In der Dunkelheit liegt die Zukunft

98 % des menschlichen Erbguts sind nicht codierend, also nicht für die Herstellung von Proteinen verantwortlich. Dieser Teil wird oft als „dunkle DNA“ bezeichnet; lange Zeit wurde er als „Junk-DNA“ abgetan, doch mittlerweile haben Wissenschaftler die medizinischen Möglichkeiten, die darin stecken, erkannt. Einer von ihnen ist Samir Ounzain – mit seinem Unternehmen Haya Therapeutics will er mithilfe der „dunklen DNA“ Medikamente für bisher unheilbare Krankheiten entwickeln.

April 2001: 13 Jahre hat es gedauert, bis die Bemühungen rund um die Sequenzierung des gesamten „Buchs des Lebens“ im menschlichen Genom für abgeschlossen erklärt wurden. Es war ein grosser und wichtiger Schritt für die Medizin und die Biologie; Wissenschaftler ­erhofften sich von dem rund drei Mrd. US-$ schweren Projekt, Therapiemöglichkeiten für bisher unheilbare Krankheiten zu finden. Damals war man der Meinung, dass der grösste Teil des menschlichen Genoms Anweisungen zur Herstellung von Proteinen enthält, die als Bausteine aller lebenden Organismen eine Vielzahl von Aufgaben in und zwischen unseren Zellen erfüllen. Doch das Gegenteil war der Fall: Knapp 98 % des Genmaterials stellten sich als nicht codierend heraus – sie enthalten keine Anweisungen für die Herstellung von Proteinen, den wichtigsten Zellbausteinen. Dass ausgerechnet dieser Teil der DNA heute für die Herstellung von Medikamenten genutzt werden kann, wäre damals noch undenkbar gewesen.

Samir Ounzain war zu diesem Zeitpunkt Biologie- und Chemie-Student am Imperial College in London und fasziniert von jener neuen wissenschaftlichen Entdeckung. „Diese Entdeckung der ‚Junk-DNA‘ im Jahr 2001 war der Grundstein für meine heutige Karriere und hat mich damals während meines Bachelors sehr inspiriert“, so der Wissenschaftler. 2011 zog der geborene Brite in die Schweiz, um seine Forschung über das sogenannte „dunkle Genom“ zu vertiefen.

So übernahm Ounzain die Rolle als Projektleiter und Research Fellow an der Universität Lausanne. Im Zuge dessen machte er auch eine wichtige Entdeckung, wie er erzählt: „2015 hatten wir einen grossen Heureka-Moment, als wir erkannten, dass RNAs das ‚dunkle Genom‘ steuern, welches wiederum einige Krankheiten kontrolliert, indem es beeinflusst, wie die Zellen in den verschiedenen Organen auf die Umwelt reagieren und ungesund werden. Daher kann man auch RNA-basierte Medikamente entwickeln, die auf diese spezifischen RNAs abzielen.“ 2019 gründete der Wissenschaftler sein erstes Unternehmen Haya Therapeutics mit dem Ziel, seine bisherige jahrelange Forschung am „dunklen Genom“ unter die Menschen zu bringen und solch ein RNA-basiertes Medikament zu entwickeln. „Da ich jahrelang als Akademiker in der Forschung tätig war, war es für mich am Anfang ungewohnt, unter die Unternehmer zu gehen. Ich musste viele neue Dinge lernen“, so Ounzain.

Im ersten Schritt fokussiert sich Haya Therapeutics auf ein Medikament, das auf eine Reihe von nicht codierenden RNAs abzielt, ­welche die Bildung von Narbengewebe oder Fibrose im Herz fördern; ein Prozess, der zu Herzversagen ­führen kann. „Langfristig wollen wir aber das ‚dunkle Genom‘ weiter er­forschen, um auch für viele andere Krankheiten ein wirksames und vor allem sicheres Medikament zu entwickeln“, so Ounzain.

