Mit dem FORBES-NEWSLETTER bekommen sie regelmässig die spannendsten Artikel sowie Eventankündigungen direkt in Ihr E-mail-Postfach geliefert.
Renata Jungo Brüngger verantwortet als Vorständin der Mercedes-Benz Group AG die Themen Integrität, Governance und Nachhaltigkeit. Im Interview über die Zukunft des Konzerns setzt sie eine klare Botschaft: Fortschritt braucht Mut, Zusammenarbeit – und angesichts der jüngsten Entwicklungen auch viel Geduld.
Renata Jungo Brüngger ist öfters in ihrer Heimat. Zwar verbringt die Vorständin der Mercedes-Benz Group die Woche stets in Stuttgart, an den Wochenenden oder in den Ferien ist sie jedoch in der Schweiz – und so treffen auch wir die Managerin in Zürich, um mit ihr über Technologie, Innovation, Regulierung und Verantwortung zu sprechen.Die Woche, in der wir Jungo Brüngger treffen, darf durchaus als turbulent bezeichnet werden, denn just vor unserem Interview wurde nicht nur Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt, auch die deutsche Ampelkoalition ging in die Brüche. Für einen Konzern, der sein Hauptquartier in Deutschland hat und in den USA 2023 rund 35 Mrd. € Umsatz erzielte, sind das sehr relevante geopolitische Entwicklungen, wie Jungo Brüngger bestätigt.
„Die Wahlen in den USA waren natürlich schon seit Monaten ein Thema“, so Jungo Brüngger. „Es stellen sich viele Fragen, vor allem natürlich auch handelspolitische. Das muss man jetzt alles beobachten.“ Es ist ein weiterer Unsicherheitsfaktor in einem sowieso schon anspruchsvollen Jahr für Mercedes-Benz – wie auch für die gesamte Autobranche: In den ersten neun Monaten des Jahres 2024 verdiente der Konzern 7,9 Mrd. €, das sind 31 % weniger als im Vorjahreszeitraum. Die Gründe sind vielfältig, haben aber auch mit schwierigen Wirtschaftsbedingungen zu tun, die durch politische Instabilität noch grösser werden könnten.
Jungo Brüngger lässt sich aber nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Seit 2016 ist sie Vorständin bei der Mercedes-Benz Group AG, ihre Aufgabengebiete sind Integrität, Governance und Nachhaltigkeit. Damit sitzt sie auf zentralen Bereichen, um Mercedes-Benz in eine positive Zukunft zu führen – denn autonomes und automatisiertes Fahren, der Umgang mit Daten im Strassenverkehr, aber auch die Transformation zur E-Mobilität fallen damit allesamt in ihren Bereich.
Doch die Schweizerin sieht all das als Treiber für die Zukunft. „Innovation ist in der DNA unseres Unternehmens“, so die Vorständin. Doch sie mahnt – auch hier lassen sich durchaus diametrale Unterschiede zwischen Europa und den USA erkennen –, dass der regulatorische Rahmen in Europa die Entfaltung dieses Potenzials erschwert: „In Europa wird schnell und strikt reguliert. Das schränkt den Raum für Innovation oft ein.“ Der globale Wettbewerb mache es erforderlich, dass sich Europa anpasst, ohne jedoch zentrale Werte wie Datenschutz und Nachhaltigkeit zu opfern. „Wir brauchen eine Balance. Regulierung ist gut, wenn sie Planungssicherheit bietet und gleiche Standards setzt – für Unternehmen und Verbraucher. Sie darf Innovationen aber nicht ersticken“, so Jungo Brüngger.
Als globales Unternehmen steht Mercedes-Benz vor besonderen Herausforderungen. „Wir sind in nahezu allen Ländern der Welt tätig und müssen uns an viele unterschiedliche Rahmenbedingungen anpassen“, erklärt die Vorständin. Diese Vielfalt erfordert strategische Weitsicht und eine klare Priorisierung.
