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Farben hören, sich mit dem Internet verbinden, die Zeit fühlen: Was nach Science-Fiction klingt, ist für Neil Harbisson Realität. Mit seiner im Kopf implantierten Antenne ist der Brite der erste staatlich anerkannte Cyborg.
Das Streben der Menschheit, den eigenen Schöpfungsakt zu überwinden, ist kein neues Phänomen. Zahlreiche Geschichten handeln von Lehmfiguren, die zum Leben erweckt werden, von Homunculi (künstlich erschaffene Menschen) oder Automaten wie in E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“. Doch sie handeln auch von dystopischen Vorstellungen: Ausser Kontrolle geratene Experimente wie das von Dr. Frankenstein, intelligente Roboter, die sich gegen ihre Schöpfer wenden, und futuristische Wesen, die – halb Mensch, halb Maschine – den Menschen mit ihren Fähigkeiten weit übertreffen. Was Literatur und Filmindustrie seit jeher als Zukunftsvision beschäftigt, lassen Individuen wie Neil Harbisson mittlerweile Realität werden – und schreiben damit Geschichte.
Für Harbisson fing alles mit einem Nachteil an: mit einer Genexpression, die die Welt in Grautöne taucht. Achromatopsie, umgangssprachlich auch als Farbenblindheit bezeichnet, lautete die Diagnose, nachdem sich Neil Harbisson mit elf Jahren einem medizinischen Test unterzogen hatte. Heute hat der Künstler den Spiess jedoch umgedreht: Während Menschen teilweise eine Art „prometheische Scham“ (der Begriff wurde vom österreichischen Philosophen Günther Anders geprägt) empfinden, sich der von ihnen geschaffenen Technologie also nicht ebenbürtig fühlen, und sich Wirtschaft und Gesellschaft die Frage stellt, wie künstliche Intelligenz (KI) in unser Leben integriert werden kann, ist Harbisson bereits einen Schritt weiter: 2004, mit Anfang 20, liess er sich operativ eine Antenne in den Kopf implantieren. Damit kann er Farben hören und sich über Bluetooth mit anderen Geräten verbinden. „Ich war bereits mit der Weltraumstation der Nasa verbunden. Ich sehe das als eine neue Art der Erkundung des Weltraums: Anstatt Menschen ins All zu schicken, wird das All Teil des Körpers“, so Harbisson.
Neil Harbisson ist das Cover der März-Ausgabe 2020 „KI“
Damit betritt Harbisson nicht nur die nächste Stufe der Evolution, sondern ist zudem fähig, den Menschen Vorenthaltenes wahrzunehmen: Seit 2012 kann er Ultraviolett- und Infrarotstrahlung hören, ein Implantat im Knie lässt ihn zudem jederzeit den geografischen Norden fühlen. Und Harbisson testet mit einer Art Ring um seinen Hals die Zeitwahrnehmung aus, der Ring lässt ihn nämlich die Erdrotation spüren. Als Grundlage dient Albert Einsteins Relativitätstheorie, in der Zeit und Raum keine universell gültigen Ordnungsstrukturen aufweisen. Der Körper könnte sich an den vom Implantat hervorgerufenen Rhythmus der Erdrotation gewöhnen, sodass durch künstliche Verlangsamung (oder Beschleunigung) der Rotation im Implantat die Zeitwahrnehmung getäuscht werden könnte. Ein Leben könnte sich somit länger anfühlen. 2010 gründete Harbisson zusammen mit Moon Ribas, einer alten Schulfreundin, die eigenen Angaben zufolge durch implantierte seismische Sensoren Erd- und Mondbeben spüren kann, die Cyborg Foundation in Mataró, Spanien – eine Plattform für Forschung, Entwicklung und die Förderung von Projekten rund um die Schaffung neuer Sinne und Wahrnehmungen durch die Anwendung von Technologie im und am menschlichen Körper. Das Ziel der Foundation ist es, Menschen dabei zu helfen, Cyborgs zu werden, Kunst im Zusammenhang mit der Identifikation als Cyborg zu fördern sowie die Rechte der Cyborgs zu verteidigen. 2017 wurde die Stiftung um den Verein Transpecies Society mit Sitz in Barcelona erweitert, um Menschen mit nicht menschlicher Identität eine Stimme zu geben. 2019 wurden die Räumlichkeiten vorerst geschlossen, Harbisson schliesst aber eine Wiedereröffnung nicht aus. Zudem existieren die Cyborg Foundation Labs mit Sitz in Barcelona, wo Studenten aus verschiedenen Studienbereichen wie Medizin, Informatik und Design projektbasiert an der Erschaffung neuer Sinnesorgane arbeiten. Harbisson und Ribas waren auch unternehmerisch aktiv: Mit Cyborg Nest gründeten sie – gemeinsam mit Liviu Babitz und Scott Cohen – ein Unternehmen, das den „North Sense“ entwickelte, ein künstliches Gefühlsorgan, das seinem Träger ein Signal gibt, sobald sich dieser nach Norden wendet; es ist für 419 US-$ erhältlich. Nach der Einführung des Tools in den Markt verliessen Ribas und Harbisson jedoch das Unternehmen.
