Mehr kundennähe, mehr profit

Conny Kalcher hat bei Zurich Insurance eine neue Ära eingeläutet: kundenorientiert, digital, menschennah. Doch lässt sich eine traditionsreiche Versicherung wirklich neu erfinden, ohne an Effizienz oder Ertrag einzubüssen?

Es ist ein strahlend schöner Tag in Zürich, und durch die raumhohen Fenster der Zentrale von Zurich Insurance fällt viel Licht. Innen gibt sich der 2021 neu eröffnete „Quai Zurich Campus“ alle Mühe, nicht mehr an einen verstaubten Versicherungskonzern, sondern ein modernes Technologieunternehmen zu erinnern: Offene Arbeitsplätze, viel Glas, Pflanzen und Meeting-Hubs sollen moderne Arbeit ermöglichen. Diesen Eindruck verstärkt Conny Kalcher, Chief Customer Officer, in einem Meetingraum sitzend mit ihren Ausführungen – die Dänin ist seit 2019 als Chief Customer Officer (CCO) dafür verantwortlich, den Zürcher Milliardenkonzern freundlicher, nahbarer und zugänglicher für Kunden zu machen. „Früher waren wir technisch sehr korrekt – aber oft zu distanziert im Umgang mit unseren Kundinnen und Kunden“, sagt sie. „Das wollten wir ändern.“

In den letzten sechs Jahren bei Zurich hat Kalcher das Unternehmen auf einen ­klaren Kurs aus Empathie, Digitalisierung und Kunden­nähe gebracht – einen Kurs, der nicht nur Soft Skills betrifft, sondern handfeste Geschäfts­ergebnisse liefern soll. 2024 erzielte Zurich einen Betriebsgewinn (BOP) von 7,8 Mrd. US-$, verwaltete ­Kapitalanlagen in Höhe von 161 Mrd. US-$ und betreute über 75 Millionen Kundinnen und Kunden weltweit. Die Nettomittelzuflüsse lagen bei 7,1 Mrd. US-$, die Solvenzquote (SST) lag bei soliden 252 %. Insgesamt wurden Schäden in Höhe von 27,9 Mrd. US-$ reguliert – ein Ausmass, das zeigt, wie operativer Erfolg und Kundenzentrierung zunehmend Hand in Hand gehen.

Und auch die für Versicherungen mittlerweile wichtigste Kennzahl entwickelt sich positiv: Die Combined Ratio ist eine zentrale Kennzahl in der Versicherungswirtschaft und misst das Verhältnis von Schadens- und Betriebskosten zu den eingenommenen Prämien – liegt sie unter 100 %, arbeitet der Versicherer profitabel aus dem Kerngeschäft. 2024 lag Zurich bei 94,2 %; bei ­Kalchers Antritt lag der Wert noch bei 96,4 % – 2020 lag man sogar bei 98,4 %.

Die Geschäftszahlen stimmen, aber für Kalcher ist entscheidend, was hinter ihnen steckt: „Ein zufriedener Kunde bleibt nicht nur ­länger – er schliesst mehr ab und empfiehlt uns weiter.“ Mit über 60.000 Mitarbeitern weltweit hat Kalcher eine Organisation in Bewegung gesetzt, die jahrzehntelang auf Produktlogik, Prozess­effizienz und Expertenwissen gebaut war – und nicht unbedingt auf Nähe und Relevanz. Doch genau das erwartet die nächste Generation von Versicherungskunden. „Die Bedürfnisse haben sich stark verändert – besonders bei der Gen Z“, sagt Kalcher: „Diese jungen Menschen wollen verständliche Produkte, digitale Erlebnisse und ein Unternehmen, das mit ihnen spricht – nicht über sie.“ Tatsächlich ist der Wandel greifbar: Zurich verzeichnet ein starkes Wachstum auf digitalen Kanälen – auf Tiktok haben sich die Follower­zahlen seit 2023 verachtfacht. Und der Markenwert? Der ist laut Brand Finance Report 2024 um 35 % gestiegen – auch, weil man die klassische Blau-Weiss-Ästhetik durch warme Farben und „echte“ Bilder ersetzt hat.

