Ein Hammer-Typ

Als Informatiker, Arzt, Mehrfachgründer und CEO von Amboss hat Madjid Salimi die Aus- und Weiterbildung von Ärzten revolutioniert. Jetzt geht er einen Schritt weiter: Im April 2024 verkündeten sein Team und er die Übernahme der Wissensplattform des renommierten New England Journal of Medicine – mit dem Ziel, die evidenzbasierte Medizin weltweit voranzubringen und für alle zugänglich zu machen.

Geht es nach Madjid Salimi, studierter Arzt und Co-Gründer sowie Co-CEO von Amboss, sollten die Prüfungen im Medizinstudium radikal verändert werden. Als Beispiel nennt er die Medizinabschlussprüfung: „Man besteht mit nur 60 % richtiger Antworten im Multiple-Choice-Fragebogen. Du kannst im übertragenen Sinne jemanden umbringen in der Prüfung – und du ­bestehst trotzdem!“, sagt Salimi im Videocall. Er ist aus Berlin zugeschaltet, dem grössten Amboss-Standort neben Köln, New York und einem Büro in Cagliari, Sardinien.

Ihm zufolge gab es noch nie jemanden, der alles richtig beantwortet hat; „für mich ist das realitätsfern“. Salimi würde lieber eine Medizinausbildung sehen, in der Studenten nicht alles auswendig ­lernen müssen, sondern sämtliche Wissensressourcen nutzen dürfen – „Internet, Amboss, was weiss ich“ –, dafür aber unter Zeitdruck arbeiten und mit einer Null-Fehler-Toleranz konfrontiert sind. Wie in der Realität eben. „Im Accounting dürfen ja auch Taschenrechner verwendet werden“, sagt Salimi. Seine Plattform Amboss ist eine digitale Wissens- und Lernstruktur für Medizinstudenten und Ärzte, die 2012 in Köln gelauncht wurde.

Heute hat Amboss ein globales Netzwerk von vier ­Millionen Nutzern, von denen 500.000 regel­mässig aktiv sind. Die Kunden sind Ärzte, Studenten und B2B-Institu­tionen; zu Letzteren gehören renommierte Namen wie NYU, Yale oder die Mayo Clinic in den USA sowie 90 % aller medizi­nischen ­Fakultäten in Deutschland und diverse Kliniken in der DACH-Region wie Helios, die grösste europäische Klinikkette. Die Kosten für Amboss betragen 200 € pro Jahr für Klinikärzte, 300 € pro Jahr für Hausärzte und 100 € pro Jahr für Studenten. Kürzlich wurden in Deutschland auch Pflegekräfte als Nutzergruppe hinzugefügt. Der Umsatz von Amboss liegt bei mehr als 50 Mio. € im Jahr, insgesamt flossen bislang 35 Mio. € an Wagniskapital in das Unternehmen, unter anderem von Partech und Cherry Ventures.

Madjid Salimi war nicht immer im Medizinbereich tätig – sei­ne Karriere startete er im E-Commerce. Im Jahr 2000, während seines Wirtschaftsinformatik­studiums, gründete er zusammen mit einem Freund das Software­unternehmen Tompower. Die Idee für dieses Geschäftsprojekt sei im Wesentlichen eine Einkaufs­gemeinschaft gewesen, bei der sich Studenten zusammentun und ihre Einkaufskraft bündeln können, um gemeinsam Massenrabatte für verschiedene Produkte zu bekommen. „Je mehr Leute mitmachen, desto niedriger wird der Preis für jeden Einzelnen“, erklärt Salimi die damalige Idee. Das Konzept und das Preismodell seien darauf ausgelegt gewesen, die Weiterempfehlung durch Freunde und eine hohe virale Verbreitung zu fördern. Nach anfänglichem Erfolg scheiterte das Vorhaben im Zuge der Dotcom-Krise. Salimi und sein Co-Gründer sahen sich gezwungen, ihr Unternehmen umzustrukturieren. „Wir haben dann gepivotet, wie man heute sagen würde, und unter dem Namen Netempire für andere Kunden Websites gebaut und Geschäftsprozesse digitalisiert“, erzählt er.

