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Weil sich immer mehr Menschen vom System benachteiligt fühlen, kommen Milliardäre in den USA zunehmend unter Beschuss. Wir stellen unsere Blaupause vor, um den grössten Wohlstandsmotor aller Zeiten neu zu gestalten.
Es ist ein bescheidener Raum in einem unbescheidenen New Yorker Hotel, in dem einer der reichsten Menschen der Welt über eine Grundsatzfrage sinniert: Sollte er selbst überhaupt existieren? „Es ist faszinierend“, sagt Bill Gates. „Zum ersten Mal in meinem Leben fragen Menschen: Sollte es überhaupt Milliardäre geben?“
Er beginnt, die Idee genauer zu analysieren. „Ich fürchte, wenn so etwas wirklich umgesetzt werden würde, wäre das, was wir verlieren, sicherlich kleiner als das, was wir gewinnen. Das klingt vielleicht egoistisch. Wir bräuchten jemanden, der nicht reich ist – und der dann sagt, dass es in einigen Fällen in Ordnung ist, wohlhabend zu sein.“ In den letzten zwölf Monaten führte ich Interviews mit rund zwei Dutzend Milliardären, darunter persönliche Gespräche mit den drei reichsten Menschen der Welt – Jeff Bezos, Bill Gates und Warren Buffett.
All diese Meetings befassten sich in verschiedenen Ausprägungen mit der Zukunft des Kapitalismus. Die Debatte kommt zu einem sehr speziellen Zeitpunkt: Man müsste in die 1960er- oder vielleicht sogar in die 1930er-Jahre reisen, um eine Phase zu finden, in der das freie Marktsystem von so vielen Menschen infrage gestellt wurde wie heute.
Warren Buffet
Amerikas System funktioniert noch – und zwar besser als je zuvor.
Laut Gallup haben nur 56 % der Amerikaner ein positives Bild vom Kapitalismus (37 % sagten das Gleiche über Sozialismus). Bei den Millennials und der Generation Z (Gen Z) ist die Skepsis gegenüber freier Marktwirtschaft noch grösser: Nur 45 % der 18- bis 29-Jährigen waren in der Umfrage pro Kapitalismus, 51 % hingegen für Sozialismus (wenn auch eher die skandinavisch geprägte, von Bernie Sanders aufgegriffene Version statt jener aus der Sowjetunion). All das inmitten einer Wirtschaft, die bei Vollbeschäftigung und einem Wirtschaftswachstum von 3 % eigentlich boomt.
Die jüngste Vergangenheit hat die Positionen jedoch verstärkt. Technologieunternehmen verloren an Glaubwürdigkeit, Starbucks-Gründer Howard Schultz machte sich mit seiner Präsidentschaftskandidatur geradezu lächerlich und jene, die „die Reichen“ höher besteuern wollen, finden viel Anklang. Der Hedgefonds-Titan Paul Tudor Jones sagt: „Ich denke, wir müssen akzeptieren, dass wir an einem Scheideweg stehen – mit massiven gesellschaftlichen Bruchlinien.“
Paul Tudor Jones
Wir müssen akzeptieren, dass wir uns an einem Scheideweg befinden – mit massiven gesellschaftlichen Bruchlinien.
Jeder Milliardär, mit dem ich sprach, erkannte die Notwendigkeit zur Veränderung. Rockstar Bono äusserte den vielleicht poetischsten Vorschlag: eine Neuinterpretation. Denn unternehmerischer Kapitalismus bleibt das beste System, das je erfunden wurde, um Wohlstand zu kreieren und zu verteilen. Das System holte eine Milliarde Menschen in China, Indien und anderswo aus extremer Armut. Der Trend bleibt auch in den USA erhalten: Von der Forbes-400-Liste der reichsten Amerikaner sind 67 % self-made und 11 % Immigranten. „Amerika funktioniert besser denn je“, sagt Buffett. Doch (zu) viele Amerikaner fühlen das nicht. Es wird daher Zeit, ein System zu gestalten, das auch sie anspricht. Jene Exemplare des „American Dream“ sprechen von drei Pfeilern: Authentizität, Inklusion, Verantwortungsbewusstsein. Und in einer Form gebaut, die nachhaltig ist. Es steht einiges auf dem Spiel – denn jene Kräfte, die die grösste Wohlstandsmaschine aller Zeiten bedrohen, werden stärker.
