DIE SCHILDKRÖTE UND DIE HASEN

Europa falle im Rennen zurück, heisst es immer wieder. Gespräche mit europäischen Gründern zeigen: Vermeintliche Schwächen könnten sich als Stärken herausstellen. Gewinnt die „Schildkröte Europa“ das Rennen doch noch?

Die Fabel geht in etwa so: Ein Hase verspottet eine Schildkröte wegen ihrer Langsamkeit. Die darauf folgende Herausforderung der Schildkröte zu einem Wettrennen nimmt der Hase an, hält er das alles doch für einen Scherz. Als das Rennen dann tatsächlich startet, kriecht die Schildkröte langsam los. Der Hase springt voller Übermut los und legt sich wenige Schritte vor dem Ziel ins Gras, um den Hohn gegen die Schildkröte auf die Spitze zu treiben. Doch er ist müde, schläft ein – und wird erst geweckt, als die Zuschauer die Schildkröte bejubeln, die es letztendlich doch vor dem Hasen ins Ziel geschafft hat. In seinem unendlichen Vertrauen in seine Geschwindigkeit hatte ihn das langsamste Tier der Welt geschlagen.

Verliert Europa den Anschluss?

Politiker, Unternehmer, CEOs und die Medien – sie alle sehen auch Europa in einem Wettrennen. Ob damit nun die Europäische Union, Europa als Kontinent oder ein undefiniertes Set an gemeinsamen Werten gemeint ist, bleibt oft offen (wir selbst definieren Europa in diesem Text und Magazin als den Europäischen Wirtschaftsraum – also alle Länder, die der EU angehören oder mit ihr untrennbar verbunden sind, wie die Schweiz, Liechtenstein oder bald auch Grossbritannien). Doch die Region steht nicht nur einem, sondern gleich zwei Kontrahenten gegenüber. Denn während die USA seit jeher als Hochburg für Unternehmertum gesehen werden, führte der rasante Aufstieg Chinas dazu, dass auch das Reich der Mitte regelmässig als Mitbewerber im Rennen um die Technologieführerschaft gesehen wird.

Risikokapital (Funding, in Mrd. €)
Quelle: Pitchbook

Infografik: Risikokaptital

Und glaubt man der öffentlichen ­Debatte, hat Europa dabei nicht die allerbesten Karten. So sagt der Chef der Europäischen Investitionsbank, Werner Hoyer, gegenüber dem Handelsblatt: „Wir (Europäer, Anm.) sind zu selbstzufrieden geworden und ruhen uns zu sehr auf den industriellen Lorbeeren der letzten Jahrhunderte aus. Wir haben zwar noch immer industrielle Champions, tun aber zu wenig, um deren Marktposition auch nach 2030 zu erhalten.“ Der deutsche Investor Fabian Westerheide, der sich auf künstliche Intelligenz spezialisiert hat, sagte etwa zum Wettkampf zwischen Europa und den USA in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Wir haben Halbzeit, und es steht vier zu null für die andere Seite.“

Ist Europa also tatsächlich drauf und dran, den Anschluss zu verlieren? Oder ist es in diesem Rennen vielleicht die Schildkröte, die entgegen aller Wahrscheinlichkeit nicht einen, sondern sogar zwei Hasen schlägt?

Europäische Gründer voll des Lobes für Europa

Wer mit Gründern relevanter europäischer Unternehmen spricht, könnte ebendas glauben. Denn egal ob Nikolay Storonsky von der britischen Digitalbank Revolut, Naren Shaam von der in Berlin angesiedelten Reisebuchungsplattform Omio, Lea von Bidder vom Schweizer Femtech-Start-up Ava oder Holger Weiss, dessen Unternehmen German Autolabs KI-basierte Assistenten für Autos entwickelt – sie alle sind trotz kritischer Töne zugleich voll des Lobes für Europa.

