Der Zwischenraum

Mit der S.E.A. Shibukawa Eder Architects ZT GmbH wurde im Jahr 2007 in Wien ein Architekturbüro gegründet, das sich ­gestalterisch zwischen den Kulturen Ostasiens und ­Europas bewegt und diese Beziehung in privaten ­Wohnräumen bis hin zu grossvolumigen städtebaulichen Arbeiten ­manifestiert. Misa Shibukawa und Raphael Eder stellen stets ­gleichberechtigte Beziehungen zwischen grossen und kleinen Räumen, dem Innen- und dem Aussenraum her – sie arbeiten mit dem japanischen ästhetischen Konzept „Ma“.

Erst kürzlich wurde das Architektenduo Misa Shibukawa und Raphael Eder eingeladen, einen Vortrag über die Charakteristika ihrer Arbeiten vor Fach­publikum zu halten – da komme man schon ins Grübeln, sagt Shibukawa, mit ihrem Kinn auf ihrer Hand abgestützt, „weil wir bis dahin eigentlich immer nur nach vorne, in die Zukunft geblickt haben, aber nur selten zurück“. Auch seien die realisierten wie auch die nicht realisierten Projekte recht unterschiedlich gewesen, sagt sie.

Ihre Antwort auf diese Fragestellung kommt aber ebenso schnell wie pointiert und beschreibt den für das interkulturelle Paar recht typischen Stil, der Momente der traditionellen japanischen Bauart mit jenen der westlichen Architektur verbindet: Das „Ma“ sei es, sagt Shibukawa, „das sich wie ein roter Faden durch unsere Arbeiten zieht“. „Es war – rückblickend betrachtet – gar keine bewusste Entscheidung; vielmehr ein gemein­sames Verständnis darüber, dass uns die Raum­beziehungen am meisten interessieren“, ergänzt Raphael Eder. Wie sich die einzelnen Räume sowie das Innen und das Aussen beeinflussen, eröffnet Möglichkeiten, ja neue Bedeutungen für die Räume dazwischen; das, was in Japan als „Ma“ bezeichnet wird.

Das „Ma“ als Konzept gilt im Geburtsland von Misa Shibukawa als Grundlage für Ästhetik, für Musik, für Kunst und Architektur sowie für die Philosophie. „Es beschreibt die Stille zwischen zwei Klängen, den Moment des Schweigens im Dialog zweier Schauspieler oder auch die Pause am Ende eines Musikstücks, bevor das Publikum zum Applaus anhebt“, erklärt Raphael Eder. Das „Ma“ hebt die Spannung und gibt den Werken Tiefe. Und tatsächlich stehen in zahlreichen Arbeiten der beiden Architekten Gegebenheiten wie vernach­lässigte Innenhöfe, die zu zusätzlich nutzbaren und vor allem die Menschen verbindenden Räumen umgestaltet wurden, im Zentrum. Es gehe ihnen, so Shibukawa und Eder, viel um das Einbeziehen des Aussenbereichs in den Innenraum und das Öffnen der Innenräume hin zu den Bauten in der Nachbarschaft; es gehe um das Erschaffen von Plätzen für Kommunikation und Interaktion, wo vorher keine waren.

Eder drückt sich in die Stuhllehne und greift nach einem Keks in einem kleinen, von seiner Frau getöpferten Keramikgefäss auf dem Tisch. Das Töpfern sei ein Hobby, wirft sie kurz ein; über einen längeren Zeitraum sei sie nach der Büroarbeit in ein Keramikstudio gegangen, um es zu erlernen, so Shibukawa.

„Wir kombinieren die lastenfreie, offene Architektur Japans mit alten westlichen Mauern“, sagt Misa Shibukawa. Rechts: Ein Beispiel für das „Ma“ – der Innenhof des Gymnasiums in der Wiener Zirkusgasse.