Neil Harbisson
... studierte Kunst am Institut Alexandre Satorras in Barcelona. In Devon absolvierte er dann ein Masterstudium in Musik am Dartington College of Arts. 2004 liess er sich eine Antenne einbauen, die ihn zum ersten staatlich anerkannten Cyborg weltweit machte. 2010 gründete er zusammen mit Moon Ribas die Cyborg Foundation.
Geht es nach Harbisson, ist die Definition eines Cyborgs eine Frage der Identität – anders als aus biologischer Sicht, aus der eine Person als Cyborg bezeichnet werden kann, sobald sie ein technisches Implantat trägt. Doch damit nicht genug: Harbisson möchte, dass Cyborgs global als das anerkannt werden, was sie sind – eine neue Spezies. Ribas und Harbisson sind dabei nicht die Einzigen und Ersten der Bewegung: Auch der mexikanisch-amerikanische Schriftsteller Manel Muñoz (der durch Sensoren den Luftdruck spüren kann), der US-Filmemacher Rob Spence (der bei einem Unfall ein Auge verlor und stattdessen eine kabellose Kamera in seiner Augenhöhle trägt, mit der er seine Umgebung filmen kann) oder der britische Kybernetiker Kevin Warwick (der erste Mensch, der sich einen Computerchip in seinen Körper einsetzen liess und sein Nervensystem mit einem Rechner verband) sehen sich als Cyborgs.
Doch trotz seiner Sinneserweiterungen – und trotz der Tatsache, dass ihn die britische Regierung 2004 aufgrund seiner Antenne offiziell als ersten und einzigen Cyborg anerkannte – unterliegt auch Harbisson den behördlichen Bestimmungen im Zuge der Coronakrise: Als Speaker und Aktivist für Cyborgrechte reist er um die ganze Welt, sass aber zum Zeitpunkt unseres Interviews in Hualien, Taiwan, fest. Wir skypen. Er hält seine Antenne nah an den Bildschirm. „Dein Gesicht klingt harmonisch“, sagt er, während er sich wieder aufrichtet und seine Antenne oberhalb seines blonden Pagenschnitts ein klein wenig hin und her wippt. Die Vorstellung, Farben hören zu können, mag irritieren – für Harbisson ist das längst Normalität. „Ich esse nun viel lieber Gemüse als früher, denn es hört sich gut an“, meint er etwa.
