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Mit 14 Jahren beschloss Valentin Dragnev, sich ganz dem Schachspiel zu widmen und sein Hobby zum Beruf zu machen. Seitdem wurde er Grossmeister, österreichischer Meister und nahm an Europa- und Weltmeisterschaften teil. Nun steht der Under 30-Listmaker vor einer neuen Herausforderung: Soll er weiterhin versuchen, die Weltspitze im Schach zu erreichen, oder den Schritt ins Unternehmertum wagen?
Budva, Montenegro, 2023. Die Mannschaftseuropameisterschaften im Schach sind in vollem Gange. Das österreichische Team holte in den ersten beiden Runden drei von vier möglichen Punkten; gegen die auf Rang zwei gesetzten Rumänen erzielte es sogar ein Unentschieden. Der damals 24-jährige Valentin Dragnev trat dabei ausgerechnet gegen den Weltranglistenersten Magnus Carlsen an, der seit acht Jahren erstmals wieder bei einer EM dabei war. Dragnev spielte mit Weiss und eröffnete mit dem „King’s Pawn Opening“, woraufhin Carlsen mit der „Sicilian Defence“ konterte. In den folgenden 66 Zügen brachte der Österreicher Carlsen immer wieder ins Schwitzen. Dragnev sagte: „Ich habe ihn voll überspielt und stand auf Gewinn. Das ist bei einem Spiel gegen Carlsen sehr selten der Fall.“ Am Ende einigten sich die beiden Grossmeister auf ein Remis. Für Dragnev war es dennoch ein Erfolg: „Das Spiel gegen Carlsen war wohl eines der wichtigsten meiner Karriere bisher.“
Valentin Dragnev kam als Kind erstmals mit dem Schachspielen in Berührung – gemeinsam mit seinen Eltern spielte er in seiner Freizeit immer wieder Freundschaftspartien. Später besuchte er dann regelmässig mit seinem Vater Wiener Schachcafés und besiegte dort die um einiges ältere Stammkundschaft. „Die Schachcafé-Kultur gibt es in Wien nicht mehr“, sagt er. „Damals sass ich meistens als einziges Kind unter einer Vielzahl älterer Herren, die den ganzen Tag einfach nur Schach spielten. Ich denke, die Zeit, die ich dort verbracht habe, hat mich später dazu motiviert, das Hobby Schach zu meinem Beruf zu machen“, so Dragnev. Die ersten Turniere spielte der heutige Schachgrossmeister mit zehn Jahren. Laut Dragnev ist das vergleichsweise spät, um mit dem kompetitiven Schach zu beginnen: „Es gibt Kinder in Indien, die schon mit zwölf oder 13 Jahren ihren Grossmeistertitel erhalten. Dort gibt es eine ganz andere Schachkultur als in Österreich“, so Dragnev.
Mit 14 Jahren beschloss er, sich voll und ganz auf seine Schachkarriere zu konzentrieren. Dragnev verliess die Regelschule, um seine schulische Laufbahn als Externist fortzusetzen und so mehr Zeit für Schach zu haben. Als Externist musste Dragnev sich den gesamten Schulstoff der Oberstufe selbstständig ohne Lehrerhilfe erarbeiten. Ein Risiko für den damals 14-Jährigen? „Nein, nicht wirklich“, antwortet Dragnev und fügt hinzu: „Alle um mich herum sagten, ich solle erst meine Schulausbildung abschliessen und mich erst danach auf meine Schachkarriere konzentrieren, aber ich war sehr selbstbewusst und dachte mir: ‚Ich schaffe das schon irgendwie.‘ Ich glaube, hätte ich mich nicht so früh auf das Schachspielen konzentriert, wäre ich nie so weit gekommen.“
Sowohl international als auch national war Dragnev bisher durchaus erfolgreich: 2013 gewann er die Europameisterschaft in der U15-Klasse und ein Jahr später die U16-Europameisterschaft in Tallinn. Dragnev wurde damit, gemeinsam mit Florian Mesaros, der damals den U14-Bewerb gewann, der erste österreichische Schach-Europameister. 2016 erreichte er eine ELO-Zahl (eine Wertung, die die Spielstärke beschreibt; je höher die Zahl, umso besser der Spieler; Anm.) von 2.400 und erhielt den Titel des Internationalen Meisters – als jüngster Österreicher überhaupt. Zwei Jahre später erlangte er den Grossmeistertitel und wurde erneut der jüngste Österreicher mit diesem Titel. „Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich irgendwann den Grossmeistertitel bekommen werde. Natürlich war es trotzdem ein unglaublich wichtiger Moment für mich – wobei der Titel nie mein Endziel war, sondern eher ein ,Auf-dem-Weg-Ziel‘“, so der Grossmeister. Auf dem weiteren Weg gewann er 2022 das Wiener Grossmeisterturnier, qualifizierte sich 2023 für den World Cup und wurde vor Kurzem erneut österreichischer Meister. „Mein Ziel ist es einfach, mein gesamtes Potenzial auszuschöpfen und dabei auch andere zu motivieren, mit Schach anzufangen“, so Dragnev.