Foto: Hertha Hurnaus

Kennengelernt hat sich das Architektenduo in den 1990er-Jahren an der Tokyo Tech (kurz für Tokyo Institute of Technology) im Rahmen ihres Masterstudiums. „Als an der TU Wien meine Diplomarbeit anstand, ging ich ins Büro von Kuno Brüllmann, der damals gerade das Wohnbau-Institut übernommen hatte, um bei ihm diese Arbeit zu machen“, erinnert Eder sich. Und Brüllmann wiederum meinte, er habe einen Freund in Japan, einen Professor – und dass es eine Möglichkeit gebe, ein Stipendium zu beantragen. Eder: „Und da habe ich sofort gesagt: ‚Ja, das mache ich‘ – und Brüllmann sagte: ‚Ich mag mutige Männer!‘“

„Im Nachhinein betrachtet“, so Shibukawa, „war seine Wahl mit Japan eigentlich reiner Zufall.“ Mit einem zweijährigen Stipendium des japanischen Un­terrichtsministeriums absolvierte Eder seinen Master und lernte am Ende des zweiten Jahrs seine heutige Frau und Partnerin Shibukawa kennen. Bis heute kommen immer wieder japanische Architekturstudenten ins Büro der S.E.A. Shibukawa Eder Architects ZT GmbH, um praktische Erfahrung zu sammeln. „Das japanische Unterrichtsministerium hat mich in meinem Werdegang sehr unterstützt, da ist es nur recht und gut, dass ich dem Land auch etwas zurückgebe“, sagt Eder.

Shibukawa wiederum besuchte eine sogenannte „Escalator School“ in Tokio. „Ohne jegliche Aufnahmeprüfungen konnte ich seit meinem 13. Lebensjahr die Schule bis zur Bachelor-Prüfung in der Architektur­abteilung absolvieren“, erzählt sie. Für ihren Master aber habe sie sich für die Tokyo Tech entschieden –
„ich wollte meinen Fokus auf die Technik weiter vertiefen“. Von klein auf war sie davon fasziniert, etwas Zwei­dimensionales ins Dreidimensionale zu bringen, schildert sie. „Deshalb, denke ich, habe ich Origami so gemocht – und mag es immer noch, weil es darum geht, das Dreidimensionale zu denken und zu gestalten“, so Shibukawa weiter.

Und bei Eder, warum musste es bei ihm Architektur sein? „Ich wurde 1967 geboren, kurze Zeit vor der Mondlandung (21. Juli 1969, Anm.) – und damals, Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre, gab es eine Art Weltraumeuphorie. Wir bekamen etwa zu dieser Zeit unseren ersten Fernseher, und dann war da plötzlich ‚Raumschiff Enterprise‘ – ich war total gefesselt“, erinnert Eder sich. Immer habe er sich gefragt, warum es „diese fantastische Architektur der Science-Fiction-Filme, dieses Super-Technoide, ähnlich einer Raffinerie, nicht in unseren Städten gab“. Eder weiter: „Mit 16 bin ich dann mit meinen Eltern nach Paris gefahren – und da stand es plötzlich vor mir: das Centre Pompidou. Das war die Architektur, die mich so fasziniert hat, und da kam mir erstmals die Idee, selbst Architekt zu werden.“

Nach dem Masterabschluss zog Eder nach London, um dort eine Stelle in einem Architekturbüro anzu­treten, während es Shibukawa für die Arbeit in die Niederlande, nach Amsterdam, verschlug, wohin Eder kurze Zeit später nach- und mit Shibukawa zusammenzog. „Nach rund drei Jahren kamen wir an einen Scheide­weg und mussten uns fragen, was wir eigentlich mit unserer Zukunft vorhaben“, erzählt Eder weiter.

Es gab die Möglichkeit, in den Niederlanden zu bleiben, wo es damals einen regelrechten Architektur­boom gab; zur weiteren Auswahl standen Spanien (Eders Mutter ist Spanierin), ein englischsprachiges Land, Japan oder Österreich. Da aber das wirtschaftliche Umfeld im Spanien damals schwierig war und es dem Paar einfacher erschien, in Österreich statt in Japan oder etwa in Grossbritannien zu gründen, fiel die Wahl auf Wien. „Gegen Japan sprachen zwei Dinge“, erklärt Eder auf Nachfrage: „Das eine war, dass ich dort Ausländer bin, und das zweite war, dass Misa eine Frau ist; es erschien uns somit damals doppelt so schwierig, dort zu gründen, wie in Österreich.“ Shibukawa ergänzt: „Und nachdem mein Mann sich im Rahmen des Masterstudiums auch ausführlich mit meiner Kultur auseinandergesetzt hat und sie auch versteht, war es nur richtig, dass ich es ihm in Österreich gleichtue – wenngleich ich leichter Spanisch gelernt hätte als Deutsch.“

Raphael Eder und Misa Shibukawa mit Heidi Aichinger (Forbes, re.) mit dem Modell der „Fabrik 1230“, einem aus alter Substanz neu geschaffenen Kulturzentrum im 23. Wiener Bezirk. Im Bild links: Modell der Schule BORG Neulengbach.