Das lief gut. Bald beschäftigte das Unternehmen mehr als 20 Mitarbeitende, führte unter anderem die erste Online-Frankierung von DHL ein und leistete Pionierarbeit bei der Entwicklung eines KI-gesteuerten Onlinebanking-Systems für eine Privatbank, das Bonitätsprüfungen und -genehmigungen in Echtzeit ermöglicht.

Doch trotz seines Geschäftserfolgs fehlte dem jungen Salimi etwas, insbesondere der Sinn in seinem Tun: „Ich habe mich gefragt, ob ich das mein Leben lang machen will“, sagt er; „Prozesse optimieren, damit Leute im Internet innerhalb von Sekunden Kredite aufnehmen können.“ Im Jahr 2004 habe er sich dann eine Auszeit genommen, sei „ein bisschen herumgereist“ und in Südafrika in einem Krankenhaus als Volunteer gelandet. „Ich fand die Arbeit dort sehr motivierend, weil man das Gefühl hat, dass man wirklich etwas im Leben anderer Menschen bewirken kann, gerade bei Kindern“, sagt Salimi. Dort habe er sich dann dafür entschieden, Medizin zu studieren, wie auch sein Vater und sein Bruder. Dank seiner unternehmerischen Auszeit bekam Salimi noch im ­gleichen Jahr einen Medizin­studienplatz in Göttingen – „eigentlich war mein Numerus clausus zu schlecht“, gesteht er.

Während seiner Tätigkeit als Volunteer in einem Krankenhaus in Südafrika beschloss Salimi, Medizin zu studieren. „Ich fand die Arbeit dort sehr motivierend, weil man das Gefühl hat, dass man wirklich etwas im Leben anderer Menschen verändern kann“, sagt er.

Dort lernte Salimi dann auch seine künftigen Amboss-Co-Gründer Kenan Hasan und Sievert Weiss kennen. „Wir haben zusammen für das Physikum gelernt, die erste grosse Prüfung. Das war eine tolle Erfahrung – aber wir haben damals bereits darüber diskutiert, dass das Produkt, das es für die Examensvorbereitung gab, nicht gut war. Ich habe mir das aus einer technischen Sicht angeschaut, weil ich ja programmieren konnte. Auch im Krankenhaus war es so: Ich habe mir die Software, die es gab, angeschaut, und mich darüber gewundert.“ Er habe sich gedacht: „Bis ich Arzt bin, hat sich das alles verändert.“

Doch es war nicht so. 2011 starteten Salimi, Hasan und Weiss – inzwischen approbierte Ärzte – zusammen mit einer Gruppe von weiteren Ärzten dann die Arbeit an Amboss. Ihre Vision: die Aus- und Weiterbildung von Medizinern zu verbessern. Der Name Amboss habe dabei eine doppelte Bedeutung: „Einerseits verweist er auf das sogenannte Hammerexamen, das damals als besonders schwer galt; andererseits auf den kleinen Knochen im Ohr – den Amboss –, der stellvertretend für das ständige Begleiten und Unterstützen der Ärzte stehen soll“, sagt Salimi. Das wüssten die wenigsten: „Viele denken, Amboss steht für ‚American Medical Boss‘“, sagt er schmunzelnd.

Der Anfangsfokus von Amboss habe auf der ­Examensvorbereitung von angehenden Ärzten gelegen, „weil das so ein Pain Point ist“, sagt Salimi. Die Idee war es, eine Plattform zu schaffen, die den Studierenden nicht nur beim Lernen hilft, sondern sie auch während ­ihrer ­gesamten medizinischen ­Karriere begleitet. Das Besondere am Amboss-Konzept ist der „Dynamic Depth“-Ansatz, mit dem man schrittweise in die Tiefe eines Themas einsteigen kann, ohne dass man mit irrelevanten Infos über­laden wird.

Für die Verwirklichung ­seiner ­Vision sammelte das Amboss-Team 2013 die erste Angel-Runde über 500.000 € ein. Die Geldgeber waren Salimis eigenes Unternehmen Netempire (das es übrigens immer noch gibt), Dierk Wehrmeister, Unternehmensberater und Salimis Mentor, sowie die Ärztin Anna Schuster. Neben der Arbeit an ihrem Start-up arbeiteten die drei Gründer in der Anfangszeit am Wochenende noch immer als Ärzte in der Klinik.