Mittlerweile verdient der Grossmeister neben Gewinnsummen von Turnieren auch als Schachtrainer und Journalist für ein Schachmagazin sein Gehalt. „Um tatsächlich nur mit Turnieren gut Geld zu verdienen, muss man wirklich auf einem sehr hohen Level spielen, da es nur wenige Sponsoren für Schachspieler gibt“, so Dragnev. So bescherten beispielsweise laut chess.com die Siege bei der Champions Chess Tour (CCT), dem Norway-Chess-Turnier und die beiden Weltmeistertitel im Blitz- und Schnellschach im Jahr 2022 dem Norweger Magnus Carlsen fast 560.000 US-$, was ihn zum bestverdienenden Schachspieler der Welt macht. Davon ist Dragnev noch weit entfernt: Der Grossmeister sucht derzeit nach Sponsoren, was in Österreich schwierig ist. „Ich verstehe wirklich nicht, warum sich so wenige österreichische Unternehmen für den Schachsport interessieren. Beim World-Cup-Finale letztes Jahr haben online im Livestream fast zweieinhalb Millionen Menschen zugeschaut. Der Sport hat ein gutes Image und ist in den letzten Jahren immer beliebter geworden“, so Dragnev. Tatsächlich ist der Sport seit 2020 regelrecht explodiert. Während Anfang Oktober 2020 die grösste internationale Schach-Website chess.com rund 43 Millionen Accounts zählte, waren es Ende 2023 laut Angaben der Website 156 Millionen. „Von dem einen auf den anderen Tag haben plötzlich alle in der Strassenbahn am Handy Schach gespielt“, erinnert sich Dragnev zurück. Für den Grossmeister ist diese Entwicklung sehr positiv; schon lange setzt er sich dafür ein, mehr Menschen für das Schachspiel zu begeistern. „Schach ist ein Spiel, das die Persönlichkeitsentwicklung fördert. Du bist vollständig für deinen eigenen Erfolg verantwortlich und kannst dich nicht auf äussere Einflüsse ausreden. Gleichzeitig lernt man Durchhaltevermögen und Fokussierung. Es ist einfach ein unglaublich toller Sport, der, denke ich, vielen Kindern und auch Erwachsenen bei ihrer Entwicklung helfen kann“, so Dragnev.
Daher will sich der Schachspieler in Zukunft noch stärker für die Förderung der nächsten Generation von Grossmeistern einsetzen. Ob dies eine Schachschule, ein Schachcafé oder etwas ganz anderes sein wird, lässt Dragnev offen: „Ich stehe momentan an einem Wendepunkt: Soll ich meinen ganzen Fokus auf meine Schachkarriere richten – oder soll ich unternehmerisch tätig werden, um so neue Spieler zu fördern?“, fragt sich Dragnev. Er fügt hinzu: „Fakt ist, dass je besser meine Leistung bei Turnieren ist, desto grösser auch mein Einfluss auf die Schachwelt und die Popularität des Spiels ist. Um bessere Leistungen bringen zu können, braucht es aber mehr Sponsoren.“ Sorgen um die Zukunft macht Valentin Dragnev sich jedenfalls nicht, denn das Spiel der Könige wird ihn auf jedem seiner Wege begleiten.
Fotos: Daniel Gepp