Der Weg zum Cyborg
(Quelle: Neil Harbisson)
Harbisson wuchs in Barcelona auf, als Kind einer Spanierin und eines Vaters britisch-irischer Herkunft. „In den 80er-Jahren war jedes Kind eines Briten automatisch britisch, egal wo es geboren wurde“, so Harbisson, der somit einen britischen Pass besitzt. In seiner Kindheit machte ihm seine Farbenblindheit Probleme: Hausaufgaben schrieb er teilweise mit rotem Stift, Nahrungsmittel erkannte er nicht, wenn sie nicht in Originalform vor ihm lagen, und Landkarten waren schwierig zu lesen. „Mir wurde das wohl vererbt, denn meine Familie vermutet, dass mein Grossvater mütterlicherseits auch keine Farben sehen konnte – er wurde nie getestet, aber er hatte ähnliche Probleme.“ Harbisson studierte Kunst am Institut Alexandre Satorras in Barcelona und ging dann nach England, um am Dartington College of Arts in Devon Musik zu studieren, weil er sich eine Karriere als Komponist vorstellte. „Bereits als Kind war ich mehr an dem interessiert, was ich hörte, und nicht an dem, was ich sah, weil bei mir in dem Bereich einfach etwas fehlte“, so Harbisson. Während seines Musikstudiums lernte er Adam Montandon kennen, einen Kybernetik-Absolventen (heute ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der University of Southern Denmark für Innovation and Design Engineering) – Montandon entwickelte für Harbisson eine Software, die Farben Töne zuordnete. Harbisson begann, sich mehr und mehr für Technik im Zusammenhang mit seiner Achromatopsie zu interessieren – nicht, um sie als Hilfsmittel für seine Farbenblindheit zu nutzen, sondern um sie in seinen Körper zu integrieren. „Ich dachte zuerst an ein drittes Auge, aber das würde meine Sicht limitieren – anders als eine Antenne“, so Harbisson.
Also begab er sich auf die Suche nach einem Arzt, der ihm eine Antenne implantieren würde, stiess aber aus ethischen Gründen zunächst nur auf Ablehnung. Und doch fand Harbisson schliesslich einen Chirurgen, der sich bereit erklärte, ihm seinen Wunsch zu erfüllen; genauere Angaben verrät er über dessen Identität aber nicht. Während der Operation, für die ihm nur eine lokale Anästhesie verabreicht wurde, wurden Harbisson am Hinterkopf vier kleine Löcher in den Schädel gebohrt – eines für den Chip, der die Vibration der Antenne aufnimmt, zwei, um die Antenne zu halten, und eines für die Bluetooth-Verbindung. Nach vier Monaten war der Schädelknochen wieder zusammengewachsen und schloss die Technik in sich ein. „Die Antenne ist Teil meines Körpers – ich bin dadurch sogar grösser geworden“, lacht Harbisson. Angst habe er vor der Operation nicht gehabt.
Arten von Cyborgs nach Verwendung der Implantate
(Quelle: Neil Harbisson)
Harbisson hat eine Vision: In Zukunft sollen Cyborgs nicht etwa als skurrile Besonderheit angesehen werden, sondern zum Alltag gehören – und die Welt massgeblich transformieren. Er zählt sich selbst zu der Gruppe Cyborgs, die mit Technik ihre Sinne erweitern. Eine weitere Gruppe bilden jene, die sich technische Implantate aus praktischen Gründen einsetzen lassen – etwa Chips als Türöffner oder Fahrkartenausweise für öffentliche Verkehrsmittel, wie es in Schweden bereits von mehreren Tausend Leuten mithilfe der sogenannten RFID-Chips vorgelebt wird. Zur dritten und grössten Gruppe zählen laut Harbisson Cyborgs, die sich aus medizinischen Gründen ein Implantat einsetzen lassen, etwa Herzschrittmacher. Insbesondere die dritte Gruppe könnte rasant wachsen: Der Markt für lebensverlängernde und -verbessernde Massnahmen könnte laut Bank of America im Jahr 2025 600 Milliarden US-$ wert sein. „Anstatt zum Doktor zu gehen, um sich heilen zu lassen, könnte man sich zukünftig Implantate einsetzen lassen, die uns vor Krankheiten schützen“, meint Harbisson. Das ist insbesondere in Zeiten einer global wütenden Pandemie, die zu Redaktionsschluss über 400.000 Infizierte zählte und fast 20.000 Menschen das Leben kostete, eine vielversprechende Idee. Und tatsächlich forscht das kalifornische Biotech-Unternehmen Profusa an Sensoren, die Menschen injiziert werden können, um Infektionen, wie sie das Coronavirus verursacht, bereits vor Eintritt der ersten Symptome erkennen zu können. Eine Pandemie, wie wir sie aktuell erleben, könnte somit in Zukunft verhindert werden.
