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Die „30 under 30" -Wissenschaftlerin Johanna Pirker von der TU Graz will mit Videospielen das Lernen neu gestalten.
Die Tür zu Johanna Pirkers Büro fällt unter den vielen anderen auf dem Gang des Instituts für Interaktive Systeme und Datenwissenschaften an der TU Graz dann doch ein wenig auf. Am Eingang zu ihrem Eckbüro weicht die kühle Sachlichkeit des Gebäudes eine Kombination aus Sichtbeton, Glas und Nirosta expliziter Fröhlichkeit. Bunt und dennoch wohl sortiert. Einiges vom Türdekor würden sich andere gerne im Goldrahmen an die Wand hängen: So klebt eine Urkunde „Best Paper 2017“ als Farbkopie gleich neben einem Hackaton- oder Konzertplakat, daneben ein paar Zeitungsartikel über die bereits erbrachten wissenschaftlichen Leistungen. Die Informatikerin studierte in Graz, verfasste ihre Masterarbeit während eines Studienaufenthalts am MIT und promovierte unter Doktorvätern beider Universitäten.
Die Liste der Preise und Stipendien, die Pirker für ihre Forschung gewonnen hat, ist lang; darunter auch eine Auszeichnung für das „beste visualisierte Experiment“, „Maroon“, ein virtuelles Physiklabor, das nach einer Testphase bald an so viele Schulen wie möglich gebracht werden soll. Ob Maroon allerdings so rasch den Einzug in die Klassenzimmer schaffen wird, ist nicht gewiss, sagt sie. In einer weiteren Version des VR-Physiklabors wird an einer individualisierten Zusammenstellung des Experimentesettings gearbeitet und an weiteren Variationen wie etwa einem Chemielabor.
Pirkers Leidenschaft für diese Möglichkeiten des E-Learnings wird bei diesem Thema deutlich. Nicht nur könne man in diesem virtuellen Physik- oder Chemielabor gefährliche Experimente, von denen man im realen Leben als Schüler oder Lernender jeder Altersstufe, wie sie sagt, eher absehen würde, durchführen. Man kann diese auch, so oft man möchte, wiederholen. Letzteres ist bekanntlich mit positiven Lerneffekten verbunden. Die grosse Chance im Lernen in VR sieht Pirker vor allem aber in der sogenannten Immersion.
Die Informatikerin beforscht unter anderem Computerspiele und die Effekte von Virtual Reality auf das Lernen oder die Zusammenarbeit von und mit Menschen und wie diese Technologien zur Motivation ihrer Anwender beitragen. Die Immersion ist dabei ein zentrales Moment. Mithilfe einer VR-Brille taucht der Nutzer in die virtuelle Welt ein, entfernt sich von seiner realen Umgebung und empfindet im digitalen Raum auch Emotionen intensiver, erklärt Pirker. „Man ist dann auch extrem fokussiert, blendet äussere Einflüsse aus, ist einfach weg“, sagt sie. Pirker sieht darin vor allem für junge Menschen eine „Chance auf Fokus“. In Zeiten, in denen die Aufmerksamkeitspanne immer kürzer wird und sich die Jungen leichter ablenken lassen, habe das einen positiven Effekt aufs Lernen, so Pirker weiter. Noch ist VR als Teil des E-Learnings klein hat aber grosses Potenzial.
Mit den aktuellen Marktführern am Feld der VR-Brillen, Playstation VR (Sony), Oculus Rift (Oculus VR/Facebook) und HTC Vive (Valve), liegt der Fokus von VR zurzeit noch stark auf Gaming. Allerdings ziehen auch nicht unbedingt technahe Sektoren langsam nach. Etwa die Immobilienbranche, die VR bei Zielgruppen wie Bauträgern oder Projektentwicklern bereits einsetzt. Auch „konventionelle“ Wohnungsbesichtigungen werden bereits in VR angeboten. In der internen Mitarbeiterschulung, im Verkaufstraining und im Recruiting ist die Technologie schon längst angekommen.