Die Reisen des französischen Adeligen Alexis de Tocqueville durch die USA in den 1830er-Jahren fanden zeitgleich mit der Entstehung der sozialistischen Theorie in Europa statt – eine Bewegung, die de Tocqueville scharf kritisierte. Für de Tocqueville war der ausgewogene Kapitalismus, den er erlebte, gegenüber den Optionen in Frankreich (zentralisierte Regierungen, Feudalsystem) zu bevorzugen. „Die Bewohner der USA schaffen es fast immer, ihren persönlichen Erfolg mit jenem ihrer Mitbürger zu verknüpfen.“ De Tocquevilles Überlegungen inspirierten Friedrich Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“ und prägten die allererste Ausgabe von Forbes, die 1917 während der Russischen Revolution erschien. Damals erklärte Gründer B. C. Forbes, dass „die Wirtschaft dazu da sei, Glück zu erzeugen – nicht, um Millionen zu scheffeln“.
Steve Case
Diese Stimmung gegen Milliardäre braut sich seit einigen Jahren zusammen. Und hat sich in den letzten Wochen und Monaten noch beschleunigt.
Milton Friedman war ein weiterer Bewunderer von de Tocqueville. Doch er schlussfolgerte, dass unter allen Stakeholdern eines Unternehmens – Kunden, Mitarbeiter, Gesellschaft – nur eine Gruppe wirklich zählte: die Aktionäre. Die einzige Verantwortung der Wirtschaft sei es, Unternehmensgewinne zu maximieren.
Viele erfolgreiche Kapitalisten sehen in diesem Denken die Wurzel des Problems. „Ich irrte mich mit Milton Friedman – wie die meisten von uns“, sagt Tudor Jones, der ein Vermögen von fünf Milliarden US-$ aufbaute, indem er Schwächen des Marktes ausnutzte, einschliesslich des Marktcrashs von 1987. De Tocquevilles Idee, Gewinne als Nebenprodukt zu betrachten, bietet eine Form des Kapitalismus, die vor allem bei jüngeren Amerikanern beliebt ist. Laut einer Deloitte-Umfrage werten Millennials Gewinne, Effizienz und Umsatz mit der niedrigsten Priorität für Unternehmen. Am höchsten bewertet wurden die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Verbesserung der Gesellschaft und Innovation.
Bill Gates
Es ist faszinierend. Erstmals in meinem Leben fragen die Menschen: Sollte es überhaupt Milliardäre geben?
Authentizität erklärt auch, warum Amerikaner, obwohl sie Wall Street und Big Business nicht mögen, Unternehmer (87 % Zustimmung, laut Gallup) und KMU (96 %) lieben. „Wenn wir Unternehmen kaufen, sehe ich mir sehr genau an, ob die Gründer Missionare oder Söldner sind“, sagt Jeff Bezos. Missionare erzeugen laut Bezos die profitabelste Eigenschaft: Vertrauen. Und auch in der Finanzbranche tut sich etwas in Sachen Authentizität: Impact Investments, die lange Zeit als Nische für naive Weltverbesserer galten, haben sich zu einem Wachstumsmarkt entwickelt – mit rund 35 Milliarden US-$ Volumen im Jahr 2018. All jene, die die USA noch immer als Land der unbegrenzten Möglichkeiten sehen, sollten noch einmal nachdenken: Eine Umfrage von Fox News zeigte, dass 42 % aller Amerikaner nicht glauben, dass „der Kapitalismus“ ihnen „eine faire Chance gibt“. 18 % finden, dass der amerikanische Traum für ihre Familie unerreichbar ist. In den USA verdient das oberste Prozent der Bevölkerung deutlich mehr als die unteren 50 % zusammen. Doch die Situation geht über Einkommensungleichheit hinaus. Amerikaner betrachteten die Reichen stets als Helden, nie als Schurken. „Wir dachten, wir können so sein wie sie“, sagt Jones. Die fehlende soziale Mobilität befeuert den Zorn über die Verhältnisse in hohem Mass. Die Venture-Capital-Branche ist ein gutes Beispiel: Nur 15 % der Investitionen gehen an weibliche, nur 1 % an schwarze Gründer. „Es muss unsere Priorität sein, die Wettbewerbsbedingungen zu verbessern“, sagt AOL-Gründer Steve Case.
