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Novartis verlost 100 Dosen eines Wirkstoffs gegen Muskelschwund bei Kleinkindern. Entscheidet in Zukunft der Zufall über Leben oder Tod? Eines steht fest: Gesundheit darf nicht zum Gegenstand einer Glückslotterie werden.
Fast scheint es so, als hätte der Film „Contagion“ den derzeitigen Ereignissen auf der Welt als Vorlage gedient: In diesem bricht in Asien ein Virus aus, das sich über die ganze Welt verteilt und die Erdbevölkerung in einen Ausnahmezustand versetzt. Im Film wird das Virus schliesslich analysiert und in kürzester Zeit ein Impfstoff hergestellt – dessen Menge jedoch nicht ausreicht, um allen Erkrankten zu helfen. Es folgt ein Kampf um die Impfstoffe, Entführungen und Erpressungen inklusive. Dazu kam es im Zusammenhang mit dem Coronavirus Covid-19 zwar noch nicht; die Frage, die sich dabei jedoch stellt, ist: Was passiert, wenn auch in der Realität ein Mittel gegen ein Virus gefunden wird, das die ganze Menschheit in Panik versetzt? Preise für Medikamente sind seit Langem Gegenstand von Debatten – nicht zu Unrecht, wie das neueste Beispiel von Novartis und dessen Wirkstoff gegen Muskelschwund bei Kleinkindern zeigt: Zolgensma kostet 2,1 Millionen US-$. Eine Dosis davon reicht, um ein Kind zu heilen.
Weltweit hat etwa eines von 10.000 Neugeborenen Muskelschwund. Allein in Deutschland kommen Schätzungen zufolge jährlich 50 Kinder mit der schweren Form der Erkrankung, SMA Typ I, zur Welt. Novartis will nun mit seinem selbst ernannten „Härtefallprogramm“ 100 Dosen des Wirkstoffs verlosen. Denn anders als in den USA befindet sich das Medikament in Europa erst in der Zulassungsphase – die Krankenkassen übernehmen die Kosten für Patienten daher nicht. Für den Grossteil der Bevölkerung ist Zolgensma somit zu teuer, um es sich privat leisten zu können.
Der hohe Preis des Medikaments kommt dabei aber nicht von ungefähr, denn für die Entwicklung von Medikamenten sind hohe Investitionen – laut Novartis je nach Wirkstoff zwischen 800 Millionen und zwei Milliarden US-$ – nötig. Zudem ist die Pharmaforschung ein Hochrisikospiel: Von 10.000 Substanzen, mit denen Pharmafirmen experimentieren, schafft es nur eine einzige bis zur Zulassung.
Dennoch ist die Lotterie von Novartis kein gut durchdachtes „Härtefallprogramm“, sondern ethisch höchst bedenklich – und es könnte Entwicklungen anstossen, die die Grundfesten der Solidargemeinschaft erschüttern. Entscheidet letztendlich nur noch der Zufall über Leben und Tod? Oder wird in Zukunft sogar diejenige Person (über)leben, die ausreichend Vermögen besitzt, um sich eine exklusive medizinische Behandlung leisten zu können?
Novartis hätte klare, transparente Kriterien für die Verabreichung des Medikaments festlegen müssen. Das Argument, aus einer Drucksituation heraus gehandelt zu haben, gilt insofern nicht, als mit Spinraza bereits eine alternative Therapie existiert, die laut Experten um nichts schlechter ist. Leben kann und darf nicht zum Gegenstand einer Glückslotterie werden. Der Ansatz von Novartis für Deutschland, zusätzlich zur Verlosung das Medikament nun zunächst für einen symbolischen Preis von zehn Euro zu verkaufen und mit den Krankenkassen eine Nachzahlung für den Fall der Zulassung zu vereinbaren, klingt da schon besser. Dass dieses Einlenken erst nach Kritik kam, ist jedoch ernüchternd.
Zudem bleibt die grundsätzliche Problematik bestehen. Denn es gibt ethische Grenzen, an denen auch die freie Wirtschaft haltmachen muss. Wenn Gesundheit (und das Leben Einzelner) zu einem Rohstoff wird, ist das „Contagion“-Szenario wohl gar nicht so weit von der Realität entfernt.
Text: Andrea Gläsemann
Hierbei handelt es sich um den Leitartikel unserer Februar-Ausgabe 2020 „Space“.