Den nächsten grossen kommerziellen Schritt in Sachen VR-Anwendung orten Experten allerdings in der Unterhaltungsbranche zum Beispiel im Film. Auch Pirker deutet potenziell bahnbrechende Entwicklungen in diesem Bereich an sie werde, so sagt sie, auch immer häufiger von Filmproduktionsfirmen und Leinwandexperten eingeladen, um über Möglichkeiten der VR vorzutragen. „Ich denke, dass es darum gehen wird, den Zuseher ins Geschehen einzubinden, ihm Szenen aus verschiedenen Perspektiven zu zeigen, ihm Wahlmöglichkeiten zu geben und so den Verlauf der Erzählung zu beeinflussen“, sagt sie.
Neben dem Film ist es vor allem aber die Sportübertragung, die für die Tech-Branche zurzeit am verheissungsvollsten scheint. So bezeichnete Brian Krzanich, Chef des Chipherstellers Intel, die Live-Sportübertragungen via VR-Brillen als „Katalysator für den Massenmarkt“. Die 170 Millionen US-$, die Intel für den Kauf der VR-Firma Voke auf den Tisch gelegt hat, wollen schliesslich amortisiert werden.
Tatsächlich aber macht Virtual Reality am Feld der Sportübertragung sowohl für Anbieter als auch Zuseher Sinn: nicht nur bei Sportübertragungen dabei zu sein, die im TV keinen Hauptsendeplatz haben, sondern auch für den „Mittendrin-Effekt“ bei Spielen, die über weniger Zuseherplätze oder über nur sehr teure verfügen. Eine VR-Brille für 400 US-$ und ein Ticket für zehn: Für den Sportfan kann das reizvoll sein.
Die Prognosen, die Institute wie die International Data Corporation (IDC) machen, fügen sich nahtlos in diese euphorische Stimmung ein. In ihrer aktuellen Publikation „Worldwide Semiannual Augmented and Virtual Reality Spending Guide“ hält IDC fest, dass 2016 bereits acht Millionen VR-Headsets verkauft wurden, 2017 fast doppelt so viele und bis 2020 sollen die Verkäufe auf 76 Millionen Exemplare steigen.
Dass beim heutigen Stand der Technik vielen VR-Brillen-Usern vornehmlich schwindlig wird, sehen Experten für die Zukunft entspannt. Denn daran wird gearbeitet: Facebook etwa hat laut Angaben von Oculus-Chef Jason Rubin bereits 250 Millionen US-$ in die Entwicklung von VR investiert und plant, dies auch weiter zu tun. Schliesslich sei das Ziel à la Social-Media-Plattform, nicht nur die Posts des anderen zu sehen, sondern möglicherweise sein Gegenüber am anderen Ende der Welt gar zu „besuchen“.
Die Prognosen für die weltweiten Gesamtausgaben für AR- und VR-Produkte sowie deren Dienstleistungen sollen laut IDC von 11,4 Milliarden US-$ im Jahr 2017 auf knapp 215 Milliarden im Jahr 2021 steigen nicht allein am Feld der Unterhaltung, sondern auch in der Industrie und Bildung. Pirker wäre das Eintreffen dieser Prognose nur recht: Sie arbeitet nämlich auch an Anwendungen für „mobile“ VR-Brillen, die ohne Computer, aber mit Smartphone funktionieren. „Ein Smartphone“, sagt sie, „hat fast jeder. Und die Brille kann man einfach und relativ günstig aus wenigen Einzelteilen zusammenbauen. Es wäre einfach cool, könnten ganz viele Junge und auch Ältere mittels VR lernen, wie etwa im Maroon-Physiklabor.“
Ich weiss nicht, warum ich auf der Forbes-30-under-30-Europe-Liste für Wissenschaft stehe. Vielleicht, weil ich ein Nerd bin?