Für ihn ist es eine grosse Chance, brillante Köpfe in Niedriglohngebieten zu finden, die verzweifelt einen Ausweg suchen. Doch fehlt das Commitment, Bildungschancen für leistungswillige Menschen anzubieten. „Wir haben die Ressourcen“, sagt Buffett. „Die Frage ist: Sind wir bereit, all jenen, die wirklich wollen, auch die richtigen Möglichkeiten zu bieten?“
Ein paar Stunden nach meinem Treffen mit Bill Gates geschah etwas Unerwartetes. Er besuchte mit seiner Frau Melinda Stephen Colberts „Late Show“. Auf seinen Status als zweitreichster Mensch angesprochen, sagte er scherzend: „Wir versuchen, das Geld schneller wieder herzugeben.“ Die Forderungen nach höheren Steuern für Superreiche und Empowerment von Frauen wurden mit tosendem Applaus bedacht.
Nancy Pfund
Wir sprechen über die Lösung von gesellschaftlichen Problemen – durch Innovation und Unternehmertum.
Völlig konträr war im Vergleich die öffentliche Reaktion, als Amazon verkündete, sein HQ2 doch nicht in New York zu bauen. Die Politiker, die den Deal verhinderten, wurden scharf kritisiert. Doch auch Bezos bekam sein Fett weg: Mit einem Privatvermögen von über 130 Milliarden US-$ und Amazons Marktkapitalisierung von 800 Milliarden US-$ feilschte er um einen Steuerrabatt von drei Milliarden US-$? Die Antwort: Er hatte seine Aktionäre im Kopf. Die widersprüchlichen Reaktionen zeigen, dass die Amerikaner wollen, dass das System Rechenschaft ablegt. Das bedeutet in der Regel Philanthropie.
Für Gates, wahrscheinlich der grösste Philanthrop unserer Zeit, beginnt die Verantwortung mit der Auswahl neuer Ideen oder unorthodoxer Theorien. Sprich: Philanthropen können jene Art von Risiken eingehen, die von Steuern finanzierte Regierungen oder von Aktionären abhängige Unternehmen nie rechtfertigen könnten. Praktisch jeder Milliardär, mit dem ich sprach, gab zu, dass höhere Steuern für Reiche unvermeidlich sind. Die meisten erachten sie sogar als vorteilhaft, wenn richtig angewandt; entweder eine Erbschaftssteuer ohne Schlupflöcher oder eine höhere Kapitalertragssteuer, die nur auf extreme Vermögen angewendet wird.
Die Schönheit des freien Marktes ist seine Anpassungsfähigkeit. Wir halten es jedenfalls mit dem spannendsten Kapitalisten der Welt, Warren Buffett: „Die glücklichste Person, die jemals geboren wurde, ist ein Baby, das heute in den USA auf die Welt kommt.“ Wollen Sie gegen Buffett wetten? Gerne – auf ihre eigene Gefahr.
Text: Randall Lane / Forbes US
Illustration: Edmon de Haro
Der Artikel ist in unserer April-Ausgabe 2019 „Geld“ erschienen.