"Best countries for entrepreneurs and startups"
(Quelle: Pitchbook)

Infografik: Best Countries for Entrepreneurs and Startups

Storonsky, dessen Fintech rund 1.000 Mitarbeiter in über 30 europäischen Ländern hat und nun auch nach Singapur und in die USA expandiert, sagt etwa: „Europa ist einer der besten Orte, um ein Unternehmen aufzubauen.“ Naren Shaam, der ebenfalls gerade aus Europa heraus in die Welt expandiert, sieht das ähnlich: „Europa erfüllt einige der wichtigsten Voraussetzungen eines starken Start-up-Ökosystems.“ Dazu zählt der Gründer eine grosse Kundenbasis, einen umfangreichen Pool an Talenten sowie ein ausgereiftes Bildungssystem. Lea von Bidder fügt einen Punkt hinzu: „Wir profitieren in Europa stark vom exzellenten universitären Angebot und der sehr grossen Diversität.“ Holger Weiss streicht wiederum die Planungssicherheit der europäischen Länder hervor: „Wir können relativ schnell in neue Märkte gehen und haben gute Planungssicherheit bezüglich beispielsweise steuerlicher Fragestellungen.“

Die Daten geben den Gründern recht. Im Global Innovation Index stammen acht der Top-Ten-Länder aus Europa. Im Digital Competitiveness Ranking der IMD Lausanne folgen Schweden, Dänemark und die Schweiz hinter den USA und Singapur auf den Plätzen drei, vier und fünf. Zudem befinden sich die Hälfte der 1.000 besten Universitäten (Times-Ranking) und 15 der 30 wohlhabendsten Staaten in Europa; und auch in Sachen politischer Stabilität ist der alte Kontinent einsame Spitze. Dennoch ist die Weltunter­gangsstimmung nicht völlig unbegründet: So stammen etwa nur eines der 20 weltweit grössten Internetunternehmen (SAP) und nur eines der 20 grössten Start-ups (Global Switch) aus Europa. Naren Shaam: „Wir müssen es schaffen, ein Produkt oder eine Dienstleistung auf globalen Massstab zu skalieren. Darin sind Unternehmen aus anderen Ländern momentan noch besser.“

Langfristig gesehen gute Karten im weltweiten Rennen

Fehlender Risikoappetit, zu geringe Investitionen in risikoreiche, aber vielversprechende Projekte und ein zu fragmentierter Markt sind oft geäusserte Vorwürfe. Doch die Situation muss differenzierter gesehen werden: In Europa werden heute schon jedes Jahr mehr Start-ups gegründet als in den USA. Auch Kapital ist vorhanden: Laut einer Studie des Beratungshauses KPMG entfiel fast ein Viertel (22 %) aller weltweiten Risikokapitaldeals 2018 auf Europa. Doch das Volumen ebendieser Deals betrug beispielsweise nur 10 % – die Tickets, die von Investoren ausgestellt werden, sind also oft zu klein. Hinzu kommen sprachliche und kulturelle Barrieren, hohe bürokratische Hürden und – in manchen Ländern – steuerliche Vorgaben, die Unternehmertum quasi verunmöglichen. Dennoch hat Europa auch in Zukunft gute Karten, das Rennen für sich zu entscheiden. Denn viele Schritte, die gesetzt werden und auf den ersten Blick vielleicht falsch wirken, könnten sich langfristig durchaus auszahlen.

 

Naren Shaan, Omio

Bild: Naren Shaan, Omio, Gründer, Berlin

Mit der Datenschutz-Grundverordnung hat die EU Führungsstärke bewiesen.