Ihr Anliegen, so auch mehr Mädchen und junge Frauen für die sogenannten MINT-Fächer zu begeistern, ist gross. Vielleicht auch, weil sie sich die eigene Entscheidung, Informatik zu studieren, trotz grossen Interesses nicht einfach gemacht habe, erzählt sie. „Mir schien die Informatik als Studium sehr abstrakt und technisch ich hatte fast Angst davor, weil ich auch keine schulische Vorbildung im technischen Bereich hatte.“ Sie hat zwar schon während der Schulzeit Homepages programmiert und war eigentlich schon immer eine passionierte Gamerin. Die Vorstellung vom Informatikstudium, von den vielen Zahlen aber hat sie irgendwie gehemmt. Als es dann jedoch losging, war sie positiv überrascht, sagt sie. VR-Spiele wie Maroon könnten hier psychologische Einstiegshürden senken.
Pirker will aber auch andere nicht nur Frauen zur Informatik ermutigen. „Es gibt ganz allgemein und weltweit zu wenige Informatiker. Das liegt vielleicht auch daran, dass viele gar nicht wissen, was Informatik eigentlich ist und wie spielerisch man sich ihr annähern kann.“ Sie selbst hatte immer nur das Spiel im Kopf. Schon als kleines Kind damals konnte sie weder lesen noch schreiben kannte sie die Tastenkombination am DOS-Computer ihres Vaters auswendig, um „Prince of Persia“ spielen zu können. Aber neben der Affinität ihres Vaters zu Tech-Gadgets gab es für ihr doch ausgeprägtes Talent und Interesse für die Informatik keine familiäre Prädisposition, so Pirker.
Das Büro der 29-jährigen Universitätsassistentin würde das jedenfalls nicht vermuten lassen. Es ist nicht sehr gross, aber zweckmässig: Auf einem ihrer zwei Arbeitstische liegen neben zwei Bildschirmen auch zwei VR-Brillen sowie Joysticks die Brillen setzen sich am Regal gleich neben dem Tisch fort. Das Flipchart steht fast ein wenig im Weg. Neben den Büchern stehen eine Topfpflanze, ein Plastikdinosaurier und allerlei anderer Schnickschnack am Fensterbrett. Für den Eintritt in den virtuellen Raum sind auch Kameras eingestellt, die die Bewegungen des Nutzers in die digitale Welt transferieren. Pirker führt auch gerne vor, wie die Gerätschaften funktionieren.
Seit Ende Jänner ist Johanna Pirker auf der Europa-Liste der „Forbes 30 under 30“ in der Kategorie Wissenschaft gelistet. Wie sie dahin gekommen ist, kann sie nicht beantworten: „Vielleicht einfach, weil ich ein Nerd bin“, sagt sie mit einem Grinsen. „Und alle meine Freunde sind es auch.“ Was denn das gängige Bild eines Nerds sei, fragen wir nach. „Der zwölfjährige Bub, der den ganzen Tag im Keller am Computer sitzt“, so Pirker belustigt, um gleich zu beschwichtigen, „den gibt es aber nicht und hat es nie gegeben.“ Wir hatten es geahnt. Die junge Forscherin selbst steckt, alles in Schwarz gehalten, in Jeans, T-Shirt und Springerstiefeln, hat ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Optik erinnert unmittelbar an die Gamingfigur Lara Croft aus „Tomb Raider“.
Als sie selbst ihr Studium angetreten hat, war das Spieleprogrammieren an der Uni noch kein Thema. Pirker führte die Spielelehre und -entwicklung als Vorlesungen an der TU Graz ein. „Angefangen haben wir vor rund fünf Jahren mit 20 Plätzen. Ich hatte Bedenken, ob wir die vollkriegen. Dann waren es nach kurzer Zeit schon 40 Anmeldungen. Heute sind es rund 80 Plätze, die wir im Rahmen des Masterstudiums anbieten können.“ Über die Spieleentwicklung und das Spiel selbst finden die meisten Studierenden den Weg zur Informatik, ist Pirker überzeugt. Und privat? Da ist die Spieleentwicklung ebenfalls ein grosser Teil: Pirker ist Obfrau des Vereins Game Development Graz. „Die Szene soll wachsen“, sagt sie, „und zusammenkommen bei Game-Jams und coolen Talks.“
Dieser Artikel ist in unserer Februar-Ausgabe 2018 „Künstliche Intelligenz“ erschienen.