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Das japanische Wort „Ikigai“ lässt sich frei als „die Freude und der Lebenssinn“ übersetzen. Die Lehre dahinter beschreibt ein Framework, das jeden zu seinem Ikigai führen soll. Was esoterisch klingt, enthält jedoch viele Lektionen für Führungskräfte, sagt Bodo Schlegelmilch, der neue Interim Dean der WU Executive Academy.
Als die WU bei Bodo Schlegelmilch anklopfte und ihn fragte, ob er keine Pause von der Pension brauche und die Executive Academy (EA) leiten wolle, dachte er sich: „Been there, done that.“ Schliesslich ist der Deutsche schon bei der Gründung im Jahr 2005 mit dabei gewesen. Als dann aber erwähnt wurde, dass die MBA-Schule ein einjähriges Strategy Review plant, konnte Schlegelmilch nicht widerstehen – zu viel Spass macht dem Marketing-Professor diese Art von Arbeit, die er als sein Hobby bezeichnet. Und er ist gut darin: Schlegelmilch war viele Jahre Vorsitzender der Association of MBAs in London, einer der drei wichtigsten Akkreditierungsinstitutionen für MBAs, und hat letztes Jahr das Buch „The MBA Compass“ herausgebracht. Er lacht: „Ich bin einfach ein schlechter Pensionist!“
Was Schlegelmilch beschreibt, lässt sich mit einem alten japanischen Wort zusammenfassen: Ikigai. „Iki“ bedeutet so viel wie „Leben“, „kai“ bezeichnet den Sinn, einen Effekt, ein Ergebnis oder einen Nutzen. Die Zusammensetzung „Ikigai“ kann also als „Lebenssinn“ oder „das, wofür es sich lohnt, zu leben“ übersetzt werden. Das Konzept ist tief in der japanischen Kultur verwurzelt; seinen Weg in die westliche Welt hat Ikigai Mitte des 20. Jahrhunderts gefunden. Dort wird es vor allem als Weg zur Selbstoptimierung verstanden, wobei nicht nur die Produktivität, sondern auch das eigene Wohlbefinden wichtig ist.
„Ikigai hat vier Dimensionen“, erklärt Klara Palucki, die als Programm-Managerin an der WU Executive Academy arbeitet und einen Blog zu diesem Thema schreibt. „Was liebe ich?“, ist die erste Frage, die jeder beantworten muss, der sein Ikigai finden möchte – der Sinn des Lebens muss Spass machen. Dann: „Worin bin ich gut?“ Beisst man sich an seinem Job die Zähne aus, wird man langfristig keinen Erfolg finden (das Ikigai muss kein Job sein, die Beschäftigung damit kann aber helfen, den richtigen Beruf zu finden). Die dritte Frage lautet: „Was braucht die Welt?“ Die eigene Tätigkeit soll nicht nur einem selbst dienen, sondern auch einen Nutzen für die Gesellschaft stiften. Letztendlich: „Wofür kann ich bezahlt werden?“ Geld verdienen muss man schliesslich immer noch.
Das Ganze mag etwas vage wirken. Trotzdem lassen sich aus Ikigai viele wichtige Leadership-Lehren und Unternehmensstrategien ableiten, die gerade in turbulenten Zeiten Halt und Orientierung geben. „Bei jeder Tätigkeit sollten wir uns die Frage stellen: Warum mache ich das?“, sagt Palucki.
Ikigai ist wie ein Rezeptbuch, um den Purpose eines Unternehmens zu finden.
Bodo Schlegelmilch
Sie muss es wissen, hat sie doch selbst die Suche nach ihrem Ikigai durchgemacht. „Ich habe spät studiert: Mit 41 Jahren habe ich meinen Bachelor in Unternehmensführung und Personalmanagement gemacht“, erzählt Palucki. Als sie nach dem Abschluss nicht sofort einen Job fand, „habe ich dieses Buch in meinem Bücherregal wiederentdeckt“. Gemeint ist eines von vielen Büchern, die ihre Leser zum Ikigai führen wollen. Palucki beantwortete die Fragen für sich und coachte dann vor ihrer neuen Aufgabe an der WU EA Frauen auf dem Weg zu einem neuen Job; viele unter ihnen waren auch Führungskräfte. „Es berührt mich heute noch, dass ich mit meinem Ikigai anderen Frauen helfen konnte, die Weichen in ihrem Leben neu zu stellen“, erzählt Palucki.