2007 eröffneten Shibukawa und Eder nach Eders Ziviltechnikerprüfung und einer kurzen Phase der Untermiete bei befreundeten Architekten ihr erstes Büro im fünften Bezirk. Eder: „Das eigene Büro war immer unser Ziel. Ich wollte immer Architekt werden.“ 2018 übersiedelte das Büro in die Linke Wienzeile 38, in eines der legendären Otto-Wagner-Häuser am Wiener Naschmarkt.

Es ist das Haus mit der goldenen Fassadenverzierung von Koloman Moser; das S.E.A.-Büro liegt im Mezzanin und bietet aktuell zehn Mitarbeitern Platz zum Arbeiten. Die zahlreichen Bücherwände sind vollgestellt bis unter die Decken und zahlreiche Modelle zieren sowohl den Eingangsbereich als auch den Besprechungsraum. An den Wänden lehnen Materialproben aller Art –
die Plätze sind alle besetzt, es wird nämlich gerade an einem Wettbewerb gearbeitet. „Alles streng geheim“, grinst Eder. Die alten Doppelflügeltüren im 150-Quadratmeter-Büro sind nach allen Seiten hin geöffnet, die Aussicht auf den Naschmarkt gibt den Blick frei auf eine der zahlreichen Baustellen Wiens.

Hier fügen sich die Stilistik Otto Wagners und modernes Arbeitsgerät mühelos ineinander: Die neueste Anschaffung sei ein grosser Bildschirm im Besprechungs­raum, auf dem man schnell Ideen zeichnen und dis­ku­tieren könne, sagt Eder. „Das geht heute alles so viel schneller – ich selbst kann das nur rudimentär bedienen!“, lacht er und erinnert sich an den ersten gewonnenen und umgesetzten Wettbewerb des Architektenduos; eine Schule in Neulengbach: „Bis hin zum Modell und seiner Abgabe eine Minute vor Einreichschluss haben wir alles selbst gemacht. Das war schon abenteuerlich.“

Eder weiter: „Gerade am Anfang waren wir, wahrscheinlich wie viele andere Kollegen auch, sehr auf Wettbewerbe angewiesen. Und heute (Eder schaut für eine Statistik im Handy nach, Anm.) gewinnen wir jeden 6,5. Wettbewerb, aber Preise machen wir mit jedem 2,7. – also rund jeder dritte Wettbewerb ist zumindest ein Ankauf, ein zweiter oder dritter Platz.“ An drei bis vier Wettbewerben im Jahr nehme man teil.

Wenn wir nachts noch im Büro sitzen und arbeiten, legt uns der Geist von Otto Wagner seine Hand auf die Schulter und flüstert uns Ideen ins Ohr.

Raphael Eder

Man müsse solche Teilnahmen gut überlegen, weil sie Ressourcen binden, und wenn nichts dabei hereinkomme, gebe es auch keinerlei Kompensation für die getane Arbeit. „Das macht es schwer, in die Zukunft zu planen“, sagt Eder. Darüber, wie viel es koste, im Rahmen dieser Wettbewerbsarbeiten in Vorlage zu gehen, geschweige denn über die Dotierung der einzelnen Bauten, deren Planung und Umsetzung, halten sich die beiden Architekten lieber bedeckt: Man könne bei den grossen Projekten von zweistelligen Millionenbeträgen ausgehen, hält Eder sich eher vage.

