Die KI-Revolution findet nicht (nur) im Silicon Valley statt

Bis vor Kurzem schien die Geschichte ­bereits geschrieben: Die künstliche Intelligenz, das nächste ganz grosse Ding, würde natürlich im Silicon Valley stattfinden – dort, wo einst Google entstand, Facebook sich skalierte und Tesla die Branche umkrempelte, dort, wo Milliarden in Chips, Rechenzentren und Large Language Models flossen und Sam Altman so etwas wie der neue Steve Jobs war.

Doch mit jedem weiteren Monat wird klarer: Die nächste Phase der KI-Entwicklung wird nicht nur in Kalifornien entschieden, sondern auch anderswo – in Paris, in München, in Zürich, in Wien; dort, wo nicht nur Kapital und Gründergeist vorhanden sind, sondern auch Geduld, Wissenschaft und Verantwortung. Die wirklich rele­vanten Anwendungen, also jene, die Industrie, Verteidigung, Mobilität oder Forschung neu de­finieren, entstehen im Verborgenen, im Deeptech – in Unternehmen, die nicht 100 ­Millionen Nutzer brauchen, sondern die richtigen zehn Kunden.

Beispiele dafür gibt es längst. Helsing aus München entwickelt KI-Systeme für die Echtzeitanalyse im Verteidigungsbereich und sammelte über 200 Mio. € ein. Mistral aus Paris baut hochleistungsfähige Open-Source-Sprach­modelle, ist mittlerweile über zwei Mrd. € wert und wird von der französischen Regierung ­aktiv unterstützt. „Magic.dev“ aus Wien entwickelt ­KI-Coding-Assistenten mit einem Team aus Ex-Open-AI-Entwicklern. Und das Zürcher Start-up Rivr arbeitet an autonomen Robotern, die Logistik- und Sicherheitsaufgaben übernehmen sollen. Sie alle zeigen: Europa hat mehr zu bieten als Regulierung und Vorsicht.

Natürlich, das Narrativ klingt zunächst paradox: Europa, das oft für seine Langsamkeit und seine Aversion gegen Hypes belächelt wird, soll auf einmal Vorreiter sein? Vielleicht gerade deshalb. Wer heute ein KI-Modell entwickelt, das ethischen Grundsätzen genügt, erklärt werden kann und in der In­dustrie zuverlässig funktioniert, hat am Ende den ­grösseren Hebel. Die Zukunft ist nicht generativ – sie ist industriell.

Damit Europa diese Chance nutzen kann, braucht es eine Regulierung, die schützt, ohne zu lähmen. Der AI Act der EU ist ein Anfang, darf aber nicht zum nächsten DSGVO-Monument werden. Weniger Regeln, dafür bessere – gezielt, technologieoffen, anwendungsnah; ohne die europäischen Grundwerte preiszugeben, aber auch, ohne jedes neue KI-Modell als Risiko zu behandeln. Und es braucht mutigere Regierungen, die strategisch investieren, Innovation gezielt beschaffen und aufhören, bei Schlüsseltechnologien auf andere zu warten. Wer kritische Technologien beherrschen will, darf sie nicht nur zukaufen, sondern muss sie vorrangig auch selbst entwickeln.

Das bedeutet nicht, dass wir auf Sam Altman oder Sundar Pichai verzichten können. Aber es bedeutet: Die Zeit der Monokultur ist vorbei. Die KI-Revolution ist kein amerikanisches Software-Event mehr. Sie ist ein globales Projekt. Und Europa ist nicht nur eingeladen, sondern gefordert. Jetzt liegt es an uns, aus der zweiten Reihe herauszutreten und den Fortschritt so zu gestalten, dass er nicht nur schnell, sondern auch sinnvoll ist. Denn der nächste Durchbruch wird nicht in einem Loft in San Francisco stattfinden, sondern vielleicht in einem Labor in Lausanne. Oder in ­einem Rechenzentrum in Marseille.

Klaus Fiala,
Chefredakteur

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