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Stef van Grieken verspricht mit seinem Start-up Cradle, Proteine so zu designen wie Apps – die Technologie, die auf künstlicher Intelligenz basiert, könnte die Entwicklung von Medikamenten, Lebensmitteln oder auch chemischen Produkten revolutionieren. Investoren haben 100 Mio. US-$ in das Zürcher Start-up mit niederländischen Wurzeln gesteckt. Doch wie realistisch ist der Traum?
Wir sind zu früh dran für das Interview und die Büros sind ungewöhnlich leer. Stef van Grieken kommt nur wenig später bei der Tür herein – mit Birkenstocks an den Füssen, in Shorts und T-Shirt. Es ist Sommer, doch für den Banking-Hotspot Zürich ist das Outfit dennoch ungewöhnlich leger – im Silicon Valley, wo van Grieken nahezu ein Jahrzehnt verbrachte, bevor er nach Zürich umsiedelte, wäre der Look aber überhaupt nichts Besonderes. Das restliche Team von Cradle (van Grieken führt das Start-up als Mitgründer und CEO) ist an diesem Tag nicht anwesend: Es ist auf einem „Lab-Trip“ in Amsterdam – und damit zurück an jenem Ort, wo Cradle seine Wurzeln hat. Van Grieken wirkt entspannt, doch die Mission, die er im Gespräch skizziert, ist gewaltig: „Unsere Mission ist es, die Gesundheit der Menschen und unseres Planeten zu verbessern – indem wir Biologie programmierbar machen.“
Cradle nutzt künstliche Intelligenz, um Proteine zu designen. Diese „molekularen Maschinen des Lebens“ sind längst mehr als ein exotisches Forschungsthema: Die Mehrheit aller Medikamente basiert auf ihnen, sie treiben Waschmittel an, lassen Käse reifen oder machen Pflanzen widerstandsfähiger gegen Schädlinge. Laut einer Analyse von McKinsey liessen sich künftig bis zu 60 % der industriellen Grundstoffe – heute meist aus Erdöl, im Bergbau oder chemisch gewonnen – auch biologisch herstellen. Das Potenzial ist also riesig: So soll der Markt für Biologika, der grösstenteils aus Proteinen besteht, laut dem Beratungshaus Novo Advisors bis 2033 auf 1,3 Bio. US-$ wachsen. Dennoch steht das computergestützte Proteindesign erst ganz am Anfang.
Das Geschäft ist brutal: Je nach Quelle benötigt man im Schnitt 5.000 bis 10.000 präklinische Tests von Medikamenten, damit eines eine Zulassung erhält. Und von allen Medikamenten, die es ins Stadium der klinischen Studien mit Menschen schaffen, werden noch immer nur 10 % zugelassen. Somit sind jahrelange kostenintensive Forschung und Milliardeninvestitionen nötig; in der Hoffnung, ein Medikament auf den Markt bringen zu können. Genau hier setzt Cradle an: Die KI des Start-ups entwirft Moleküle, ähnlich wie ein Architekt Baupläne zeichnet. „Unsere Modelle können Biomoleküle erzeugen, die Eigenschaften haben, die es in der Natur noch nie gegeben hat“, sagt der Niederländer van Grieken.