Nach dem Launch ihrer digi­talen Lernplattform hiess es erst einmal, Studenten von der Plattform zu überzeugen. Hier konnte Salimi mit seinem E-Commerce-Wissen punkten: „Wir haben Roadshows an Universitäten gemacht und gleichzeitig Gruppenrabatte angeboten“, so Salimi. „Manchmal haben wir die Studenten zum Mittagessen eingeladen und ihnen dabei von unserem Produkt erzählt.“ Ziel sei immer gewesen, Early Adopter zu finden und eine kritische Masse von rund 20 % zu überzeugen, um schliesslich eine Situation zu kreieren, in der sich das Angebot herumspricht. „Das haben wir immer wieder so gemacht, auch beim Eintritt in neue Märkte. Wir geben kaum Geld für Marketing aus, das meiste kommt über persönliche Weiterempfehlungen.“

Und das mit Erfolg: In Deutschland nutzen inzwischen über die Hälfte aller Klinikärzte Amboss. „Mit bald 100.000 Zugängen hat bereits jeder vierte Arzt bzw. Ärztin in Deutschland eine aktive Mitgliedschaft bei Amboss, einschliesslich niedergelassener Hausärzte“, sagt Salimi. Seit 2018 ist Amboss auch in den USA aktiv.

Die Weiterempfehlungen funktionierten, da Salimi und sein Team einerseits als Ärzte selbst nah an der Zielgruppe sind und andererseits einen Fokus auf „Qualität über Quantität“ legen: Auf die Plattform kämen nur evidenz­basierte Erkenntnisse. Von den rund 500 Mitarbeitern bei Amboss sind über 100 Ärzte und Ärztinnen, die für die Qualitätssicherung verantwortlich sind. Über Kommentar­funktionen können die Nutzenden bei Amboss zudem Feedback einreichen, um die Lerninhalte weiter zu optimieren. „Wir haben keine Toleranz für Fehler“, sagt Salimi. „Unser Ziel ist es, weltweit ein Co-Pilot für Ärzte zu werden und Wissen so zu überführen, dass es praktisch und handlungs­fähig ist.“

Der Amboss ist einer der kleinen Knochen im Ohr – er soll stellvertretend für das ständige Begleiten und Unterstützen der Ärzte stehen. Viele denken, Amboss steht für ‚American Medical Boss‘.

 

 

Madjid Salimi

Ende April wurde bekannt, dass Amboss NEJM Knowledge+ übernimmt, die Wissensplattform des New England Journal of Medicine (NEJM), laut Salimi der „Ferrari in der Medizin“. „Wenn jemand dafür publizieren darf, ist das wie der Oscar der Medizin. Die haben nur die grössten und wichtigsten Themen, und das bereits seit 1812. Es gibt zwar alles Mögliche an Digitalisierung und so weiter, aber das ist immer noch die Nummer eins.“

Wie viel Amboss für NEJM Knowledge+ gezahlt hat, darf ­Salimi nicht verraten. Günstig dürfte die Akquisition nicht ge­wesen sein, denn neben einem starken Marken­namen und einer umfassenden Wissensplattform sichert sich Amboss dadurch auch neue Kunden: In den USA gewinnt Amboss schlagartig 300 Kliniken dazu, die bislang NEJM Knowledge+ eingesetzt haben. Insgesamt stellt die Ak­quisition einen wichtigen Schachzug in einem Business, in dem die grösste Schwierigkeit ist, eine ­kritische Masse an Nutzern zu erreichen, dar.

Der Informatiker, Arzt und Unternehmer Madjid Salimi gründete Amboss, eine digitale Lernplattform für Medizinstudenten, im Jahr 2012 gemeinsam mit mehreren anderen Ärzten, nachdem er während seines Medizinstudiums die Schwächen der damals gängigen digitalen Lernplattformen beobachtet hatte. Heute wird Amboss weltweit von Medizinstudenten und Ärzten genutzt.

Text: Insa Schniedermeier
Fotos: Amboss

Forbes Editors

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