Markt für lebensverlängernde und -verbessernde Implantate:
(Quelle: Bank of America)
Doch die Möglichkeiten sind damit noch nicht ausgeschöpft: Auch Lähmungen, die Menschen ihr Leben lang an den Rollstuhl fesseln, könnten der Vergangenheit angehören – das Unternehmen Braingate arbeitet an der Entwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellentechnologien, um die Kommunikationsfähigkeit oder die Mobilität von Menschen mit neurologischen Erkrankungen oder Verletzungen wiederherzustellen. Erfolge konnten bereits erzielt werden, als durch die Technologie 2006 ein vom Nacken abwärts gelähmter Mann mittels Elektroden einen Cursor auf dem Computer und 2012 eine gelähmte Frau mit ihren Gedanken ihre Prothese bewegten. Auch Elon Musk arbeitet seit 2016 mit seinem Unternehmen Neuralink daran, mittels Gehirn-Computer-Implantaten vor allem die Hirnfunktionen von Patienten mit Gehirnschäden wiederherzustellen. Er plant, bis 2021 die ersten Implantate auf den Markt zu bringen. Doch wer kann sich die Optimierung der eigenen Gesundheit in Zukunft leisten? „Das Material der derzeitigen Implantate ist sehr günstig. Die Herausforderung wird eher sein, einen Arzt zu finden, der die Operation vornimmt – und die Kosten dafür zu tragen. Das wird auch länderabhängig sein“, so Harbisson. Allerdings kann installierte Technik im eigenen Körper durchaus lebensbedrohlich sein, wenn sie Opfer von Hackerangriffen wird – etwas, das Harbisson bereits erlebt hat: Über eine für nur fünf Personen zugängliche App können ihm Bilder direkt in den Kopf gesendet werden, doch auch eine Person, die keinen Zugriff auf die App hat, hat ihm schon Fotos geschickt. „Ich hatte keine Angst, es war eher interessant. Ein Mensch riecht ja auch manchmal Dinge, die er lieber nicht riechen würde“, sagt Harbisson über den „Angriff“. Die Regierungen müssten aber dennoch sicherstellen, dass der Körper mitsamt den Implantaten wirklich einem selbst gehöre, erzählt er weiter.
Doch bis seine Vision Wirklichkeit werden kann, wird noch einige Zeit vergehen, wie Harbisson auch selbst weiss: „Es wird Jahrzehnte dauern. Es ist alleine schon erstaunlich, wie langsam die Gesellschaft Unterschiede in Kultur, Geschlecht, sexueller Orientierung oder Hautfarbe akzeptiert – Cyborgs sind eine völlig neue Spezies. Es ist, als hätte die Gesellschaft Angst vor Diversität.“
So oder so: Letztendlich sieht Harbisson im Cyborgdasein die Möglichkeit, dass Menschen sich der Natur wieder annähern und sich ihr anpassen anstatt andersherum. Es scheint also eine schöne neue Welt, von der der erste offiziell anerkannte Cyborg der Erde da träumt – mit vielen offenen Fragen. Dass das Interesse an technischen Erweiterungen – angesichts der aktuellen Lage in der Coronakrise insbesondere an jenen medizinischer Natur – zunimmt, scheint wahrscheinlich. Auch Harbisson denkt an neue Erweiterungen: „Der Gleichgewichtssinn lässt im Alter nach, ein Schwanz wäre dann gut. Und auch ein an- und ausschaltbarer Sinn für Humor wäre toll.“
Text: Andrea Gläsemann
Fotos: Dilip Bhoye
Der Artikel ist in unserer März-Ausgabe 2020 „KI“ erschienen.