Ein Beispiel ist die Elektromobilität: Während Länder wie China grosse Fortschritte beim Aufbau der Infrastruktur machen, bleibt Europa in vielen Bereichen zurück. „Die Infrastruktur ist ein wesentlicher Schlüssel, und hier müssen alle Beteiligten – Unternehmen, Politik und Gesellschaft – kooperieren“, sagt Jungo Brüngger.
Die Transformation zur E-Mobilität bereitet derzeit allen europäischen Herstellern Kopfzerbrechen. Bei Volkswagen wird eine emotionale Debatte über erstmalige Werkschliessungen in Deutschland geführt, der schwedische Hersteller Volvo verkaufte die Mehrheit seiner Anteile an der E-Auto-Tochter Polestar an den chinesischen Hersteller Geely, auch BMW und Stellantis legten zuletzt schwache Zahlen vor.
Doch vom Weg abzuweichen ist keine Option, denn die Umstellung auf Elektromobilität ist ein zentraler Bestandteil der Mercedes-Benz-Strategie. Bis 2039 plant das Unternehmen mit dem Projekt „Ambition 2039“, eine CO2-neutrale Flotte auf den Markt zu bringen – eine ambitionierte Aufgabe, die nicht nur technologische Innovation, sondern auch eine gesellschaftliche Transformation erfordert. Dass diese zuletzt zumindest ins Stocken geriet, gibt auch Jungo Brüngger zu: „Die Geschwindigkeit der Skalierung ist nicht so, wie wir uns das vor drei oder vier Jahren noch erhofft haben. Die Kunden sind oft noch nicht bereit, umzustellen.“ Gründe dafür sind unter anderem die Reichweitenangst, Unsicherheiten beim Wiederverkaufswert und die noch immer mangelnde Infrastruktur.
Dennoch bleibt Jungo Brüngger optimistisch: „Die Elektromobilität ist die Zukunftstechnologie, sie bietet klare Vorteile für die Umwelt. Ich finde aber auch, dass das elektrische Fahren dem Fahren mit Verbrenner in sehr vielen anderen Dingen weit überlegen ist. Immer mehr Kunden werden das erleben und umstellen.“ Mercedes-Benz hat eine klare Elektro-Offensive gestartet: In den Jahren 2025 und 2026 sollen zahlreiche neue Elektrofahrzeuge auf den Markt kommen, die nicht nur technologisch, sondern auch in puncto Design überzeugen.
Es wird noch eine Zeit lang dauern, bis autonomes Fahren in der Breite Wirklichkeit wird.
Renata Jungo Brüngger
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Nach- haltigkeit in der Lieferkette. „Die Herstellung von Batteriezellen ist energieintensiv und die Rohstoffe kommen oft aus Regionen mit erhöh- tem Risiko für Menschenrechtsverletzungen“, erklärt Jungo Brüngger. „Mercedes-Benz setzt daher neben klaren Nachhaltigkeitsanforderun- gen in den Lieferketten zunehmend auch auf Recycling und neue Technologien, um die Ab- hängigkeit von Primärressourcen zu verringern. Unser Ziel ist es, eine nachhaltige und faire Wert- schöpfungskette zu schaffen.“
Neben der Elektromobilität ist künstliche In- telligenz ein weiterer Schlüsselbereich, der die Zukunft von Mercedes-Benz prägt. Das Unter- nehmen setzt KI in vielen Bereichen ein – von
der Produktionssteuerung über die Kunden- kommunikation bis hin zum autonomen Fahren. „KI ist für uns ein Werkzeug, das Effizienz und In- novation ermöglicht. Aber sie bringt auch grosse Verantwortung mit sich“, sagt Jungo Brüngger.
Mercedes-Benz hat bereits 2019 ethische Prinzipien für den Einsatz von KI definiert. „Un- sere Grundsätze umfassen den verantwortungs- vollen Einsatz, Erklärbarkeit, Sicherheit und Zuverlässigkeit sowie den Schutz der Privat- sphäre. Übergeordnet muss der Kunde darauf ver- trauen können, dass wir verantwortungsvoll mit der Technologie umgehen“, so die Vorständin.