Als Conny Kalcher 2019 bei Zurich Insurance startete, war das Unternehmen weit davon entfernt, als kundenzentriert zu gelten. Die Ver­sicherung, deren Ursprünge bis ins Jahr 1872 zurückreichen, war effizient, solide – und in ihrer Kommunikation vor allem eines: korrekt. „Wir hatten klare Prozesse und gut strukturierte Produkte“, sagt Kalcher rückblickend. „Aber es fehlte an Wärme, an Empathie, an echter Ver­bindung zum Kunden.“

Dabei kam Kalcher mit genau diesem Auftrag: eine neue Haltung ins Haus zu tragen. Sie war nicht die klassische ­Versicherungsexpertin – zuvor hatte die Dänin über zwei Jahrzehnte bei der Aushängemarke ihres Heimatlands verbracht: Lego. Das Unternehmen steht wie kaum ein anderes für emotionale Bindung, Markenliebe und kreative Nutzererlebnisse. Zuletzt als Vice President für Brand Development und Marketing­management zuständig hatte Kalcher massgeblich daran mitgewirkt, die davor kriselnde Spielzeugmarke neu zu positionieren: „2003 waren wir mit Lego am Tiefpunkt“, sagt sie. „Wir hatten den Bezug zum Kunden verloren – und dachten, Fortschritt gehe nur noch über Produktinnovationen. Erst als wir uns auf die Marke und die Community besannen, kam die Wende.“ Die Lektion von damals hat sie mitgenommen: Kundenzentrierung beginnt nicht im Produkt – sondern in etwas Tiefergehendem. Manche würden es wohl als „Haltung“ bezeichnen.

Der erste Schritt bei Zurich war strukturell: Mit ihrem Antritt gründete Kalcher das sogenannte „Customer Office“, eine zentrale Einheit, die sich ausschliesslich mit der Kundenerfahrung beschäftigen sollte. Von dort aus begann sie, gemeinsam mit dem Führungsteam, ein Umdenken im gesamten Konzern anzustossen. „Mir war klar: Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, müssen wir alle Mitarbeitenden mitnehmen – weltweit“, so Kalcher.

Das bedeutete auch: viele Gespräche, viele Widerstände. „Es war nicht immer einfach, die Belegschaft von der Relevanz unserer neuen ­Tonalität oder von Empathie-Trainings zu überzeugen“, sagt Kalcher. Vor allem langjährige Mitarbeitende hätten anfangs skeptisch auf die „weichen“ Themen reagiert – aus Sorge, dass sie den unternehmerischen Fokus verwässern könnten. „Aber genau das Gegenteil ist eingetreten“, so Kalcher, „wir haben die Prozesse nicht ver­wässert, sondern sie geschärft, weil wir uns auf den Menschen konzentriert haben.“

Doch was sich so nüchtern anhört, war in Wahrheit ein Kulturbruch. Die Marke ­Zurich sollte nicht nur visuell modernisiert, sondern auch emotional anschlussfähig werden. Kalcher und ihr Team hinterfragten die gesamte Customer Journey, von der Sprache in Vertrags­dokumenten bis zur Bildsprache in Werbe­kampagnen. „Wir haben zu sehr von innen nach aussen gedacht“, sagt sie. „Heute fragen wir zuerst: Was braucht der Kunde?“

Kundenorientierung ist kein Soft-Thema, das ist ein knallhartes Geschäft.

Conny Kalcher

Neben Empathie-Trainings wurde eine radikale Überarbeitung der schriftlichen Kommunikation gestartet. Ziel: weniger Fachjargon, mehr Klartext. „Statt zuerst nach der Versicherungsnummer zu fragen, beginnen wir in der Hotline heute mit der Frage: ‚Wie können wir Ihnen helfen?‘“ Bis Ende 2025 sollen 60 % der elementaren Kundenkommunikation vereinfacht worden sein – ein ambitioniertes Ziel, das intern nicht nur Begeisterung, sondern auch Widerstand ausgelöst hat. Denn nicht alle begrüssen den Tonwechsel – und nicht jeder lässt sich freiwillig coachen, wenn er oder sie seit 20 Jahren im System funktioniert.