In der Schweiz starben 2022 rund 9.000 Männer und 10.000 Frauen an einer Herz-Kreislauf-­Erkrankung. Die Herzfibrose, bei der es sich um eine Verdickung von Gewebe rund um die ­Herzmuskeln handelt, tritt im Zusammenhang mit diversen Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf und ist bisher nicht heilbar, sondern lediglich therapierbar. „Fibrose ist eine Erkrankung, die durch Umwelteinflüsse – also etwa Stress, hoher Blutdruck oder Diabetes – gesteuert wird. Wie wahrscheinlich man durch diese Umwelteinflüsse an einer Herz­fibrose erkrankt, wird aber durch das ‚dunkle Genom‘ auf zellulärer Ebene gesteuert“, so der Unternehmer. Da sich eine Fibrose auch in vielen anderen Organen wie der Lunge entwickeln und auch dort zu massiven Schäden führen kann, ist die Entwicklung eines Medikaments für die Herzfibrose nur der Anfang für Haya Therapeutics und Ounzain. Das Medikament soll dabei den erkrankten Patienten ähnlich wie bei einer Impfung in regelmässigen Abständen mehrmals jährlich gespritzt werden.

Innerhalb der nächsten 18 bis 24 Monate möchte Haya Therapeutics sein Medikament an Patienten testen.

Im Moment steht Haya Thera­peutics kurz vor dem Beginn der klinischen Testphase. „Innerhalb der nächsten 18 bis 24 Monate möchten wir unser Medikament gegen Herzfibrose an ­Patienten testen. Wir glauben, dass wir bis zum Ende dieses Jahrzehnts, also bis 2029, einen Punkt erreichen könnten, an dem die Regulierungsbehörden unser Medikament als einsatzbereit betrachten – sprich: Wir erhoffen uns, dass das Medikament danach flächendeckend an Patienten ver­abreicht werden kann“, so Ounzain.

Mittlerweile konnte Haya ­Therapeutics dank der erfolg­reichen Forschungsarbeit von Ounzain und seinem Team auch in die USA, konkret nach San ­Diego, expandieren und dort ein zweites Büro eröffnen. So kommt das Schweizer Unter­nehmen mittlerweile auf 40 Mitarbeiter, von denen 30 % in San Diego stationiert sind. Seit der Gründung 2019 konnte Haya Therapeutics Finanzierungen in Höhe von rund 25 Mio. US-$ sammeln, und das, obwohl das erste Gründungsjahr nicht einfach war. „Da wir kurz vor der Pandemie gegründet haben, war es am Anfang schwer, Finanzierungen zu finden. Als wir dann aber in die 2020er-Jahre kamen, erkannte die ganze Welt den Bedarf an Biotechnologie. RNA erwies sich als eine besonders bedeutende Technologie. Bereits zu dieser Zeit wurde der Impfstoff gegen SARS-CoV-2 entwickelt, was uns half, da das Interesse an RNA-Technologien enorm wuchs“, erinnert sich der Wissenschaftler zurück.

Dank des wachsenden Inte­resses der Öffentlichkeit und des ­potenziellen Nutzens der zukünftigen Medikamente von Haya Therapeutics wurde das ­Unternehmen 2023 als bestes Start-up der Schweiz ausgezeichnet; eine ­Auszeichnung, auf die Ounzain besonders stolz ist: „Es ist eine grossartige An­erkennung für das Haya-Team, in die ­Top-100-Start-ups der Schweiz aufgenommen zu werden. Dieser ­jährlich verliehene Preis ist der bedeutendste für Unternehmen, die jünger als fünf Jahre sind. Wir haben ihn als Biotech-Unternehmen in der Frühphase gewonnen, ohne Umsatz und ohne kurzfristige kommerzielle Möglichkeiten.“ In zehn Jahren ­erhofft sich Ounzain, dass Haya Therapeutics ein voll integriertes biopharmazeutisches Unter­nehmen mit am Menschen zugelassenen Arzneimitteln sein wird.

Ausserdem will der Wissenschaftler der Welt zeigen, welch grosses Potenzial für die Medikamentenentwicklung im „dunklen Genom“ steckt. Ounzain denkt dabei an Medikamente gegen Krebserkrankungen wie Pankreaskrebs oder Erkrankungen des Gehirns wie Alzheimer. „Wir glauben, dass das ‚dunkle Genom‘ in den nächsten 20 bis 50 Jahren die Quelle für unglaubliche, bahnbrechende Präzisionsarzneimittel für grosse Krankheiten und auch für Präzi­sionsdiagnostik sein wird. Und wir wollen wirklich den Weg weisen, um der Welt die Macht des ‚dunklen Genoms‘ zu zeigen“, so Ounzain.

Foto: Haya Therapeutics

Lela Thun,
Redakteurin

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