut Forbes-Schätzung bei rund 800 Mio. US-$.
Und dieses Vermögen könnte weiter wachsen – denn ein Acronis-Börsengang steht im Raum. Es ist eine jener wenigen Fragen im Gespräch, bei denen Bell ein wenig genervt reagiert: „Ich beantworte diese Frage seit gefühlt 20 Jahren – erst mit Parallels, jetzt mit Acronis. Die Möglichkeit eines IPOs besteht immer. Aber das ist nicht die Mission unseres Unternehmens, sondern höchstens ein Werkzeug, um diese zu erfüllen.“ Es sei am Vorstand, diese Entscheidung zu treffen; er selbst sei nur ein einfacher Aktionär, so Bell. Wann ein solches IPO passieren könnte, sagt Bell nicht – nur, dass er sich die USA, Schweiz und Singapur als Orte für das Listing vorstellen kann.
Doch die Frage bleibt: Was treibt Bell an? Denn so sehr er sich gegenüber Acronis im Interview wertschätzend äussert, schwingt doch mit, dass er Grösseres erreichen will. Vielleicht ist es doch der Antrieb, den die Constructor Group auf ihrer Website formuliert: „The main goal of the Constructor ecosystem is to address the most pressing world challenges of today.“ Darunter fallen die Überthemen Armut und soziale Ungleichheit, Weltraum und Universum, Umwelt und Nachhaltigkeit, Krieg und Gewalt sowie Altern und Krankheiten.
Um das zu schaffen, verfolgt Bell eine langfristige Perspektive, wie er sagt – bevor er zum einzigen Mal im Interview tatsächlich sein Telefon zückt. „Was ist die älteste Universität der Welt?“, fragt er plötzlich. Die Universität in Bologna, die über 1.000 Jahre alt ist, so Bell nach einer kurzen Suche. Universitäten müssten nachhaltig aufgesetzt werden, so Bell, und dürfen nicht nur kurzfristig gedacht sein. Auf unsere Antwort, dass es auch Unternehmen gebe, die so alt und noch aktiv seien, nickt er kurz. „Aber nicht sehr viele. Es gibt jedoch sehr viele Universitäten, die 1.000 Jahre alt sind. Also muss das doch ein gutes Investment sein, oder?“
Es gibt viele Universitäten, die über 1.000 Jahre alt sind. Also muss das doch ein gutes Investment sein, oder?
Serg Bell
Serg Bell wurde 1971 in Sankt Petersburg geboren. Er studierte Physik, Elektrotechnik und Computerwissenschaften und gründete danach mehrere Unternehmen, darunter Parallels Inc. und Acronis. Bell ist Eigentümer der Constructor University in Schaffhausen und Bremen.
Fotos: Lukas Lienhard