Gleichzeitig ging Kalcher die Marke selbst an. Die neue Bildwelt zeigt echte Menschen, nicht Models; die Farben wurden wärmer, dyna­mischer. Und die Art, wie Zurich kommuniziert, orientiert sich heute eher an Tiktok als an TV-Spots. Kalcher: „Die heutige Welt ist bewegt, ­visuell, direkt – das muss sich auch in einer Ver­sicherung widerspiegeln.“ Dass dabei auch der Verdacht mitschwingt, man folge dem Zeitgeist eher als der Substanz, ist Kalcher bewusst. Doch sie bleibt dabei: „Unsere Kommunikation soll das widerspiegeln, was wir wirklich sind – nicht nur, was wir sein wollen.“

Die Zahlen zeigen in die richtige Richtung: Die App „Zurich One“ bündelt Services, die früher über mehrere Anwendungen verteilt waren. Auf Instagram haben sich die Impressions seit 2021 verachtfacht, auf Tiktok ist die Followerzahl seit 2023 um das Neunfache gewachsen. Intern spricht man vom „Zurich-Öko­system“ – doch hinter dem Buzzword steht ein ernst gemeinter Wandel.

Um diesen auch messen zu können, hat Zurich eine neue Kennzahl eingeführt: Net Revenue Retention, kurz NRR. Sie misst, wie viel Umsatz mit Bestandskunden gehalten oder ausgebaut wird – eine Metrik, die den reinen Fokus auf Neukundengewinnung ablöst. „Allein neue Kunden zählen? Das reicht nicht mehr“, sagt Kalcher. „Wir müssen verstehen, was sie wirklich brauchen – und wann.“ Wie hoch die NRR aktuell ist, will Kalcher im Interview freilich nicht verraten.

Die NRR erlaubt jedenfalls eine klare ­Verbindung von Kalchers Arbeit zur Bilanz. „Marketing wird oft unterschätzt, weil es nicht sofort messbar ist“, so Kalcher. „Aber die Fähigkeit, ­einen Kunden länger zu halten und seinen Bedarf ­besser zu verstehen, zahlt sich direkt für unser Geschäft aus.“

Doch obwohl das Nutzerfeedback hervor­ragend ausfällt, ist die technische Konsoli­dierung noch nicht abgeschlossen. „Wir sind noch nicht da, wo wir hinwollen“, gibt Kalcher zu. Ziel sei es, alle Services nahtlos zu verknüpfen – vom Vertragsabschluss über die Beratung bis zur Schadensmeldung. „Das dauert, aber wir inves­tieren konsequent“, so die CCO.

Ein weiterer Baustein für die Zukunft: künstliche Intelligenz (KI). Noch steckt der Einsatz bei Zurich in den Anfängen – etwa bei der automatisierten Schadensbearbeitung oder der Optimierung von Kundenanfragen. Aber Kalcher sieht darin kein Effizienztool allein, sondern eine Chance für echte Nähe: „Wenn wir KI nutzen, um Anliegen schneller und personalisierter zu bearbeiten, stärken wir das Vertrauen“, sagt sie. Gleichzeitig mahnt sie zur Vorsicht: Empathie lasse sich nicht automatisieren. „KI darf niemals den menschlichen Blick ersetzen – sie muss ihn unterstützen.“ Die Kunst wird sein, Skalierbarkeit und Sensibilität in Einklang zu bringen.

Kuschelkurs“ wurde der Strategie­wechsel in den Medien genannt – Kalcher nennt ihn „konsequent“. In den kommenden drei Jahren will Zurich noch weiter gehen. Vier strategische Schwerpunkte stehen im Fokus: der Ausbau des Vorsorgegeschäfts, neue Lösungen für KMUs, ein stärkerer Fokus auf Mid-Market-Firmen­kunden – und die Integration aller digitalen Services in ein konsistentes Ökosystem. Ziel: Zurich soll führend in Sachen Kundenorientierung werden – innerhalb der gesamten Branche.

Kalcher weiss, dass dieser Anspruch kein Selbstläufer ist. Aber sie wirkt, als hätte sie noch viel vor. „Wir haben viel erreicht – aber die Reise ist noch nicht zu Ende“, sagt sie, steht auf und lässt den Blick durch die offene Bürofläche schweifen.

Conny Kalcher ist seit 2019 Chief Customer Officer der Zurich Insurance Group. Zuvor war sie über 30 Jahre bei Lego tätig, zuletzt als Vice President Marketing & Consumer Communications Experience. Bei Zurich verantwortet sie den globalen Bereich Customer Office mit Fokus auf Markenführung, Kundenstrategie und Kommunikation.

Fotos: Kilian Kessler

Klaus Fiala,
Chefredakteur

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