Dass es sich nicht nur um schöne Worte handelt, zeigt die Kundenliste: Darunter finden sich aktuell einige milliardenschwere Pharmakonzerne, etwa der US-Riese Johnson & Johnson. Erste Pilotprojekte zeigten, dass Cradle Entwicklungszyklen bis zu zwölfmal schneller machen kann. Für einen Pharmariesen bedeutet das: Statt ein Jahrzehnt in die Entwicklung eines neuen Medikaments zu investieren, könnte er das Gleiche im allerbesten Fall in einem Jahr schaffen. Nicht umsonst haben Investoren dem Start-up über 100 Mio. US-$ gegeben, um die Technologie auszubauen. Zuletzt sammelte van Grieken, der Cradle mit vier Mitgründern 2021 startete, in einer Series B 73 Mio. US-$ ein. Doch während die Schweiz natürlich für ihre Pharmariesen bekannt ist, sieht van Grieken deutlich mehr Anwendungsfälle für das eigene Tool: In der Medizin könnte die Cradle-Software genutzt werden, um neue Antikörper, Enzyme oder Impfstoffe zu entwickeln; in der Nahrungsmittelbranche sind pflanzenbasierte Proteine mit besserem Geschmack denkbar; in der Landwirtschaft könnte Cradle helfen, Enzyme für Schädlingsresistenz zu ermöglichen; und in der Chemie würden nachhaltige Ersatzstoffe für erdölbasierte Produkte bei der Erreichung der Klimaziele helfen.
Doch so überzeugend die Vision klingt, so hoch sind die Hürden. Proteine folgen keiner einfachen Logik; sie falten sich auf unvorhersehbare Weise – kleine Veränderungen können ganze Wirkmechanismen zunichtemachen. Jede Entdeckung muss durch ein engmaschiges Netz regulatorischer Prüfungen, die viel Zeit und Geld kosten. Hinzu kommt eine philosophische Dimension: Wer Biologie programmierbar machen will, rührt an Fragen, die seit jeher mit Religion und Ethik verbunden sind – darf der Mensch wirklich Schöpfung nach seinem eigenen Bauplan betreiben?
Und während Cradle an all diesen Herausforderungen arbeitet, investieren die grössten Pharmakonzerne der Welt Milliarden in solche Technologien. In diesem Spannungsfeld aus wissenschaftlicher Unberechenbarkeit, regulatorischer Strenge, moralischem Zweifel und gnadenlosem Wettbewerb muss ein junges Unternehmen erst beweisen, dass es nicht nur Visionen hat, sondern sie auch in greifbare Realität übersetzen kann.

Wir manipulieren Biologie seit Jahrzehnten – nur jetzt eben gezielter.
Stef van Grieken
Van Grieken selbst ist kein Biologe. Er studierte Philosophie und Industrial Engineering, bevor er 2013 im Zuge eines Praktikums bei Google in San Francisco anheuerte. Er verbrachte dort acht Jahre, unter anderem als Senior Product Manager bei Google AI im „Brain“-Team, wo er Infrastruktur und angewandte Machine-Learning-Projekte verantwortete. „Ich war schon immer ein Tool-Builder“, sagt van Grieken. Als er die ersten Papers zu Machine Learning bei DNA-Sequenzen las, wurde ihm klar, dass hier das nächste grosse Anwendungsfeld entsteht. Mit einem seiner Mitgründer, Eli Bixby, einem Biologen mit einem Hintergrund in Informatik, fing er an, über ein Unternehmen in diesem Bereich zu sprechen. Im Oktober 2021, inmitten der Coronavirus-Pandemie, wurde Cradle dann gegründet. Insgesamt umfasst das Gründerteam fünf Personen –
neben van Grieken und Bixby auch Harmen van Rossum, Elise de Reus und Jelle Prins.
Die ersten Monate waren hart: Niemand verstand, „was das eigentlich sein sollte“. „Am Anfang mussten wir Kunden sogar bezahlen, damit sie unsere Software überhaupt ausprobierten“, so van Grieken. Heute ist die Lage anders: Investoren wie IVP, Index Ventures und Kindred Capital stehen im Cap Table, das Unternehmen hat knapp 60 Mitarbeiter, verteilt zwischen Zürich, Amsterdam und den USA. Der Umsatz wuchs im ersten Halbjahr um das Vierfache (wobei van Grieken nicht kommentieren möchte, wie hoch der Umsatz des Start-ups aktuell ist): „Wir wachsen ziemlich schnell.“
Das Geschäftsmodell funktioniert so: Abgerechnet wird nach der Anzahl der Moleküle, die ein Kunde aktiv entwickelt – ähnlich wie beim Anmieten von Servern bei Google oder Amazon. Je nach Programm und Branche bewegen sich die Kosten zwischen rund 200.000 US-$ am unteren Ende und mehreren Hunderttausend US-$ pro Jahr und Projekt; bei grossen Pharmadeals liegt die Summe deutlich höher. Zudem haben Wissenschaftler kostenlosen Zugriff auf das Tool. „Wir haben ein Programm für die nicht kommerzielle Nutzung, über das Wissenschaftler kostenlosen Zugang erhalten“, erzählt der CEO.

