Exercise Is Medicine

Nerio Alessandri zählt zu den prägenden Unternehmern der europäischen Fitness- und Gesundheitsindustrie. Seit über vier Jahrzehnten baut der Technogym-Gründer an einem System, das Training, Technologie und Prävention neu denkt. Er gilt als Vordenker einer Branche, die Fitness längst als Teil der Gesundheitsökonomie begreift, und als Unternehmer, der überzeugt ist: Bewegung ist Medizin.

Das Enea-Baummuseum in Rapperswil-Jona wirkt wie ein Ort, an dem die Zeit stillsteht: Etliche teils in Mitteleuropa kaum sonstwo zu findende Baumarten sowie Skulpturen internationaler Künstler und weiten Rasenflächen. An diesem Abend dient die Parklandschaft aber als Kulisse für ein internes Firmenevent – und als Bühne für einen Unternehmer, der sich in den letzten vier Jahrzehnten ein Lebenswerk gebaut hat: Nerio Alessandri, der Gründer und CEO von Technogym, steht seit über vierzig Jahren an der Spitze des Herstellers von Fitnessequipment. Doch Alessandri spricht nicht nur über Fitness, sondern vor allem über Prävention, Gesund­heit als volkswirtschaftlichen Faktor – und da­rüber, ­warum sein Unternehmen auch einen Beitrag für eine bessere Umwelt leistet. Vielleicht passt das Baum­museum gar nicht so schlecht zum Gespräch?

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: In 120 Ländern trainieren wöchentlich rund 75 Millionen Menschen mit Geräten des italienischen Unternehmens. Neben Hotels und Reha-Kliniken setzen zunehmend auch wohlhabende Privatpersonen auf Technogym-Equipment. Als CEO eines börsennotierten Unternehmens kann und will Alessandri Spekulationen über die Umsatzziele nicht kommentieren – doch dass Technogym 2025 die Umsatzmilliarde knacken wird, gilt als offenes Geheimnis.

Bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris richtete das Unternehmen 29 Trainingszentren ein und unterstützte 13.000 Athleten. Alessandri nennt Technogym „eine Referenzmarke für Olympia“, so eng sei die Verbundenheit. Der Prestigeeffekt ist deutlich zu sehen: Hotels bestätigen, dass Gäste, die zu Hause mit Technogym trainieren, unterwegs dieselbe Ausstattung erwarten. Seit der Gründung 1983 wachse Technogym im Schnitt mit einer jährlichen Wachstumsrate (CAGR) von 20 %, so Alessandri: „Wir wachsen nicht um jeden Preis, sondern nachhaltig und profitabel.“

Doch nun beginnt für Technogym ein neues Kapitel: Künstliche Intelligenz wird zur Technologie, die das Unternehmen prägen dürfte. Alessandri nennt sie zwar „nur eine Technologie, wie das Internet vor 30 Jahren“; steht dem Potenzial jedoch grundsätzlich positiv gegenüber.

Wer Wellness liebt, respektiert auch die Natur.

Nerio Alessandri

Nerio Alessandri begann 1983 in der Garage seines Elternhauses in Cesena. Er war damals 22 Jahre alt, gelernter Industriedesigner und passionierter Sportler. Während andere Unternehmer dieser Generation auf Software setzten, entwickelte Alessandri seine erste Fitnessmaschine auf einer improvisierten Werkbank. Er baute, testete und verkaufte die Geräte selbst. Sein Antrieb war weniger ein Markttrend als eine persönliche Überzeugung: dass Training ein technisches Problem sei, das man mit Präzision, Ergonomie und industriellem Denken lösen könne. Die ersten Bestellungen kamen aus lokalen Fitnessstudios; die Maschinen überzeugten durch biomechanische Genauigkeit und Designanspruch. In wenigen Jahren wurde aus der Garage eine kleine Fabrik.

In den 90er-Jahren professionalisierte Alessandri das Unternehmen, internationalisierte Vertrieb und Produktion und orientierte ab 1993 den Begriff „Wellness“ als Gegenentwurf zu einer rein ästhetisch orientierten Fitnessindustrie um. Technogym wuchs mit Hotelketten, Reha-Einrichtungen und dem professionellen Sport und wurde 2000 erstmals offizieller Ausstatter der Olympischen Spiele. Die Marke etablierte sich als technologischer Standard für Training und Prävention, während Alessandri konsequent weiter an der Fusion aus Design, Daten und Gesundheit arbeitete.

Heute versteht sich Technogym als Plattformanbieter. Das Unternehmen fokussiert sich auf vier Bereiche: Beratung, Software, Hardware und Marke. Alles läuft auf der „Mywellness“-Plattform zusammen, die quasi das Herzstück jedes Kunden werden soll: Check-ups, Bewegungsanalysen, Blutwerte, Wearables und Trainingsprotokolle fügen sich zu einem System zusammen, das medizinische, sportliche und lifestyle-orientierte Anwendungen miteinander verzahnt. „Wir sind ein Ökosystem“, sagt Alessandri. Die Hardware liefere die Volumen, doch die Wertschöpfung finde zu­nehmend in der Software statt.