Der Schule in Neulengbach sollten jedenfalls gleich mehrere Bildungsgebäude folgen – Shibukawa Eder Architects hat sich bis heute (vor allem, aber nicht nur) mit diesem Gebäudetypus einen Namen gemacht. Eder: „Es war so, wie wenn du einen Salzkristall in ein Glas Salzwasser wirfst – die Kristalle bauen sich wie von alleine aus und weiter auf“, so Eder. „Es war aber auch eine bewusste Entscheidung für diese Bauten“, ergänzt Shibukawa, „sie passen gut zu uns und unserer Arbeitsweise und machen auch sehr viel Sinn.“ Eder ergänzt: „Du trägst was zur Gesellschaft bei.“ „Darüber hinaus ist es spannend, Räume für Kinder zu gestalten, bis hin zu den Möbeln“ – die sie auch stets mitdenken, schliesst sich Shibukawa an. „Die Kinder verbringen heute vermehrt den gesamten Tag in der Schule, und dafür braucht es ein modernes Wohn-Lern-Leben-Gefühl, das wir mit der Architektur einbringen können“, sagt sie. Eder: „In Schweden gibt es ein Sprichwort, das sagt: ‚In der Schule gibt es drei Lehrer: Der eine ist die Lehrerin oder der Lehrer selbst, der zweite sind die Kinder untereinander – und der dritte Lehrer ist die Architektur; der Raum, in dem die Kinder sind.‘ Es wird immer wichtiger, wie Schulen gestaltet werden.“

Der „Bildungscampus Anna und Alfred Wödl“ in der Deutschordenstrasse im 14. Wiener Bezirk ist einer der S.E.A.-Referenzbauten im öffentlichen Raum. Er weist eine 100 Meter lange Vorderfront und sechs Geschosse auf, wobei jedes zweite Stockwerk grossflächig terrassiert wurde, sodass jeweils der Eindruck entsteht, im begrünten Erdgeschoss zu sein. Das Bauwerk bietet über 1.000 Kindern im Alter von null bis 14 Jahren Raum, wobei der Schwerpunkt bei gehörbeeinträchtigten Kindern liegt. „Wir haben deshalb durch das ganze Gebäude Induktionsschleifen für Hörgeräte eingelegt oder etwa einen absolut schalldichten Raum gebaut,
wo die Gehörtests stattfinden können“, so Eder.

Der „Bildungscampus Anna und Alfred Wörl“ im 14. Wiener Gemeindebezirk legt seinen Schwerpunkt auf gehör­beeinträchtigte Kinder. Vor der 100 Meter langen Vorderfront spielt sich das Leben der Nachbarschaft ab.

Foto: tschinkersten

Darüber hinaus aber entspricht der Bau unter anderem der Vorgabe einer „Biber“-Schule („Biber“ steht für Bildungsbereich), in der verschiedene Klassen sowohl vereint werden können, damit etwa von und mit älteren Kindern gelernt werden kann; oder aber Gruppen werden geteilt und nach ihren jeweiligen Bedürfnissen getrennt voneinander unterrichtet. Mit der Errichtung des Gebäudes, das auf einem Bahn-Drehkreuz gebaut worden ist, wurde auch der Raum davor für die Nachbarschaft geöffnet: Ein Weg vor dem Campus verbindet die einzelnen Quartiere rundherum nun miteinander; dies brachte merkliche Belebung. 2022 wurde der Bildungs­campus, der nach aussen hin mit seinen in hellem Salbeigrün gehaltenen und schräg gestellten Geländesprossen an den Terrassen auffällt, fertiggestellt und mit dem „Best Architects Award 2025“ ausgezeichnet. „Beim Entwurf dieses Geländes hat der Geist von Otto Wagner uns seine Hand auf die Schulter gelegt und uns ins Ohr geflüstert: ‚Macht sie schräg, die Stäbe!‘“, lacht Eder. „Das ist sehr gut gelungen und das Schattenspiel ist in jeder Sekunde des Tags anders.“ Der Campus wäre auch im Sinne Otto Wagners gewesen, dessen Bauten sich entlang des Wientals ziehen, sagt Eder.

Gegen Ende des Gesprächs fragen wir, was die beiden Architekten noch gerne bauen würden. Eder: „Ein Ziel wäre, etwas in Japan zu machen.“ „Ein Museum vielleicht“, ergänzt Shibukawa – „oder ein Ryôkan (tra­ditionelles japanisches Hotel, Anm.) in Österreich.“

Fotos: Gianmaria Gava

Heidi Aichinger,
Herausgeberin

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