Van Grieken vergleicht seine Software mit Figma oder Photoshop – ein Standardwerkzeug, das Kreativität entfaltet, nur eben zum Designen von Proteinen und nicht von schönen Fotos. So soll Biologie von einem elitären Business zu einer zugänglichen Plattform werden. Der Unterschied zu bekannten KI-Anwendungen wie Chat GPT ist für den Gründer klar: „Wenn Chat GPT lügt, ist das egal – wenn unser Modell halluziniert, kostet das unsere Kunden Millionenbeträge.“
Hinzu kommt die Regulierung: Jede Substanz muss durch Bewilligungsprozesse bei der US-amerikanischen Behörde FDA sowie ihrem europäischen Pendant, der EMA, kommen. KI kann helfen, Kandidaten zu finden, aber ob diese Substanzen sicher und wirksam sind, entscheidet am Ende nicht der Algorithmus. Kritiker fragen daher schon heute, ob Biologie tatsächlich irgendwann so programmierbar sein wird wie etwa Apps.
Dass Cradle (auch) in Zürich sitzt, ist gleichermassen Zufall wie Kalkül. Die Nähe zu Roche und Novartis, die ETH als Talentschmiede, aber auch die politische Stabilität waren Faktoren für die Entscheidung. Gleichzeitig wollte van Grieken das Silicon Valley verlassen, aber nicht in die Niederlande zurückkehren. Zürich erschien ihm als guter Platz, um etwas Neues zu bauen: „In Kalifornien ist es vielleicht einfacher, ein Unicorn zu werden – aber dort verbrennt man auch schneller Hunderte Millionen.“ Europa zwingt das Cradle-Team zu mehr Effizienz und weniger Glamour.

Im Pharmabereich ist offensichtlich, was möglich sein kann. Medikamente sind laut van Grieken oft unpräzise, toxisch, voller Nebenwirkungen. Er malt sich eine Zukunft aus, in der Krebs so behandelbar ist wie eine Grippe: „Der Arzt verschreibt ein Medikament – und drei Monate später sind Sie geheilt.“ Ob das je Realität wird, bleibt offen – falls es aber passiert, wäre das ein absoluter Paradigmenwechsel.
Doch ethische Fragen bleiben: Neue Moleküle sowie das Programmieren von Biologie wecken Ängste davor, „Gott zu spielen“. Van Grieken kontert: „Wir manipulieren Biologie seit Jahrzehnten – nur jetzt eben gezielter.“ Die Vorwürfe kenne er zur Genüge: „Von ‚Snake Oil‘ bis ‚Gott‘ habe ich alles schon gehört.“ Eine ethische Komponente bringe das Thema aber mit – militärische Anwendungen lehnt Cradle etwa ab. Van Grieken: „Wir haben entschieden, dass wir an solchen Anwendungen nicht arbeiten.“
Noch ist unklar, ob sich Biologie jemals so berechenbar formen lässt wie Softwarecode. Doch die Richtung ist gesetzt – Milliardenmärkte warten, Forscher und Konzerne stehen Schlange, Investoren haben ihre Wetten platziert. Van Grieken ist jedenfalls klar, wie die Zukunft von Cradle aussehen soll: „Ich will ein Unternehmen bauen, das in dieser Branche Massstäbe setzt.“
Fotos: Lukas Lienhard