Ein Beispiel: Auf der Plattform wird das „Wellness Age“ berechnet, das funktionale Alter eines Körpers. Diese Kennzahl basiert auf Leistungswerten, Blutmarkern, ­Mobilität, Balance und Stressparametern. Für viele sei das ein Schockmoment, so Alessandri – denn funktionale Realität und biolo­gisches Alter liefen immer häufiger auseinander. Auf der Basis dieses Alters werden den Kunden dann Übungen, Trainingspläne, aber auch Tipps zu Ernährung und Lebensgewohnheiten empfohlen. Zudem entwickelt Technogym Systeme, die Fehl­haltungen erkennen, Geschwindigkeit und Belastung automatisch anpassen, Trainingspläne ­skalieren und Ermüdung feststellen. Die Biostrength-Geräte ­passen Range of Motion und Widerstand in Echtzeit an und ­bremsen den Nutzer, wenn nötig – die Maschine wird
zum Co-Therapeuten.

Doch Alessandri denkt weit über das eigene Unter­nehmen hinaus. Seine zentrale These: „Exercise is medicine“ – und Technogym steuert die genaue Dosis. Doch die gesellschaftliche Herausforderung kann und will Alessandri nicht alleine lösen, weshalb er im Lauf des Gesprächs auch auf andere Stakeholder zu sprechen kommt.

Im US-Markt hat der Ansatz bereits strukturelle Folgen: Versicherer vergüten dort zunehmend die Ergebnisse und nicht die Aufenthaltsdauer. Kliniken investieren deshalb in digitale Trainingsprogramme, weil effiziente Rehabilitation weniger kostet und profitabler ist. Technogym arbeitet mit Institutionen wie der renommierten Cleveland ­Clinic an Protokollen für Parkinson, Alzheimer oder für die ­Begleitung von Chemotherapien. In Europa sei der Trend langsamer, aber eindeutig; und Bewegung sei nahezu immer vorteilhaft für die Gesundheit.

Künstliche Intelligenz sieht Alessandri nüchtern: „KI ist nur die Technologie, wie das Internet vor 30 Jahren.“ Zwar erkennt er an, dass KI ganz neue Möglichkeiten bietet, doch der Erfolg kommt laut ihm nur dann, wenn sie richtig in die Plattform eingebettet wird. KI ermögliche präzisere Haltungsanalysen, Risikobewertungen, personalisierte Progression und (für Betreiber relevant) das Traffic-Management ganzer Trainingsflächen. Der eigentliche Wandel liege im Alltag der Nutzer: „Was wird passieren? Training wird zu einem natürlichen Teil des Lebens, wie Zähneputzen“, sagt Alessandri. Er sieht eine Zukunft, in der ­Training kulturell tief verankert ist.

An diesem Punkt wird Alessandri fast politisch: Die Lebenserwartung der Menschen sinke erstmals in der Moderne, während Kinderadipositas ansteige. Körperhaltung, Stress, Ernährung – für ihn hängen diese Punkte direkt mit Produktivität, Kreativität und Wettbewerbs­fähigkeit zusammen. „Wir sind an einem historischen Moment angekommen.“ Er zeigt auf sein Smartphone und nennt es „eine Droge“ – eine Generation wachse gebückt und mit Blick auf ihr Telefon auf, die Folgen würden erst in 20 oder 30 Jahren sichtbar.

Aus dieser Diagnose formt Alessandri sein ­politisches Gegenmodell: den „Wellness-Deal“. Der europäische Green Deal greife zu kurz, wenn er lediglich Emissionen adressiere – gesundheitliche Prävention müsse ein politisches Projekt werden. Sein Argument: Wer den eigenen Körper respektiert, respektiert auch endliche Ressourcen sowie die Umwelt – „wer Wellness liebt, respektiert auch die Natur und wirft keine Plastikflasche auf den Boden.“ Kurzum: Die ­Qualität des eigenen Lebens und nach­haltiges Verhalten seien untrennbar verknüpft.

Kritisch betrachtet hat das „System Alessandri“ ­jedoch zwei grosse Schwächen. Erstens: Es ist stark abhängig vom Premium-Segment, von Luxushotels bis High-Net-Worth Individuals. Gesellschaftliche Veränderung passiert aber in der Masse. Und zweitens: Es operiert in einem Gesundheitsmarkt, der politisch träge ist und oft gegen seine eigene ökonomische Logik agiert. Alessandri weiss das: „97 % der Gesundheitsbudgets entfallen auf Medizin, nur 3 % auf Prävention.“ Prävention ist aber billig – und wird politisch meist unterschätzt.

Tatsächlich flossen etwa in der Europäischen Union laut dem Statistikdienst Eurostat im Schnitt rund 2,8 % in die Prävention. Den höchsten Anteil hat mit 4,4 % übrigens Italien, der Heimatmarkt von Technogym. In den USA liegt die Zahl in etwa gleich hoch. Es ist also viel Luft nach oben, Prävention zu stärken und so die Gesundheitskosten für alle zu senken.

Doch Alessandri ist kein naiver Weltverbesserer – vielmehr ist dem Unternehmer bewusst, dass der Erfolg von Technogym stark davon abhängt, dass eine grössere gesellschaftliche Veränderung passiert. Denn wenn Prävention ein grösseres Gewicht bekommt, sind auch die Produkte und Dienstleistungen von Technogym stärker gefragt. Alessandri: „Wir können auch zwei Mrd. € Umsatz erreichen, oder später auch fünf Mrd. €. Aber alleine schaffen wir das nicht.“

Fotos: Technogym

Klaus Fiala,
Chefredakteur

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