Datenschutz-Grundverordnung als entscheidender Joker

Ein Beispiel ist der Datenschutz. Digitale Geschäftsmodelle leben von Daten, weshalb die durchaus streng geregelte Datenschutz-Grundverordnung der Europäischen Union (DSGVO) von Unternehmen teils heftig kritisiert wurde. Denn die stetig steigenden Datenmengen – 2019 werden Schätzungen zufolge rund 300 Milliarden E-Mails verschickt und täglich über 3,5 Milliarden Google-Suchanfragen getippt – werden von US-Unternehmen als Rohstoff gesehen, der gehandelt werden kann. China nutzt Datensätze indes auch, um eine lückenlose Überwachung der eigenen Bürger zu ermöglichen. Indes behandelt Europa Daten wie ein kostbares Gut, das nur schwer zu bekommen sein sollte. Das führt zwar zu einem schwierigeren Zugang zu Daten, um etwa digitale Geschäftsmodelle voranzutreiben – doch die Qualität der Daten, die in und aus Europa zugänglich gemacht werden, ist dafür deutlich höher, da Drittanbietern das Geschäftsmodell entzogen wird. Zudem verbleibt mehr Entscheidungsmöglichkeit und somit Verhandlungsmacht bei den Endkunden, was nicht nur Wettbewerb fördern, sondern auch Innovation antreiben kann.

Und Fälle wie Facebooks Cambridge-Analytica-Skandal zeigen, dass der Missbrauch von Vertrauen bei privaten Nutzerdaten viel Geld kosten kann. Die Ankündigung, dass die US-Behörden Facebook aufgrund des Skandals untersuchen, kostete das Unternehmen an einem Tag 23 Milliarden US-$ Börsenwert. Auch Naren Shaam, dessen Reiseplattform Omio ohne Nutzerdaten nicht überleben könnte, kann der DSGVO viel Positives abgewinnen: „Im internationalen Vergleich hat sich die EU mit der Datenschutz-Grundverordnung eindeutig positioniert und hier Führungsstärke gezeigt.“

Politische Stabilität als Wettbewerbsvorteil
(Quelle: Weltbank)

Infografik: Politische Stabilität, EU, Wettbewerbsvorteil

Auch die oft beschworene Notwendigkeit eines aus Europa stammenden globalen Champions könnte vielleicht andere Auswirkungen haben als gedacht. Denn obwohl man Kaliber wie Amazon, Facebook, Alibaba oder Tencent in Europa vergeblich sucht, zeigt die schiere Grösse dieser Unternehmen mittlerweile auch negative Auswirkungen auf die Märkte. De-facto-Monopolunternehmen verunmöglichen Wettbewerb. Ihre Mitarbeiter zu motivieren, mit einem übermächtigen Unternehmen zu konkurrieren, fällt Gründern zunehmend schwerer.

Dementsprechend forderte Chris Hughes, ­Mitgründer von Facebook, man ­müsse den Web-­Giganten zerschlagen, da seine Marktmacht bereits zu gross sei. Ähnliche Argumente gibt es gegen ­Google, Amazon und Co, wie die EU, namentlich Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager (siehe Artikel S. 32), durch ihre Wettbewerbsstrafen bewies. Was oftmals als Behinderung global relevanter Unternehmen ausgelegt wird, könnte aber Innovation und die freien Marktkräfte fördern.

Europa verfügt also noch über viel ungenutztes Potenzial. Doch dazu müssen Unternehmer und Politiker ihre Hausaufgaben machen. „Mehr Fehler zulassen“, fordert Shaam, „überlegte Entscheidungen“ will Storonsky. Holger Weiss bringt es aber am besten auf den Punkt: „Politische Institutionen sollten wie Unternehmen geführt werden. Es wird zu viel zu ineffizient gearbeitet. Natürlich kann nicht immer alles an Effizienz gemessen werden, aber das Schicksal eines nicht funktionierenden Unternehmens ist klar – es wird keinen Erfolg haben.“ Das zu ändern wird die Herausforderung sein – damit die Schildkröte das Rennen vielleicht doch noch gewinnt.

Text: Klaus Fiala und David Hanny

Fotos: Peter Rigaud, Jason Alden, Christian Peacock, German Autolabs

Der Artikel ist in unserer Mai-Ausgabe 2019 "Europa" erschienen.

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