Schlegelmilch nennt ein Beispiel aus der MBA-Welt: „Vor vielen Jahren hat eine Frau, Alexandra Gruber, bei uns den Global Executive MBA gemacht. Sie hatte bereits einen PhD im Pharma-Bereich und hat seit 20 Jahren in der Industrie gearbeitet. Wäre sie auf demselben Weg geblieben, hätte sie wesentlich mehr Geld verdient – zu dem Zeitpunkt hatte sie europaweite Verantwortung.“ Stattdessen hat Gruber ihren MBA genutzt, um zu überdenken, was sie in ihrem Leben machen möchte. Nach ihrem Abschluss hat sie die Geschäftsführung der NGO „Die Wiener Tafel“ übernommen, die sich gegen Lebensmittelverschwendung einsetzt. Gruber ist immer noch Geschäftsführerin der „Tafel“. „Kurz gesagt: Alexandra hat ihr wahres Ikigai gefunden“, schreibt Schlegelmilch in „The MBA Compass“.
Auch aus anderen Gründen ist es für Führungskräfte wichtig, ihr Ikigai – und das ihres Unternehmens – zu kennen. Dieselben Fragen, die sich jeder am Weg zum Ikigai stellen muss, können Führungskräfte für sich und ihr Unternehmen stellen: Firmen müssen etwas produzieren, für das sie Geld verlangen können, und idealerweise ist das Produkt auch nützlich (Dimensionen drei und vier). Das geht nur, wenn die Angestellten des Unternehmens ihren Job gut machen (Dimension zwei). Und damit die HR-Kosten nicht explodieren, sollten die Mitarbeiter ihre Arbeit zumindest so weit mögen, dass sie nicht nach dem Probemonat wieder weg sind (Dimension eins). Schlegelmilch: „Ikigai ist wie ein Rezeptbuch, um den Purpose eines Unternehmens zu finden.“
Palucki fügt einen weiteren Grund hinzu, warum Führungskräfte über ihr Ikigai nachdenken sollten: „Wenn ich mich selbst führen kann, kann ich andere besser führen.“ Schlegelmilch geht noch weiter: „Man kann nur eine gute Führungsperson sein, wenn man sich selbst gut kennt.“
Für einen möglichen Ausstieg aus dem Unternehmen – der jedem früher oder später bevorsteht – kann der Ikigai-Leitfaden ebenfalls helfen. „Viele Führungskräfte sind in Positionen, die Prestige und Macht mit sich bringen“, so Schlegelmilch. Das – und das Selbstbild, das damit einhergeht – loszulassen kann schwierig sein. Die vier Fragen zur Selbstfindung können helfen, zu entscheiden, was ein Manager oder Gründer nach der Unternehmenslaufbahn machen möchte. Dabei sei es wichtig, sich die eigenen Stärken bewusst zu machen und darüber nachzudenken, wo man diese noch einsetzen könne, sagt Palucki.
Viele Spitzensportler müssen sich diesem Problem schon früher stellen. „Die stehen im Rampenlicht, sind bekannt, haben Fans – und plötzlich machen sie einen normalen Job. Sich da schon als Vorbereitung diese Fragen zu stellen – ‚Wo will ich danach hin? Wie kann ich meine Zeit danach sinnvoll gestalten?‘ –, das ist unheimlich wertvoll“, sagt Schlegelmilch.
Gründer, Manager, Spitzensportler – das sind Menschen, die ohnehin wenig Platz im Terminkalender haben. Wie soll da noch Zeit für die Suche nach dem Ikigai bleiben? Für Palucki ist es eine Frage der Priorisierung: „Man muss sich den ‚Market Share‘ seiner Bedürfnisse anschauen und entscheiden: Wie viel Zeit möchte ich für meinen Beruf einsetzen? Wie viel Zeit nimmt meine Familie in Anspruch? Und zum Schluss: Wie viel Zeit bleibt für mich?“ Sie betont, dass die Suche leichter sein kann, wenn man mit kleinen Schritten beginnt. Schlegelmilch fügt hinzu, dass kleine Veränderungen im Alltag – ein kurzer Morgenspaziergang, ein Abend mit einem Buch statt vor dem Fernseher – das Wohlbefinden verbessern können.