Ein Beispiel ist der Einsatz von KI im autonomen Fahren. „Sicherheitskritische Funktionen werden nur in kontrollierten Umgebungen weiterentwickelt. Wir wollen sicherstellen, dass diese Technologien zu- verlässig sind, bevor sie auf die Strasse kommen“, so Jungo Brüngger. Doch auch im Alltag spielt KI eine immer grössere Rolle – Mercedes-Benz hat ein eigenes internes System entwickelt, das auf generativer KI basiert und in verschiedenen Abteilungen eingesetzt wird.
Doch auch hier geht der Wandel nicht so schnell wie gedacht. Rechneten vor einigen Jah- ren auch Experten noch damit, dass autonomes Fahren heute bereits weitverbreitet sei, führten re- gulatorische Hürden und fehlende gesellschaftli- che Akzeptanz auch hier zu einer Verlangsamung der Veränderungsgeschwindigkeit. „Es wird noch eine Zeit lang dauern, bis autonomes Fahren in der Breite Wirklichkeit wird. Die gesetzlichen Rege- lungen dafür sind auch noch nicht vollumfänglich da. Wir können in Deutschland mit 95 Stunden- kilometern hoch automatisiert fahren. Sie dürfen dabei E-Mails checken oder etwas lesen, müssen aber natürlich immer bereit sein, wieder das Auto zu übernehmen, wenn das System es Ihnen an- zeigt“, so die Managerin.
Für Jungo Brüngger ist das ein notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zum autonomen Fahren, um insbesondere die Akzeptanz der Ge- sellschaft vorzubereiten. Doch auch die Techno- logie sei noch nicht ganz angekommen: „Die Ak- zeptanz in der Gesellschaft ist meiner Meinung nach noch nicht vollständig da, und die Technik, gerade auch für komplexe Verkehrssituationen, muss sich noch weiterentwickeln.“
Dass hier die Regulierung eine wichtige Rolle spielt, ist klar. Doch für Jungo Brüngger ist das Thema ein zweischneidiges Schwert: Einerseits schafft sie klare Rahmenbedingungen, die Innova- tion fördern können; andererseits kann sie, wenn sie zu umfangreich oder schlecht koordiniert ist, Unternehmen lähmen. „Die DSGVO ist ein gutes Beispiel für Regulierung mit einigen positiven As- pekten. Sie setzt europaweit Standards und strahlt durchaus auch weltweit ab“, sagt Jungo Brüng- ger. Doch in anderen Bereichen sieht sie Nachhol- bedarf: „Im Bereich Nachhaltigkeit haben wir es mit einem Tsunami an Vorschriften zu tun. Un- ternehmen müssen oft die gleichen Informatio- nen mehrfach in unterschiedlichen Formaten im Hinblick auf verschiedene Regulierungen berich- ten. Das ist ineffizient und kostet wertvolle Res- sourcen.“ Jungo Brüngger plädiert deshalb für eine stärkere Harmonisierung und Vereinfachung der Regulierung in Europa: „Wir brauchen einheitliche Standards, die sowohl den Anforderungen der Un- ternehmen als auch den Bedürfnissen der Gesell- schaft gerecht werden.“
Es ist also viel in Bewegung und viel zu tun für Mercedes-Benz und Renata Jungo Brüngger. Doch wie sieht die Zukunft des Konzerns aus? Für die Vorständin steht fest, dass der Weg kein einfacher sein, sich aber lohnen wird: „Es wird kein Sprint, es wird ein Marathon – oder, wie wir Schweizer sagen würden: eine Passfahrt.“
Renata Jungo Brüngger studierte Rechtswissenschaften an der Universität Freiburg und erlangte 1989 das Anwaltspatent. Sie war als Rechtsanwältin tätig; 2000 wurde sie Vice President and General Counsel EMEA bei Emerson Electric. Seit 2011 ist sie bei der Mercedes-Benz Group (zuvor Daimler AG), seit 2016 als Vorständin.
Fotos: Lukas Lienhard