KI kann helfen, indem sie repetitive Aufgaben übernimmt. „Funktionales Wissen – Statistik, Finanzwesen, Datenarbeit – wird in Relation weniger wichtig. Dafür wird es wichtiger, gut zu kommunizieren, zusammenzuarbeiten und Mitarbeiter zu motivieren“, so Schlegelmilch. Führungskräfte können sich in Zukunft mehr Zeit dafür nehmen, ihren Kollegen zuzuhören und über die Strategie des Unternehmens nachzudenken. KI schafft also mehr Zeit für Ikigai und unterstreicht seine Bedeutung.
Dass Ikigai gerade jetzt bei Unternehmern in den Vordergrund rückt, ist kein Zufall. Die 2000er- und 2010er-Jahre waren für Unternehmen vielleicht nicht immer leicht – heute sehnen sich aber viele in die Zeit vor Corona, Krieg und Inflation zurück. BANI, ein Akronym aus Brittle, Anxious, Nonlinear und Incomprehensible, ist das neue Buzzword, das die globale Wirtschaft beschreiben soll.
Die Coronapandemie, während der das Wort geprägt wurde, hat gezeigt, dass ein unvorhersehbares Ereignis in kurzer Zeit die Welt auf den Kopf stellen kann – das System ist zerbrechlich. Menschen fühlen sich ängstlich und hilflos, nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch wegen Kriegen und des Klimawandels. In der AXA Study of Mind Health and Wellbeing 2023 berichteten zwei Drittel der 18- bis 24-Jährigen, mässige bis schwere Symptome von Stress zu verspüren. In den Altersgruppen 35–44, 45–54 und 55–64 waren es 57, 49 und 38 %.
Hinzu kommen Nonlinearität und Unverständlichkeit: Es ist oft schwierig, die Ursache von Entwicklungen zu verstehen, besonders bei komplexen Problemen wie dem Klimawandel. In einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Universität Bonn aus dem Jahr 2022 sagten 80,1 % der Befragten, dass ihnen dieser grosse oder sehr grosse Sorgen bereite.
Ikigai ist keine Lösung für diese Probleme – aber es kann helfen, sich in so einer Welt zurechtzufinden. Was es dafür brauche, sei, dass Menschen (und das gilt nicht nur für Manager und Führungskräfte, sondern für uns alle) ihr Leben in die eigene Hand nehmen, so Schlegelmilch. Ikigai kann uns dabei helfen, den richtigen Weg zu finden. Schlegelmilch: „Ikigai kann Menschen einen Kompass geben, der sie zu ihren eigenen Werten, Überzeugungen, aber auch Stärken führt. Wenn ich mich kenne, finde ich mich in einer turbulenten Welt – und auch ausserhalb meiner Komfortzone – besser zurecht.“
Ob es dieser Kompass war, der den neuen Interim Dean der WU EA aus der Pension gebracht hat? Schlegelmilch: „In gewisser Weise kann ich das auf mich beziehen. Ich habe meinen Job immer als bezahltes Hobby angesehen. Und wenn ich das Hobby jetzt weitermachen kann – und dafür bezahlt werde –, umso besser.“
Bodo Schlegelmilch hat einen PhD in International Marketing Strategy der University of Manchester, von wo er auch ein Doktorat in Corporate Social Responsibility (D.Litt.) hat, und einen PhD (hon.) der Thammasat-Universität in Bangkok. 2005 hat er die WU Executive Academy mitbegründet. Im September kam er als Interim Dean für ein Jahr zur Business School der WU zurück.
Klara Palucki ist Programm-Managerin an der WU Executive Academy. Nachdem sie 18 Jahre lang bei Air France-KLM arbeitete, absolvierte sie 2018 ihren Bachelor in Unternehmensführung und Entrepreneurship an der FH Wien der WKW. Aktuell macht sie an der FH des BFI ihren Master in Projektmanagement und Organisationsentwicklung. Für sie ist Lifelong Learning ein wichtiger Teil ihres Ikigai.
Fotos: Gianmaria Gava