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Das Phänomen der aussterbenden Orts- und Stadtkerne ist ein europäisches Thema und in der gebauten Landschaft in Österreich und Deutschland derzeit nicht zu übersehen. Ein Gastkommentar von Roland Gruber.
Durch die jahrzehntelangen monofunktionalen Siedlungserweiterungen an den Ortsrändern und die strukturellen Veränderungen in der Bevölkerung kommt es schnell zum Donut-Effekt, ein Begriff, den Hilde Schröteler von Brandt, Professorin an der Universität Siegen in Deutschland, geprägt hat. Das bedeutet, dass sich zuerst die identitätsprägenden Ortszentren entleeren. Wo die Einwohner fehlen, rutschen auch die Handelsflächen mit ins Donut-Loch.
Dass Stadt- und Dorfzentren verstummen, hat viele Gründe – ein wesentlicher ist die gestiegene Automobilisierung, durch die sich vitale Funktionen an die Ortsränder verlagert haben. Zuerst entstanden ausgedehnte Einfamilienhausgebiete, bald folgten die Handels- und Einkaufszentren und mittlerweile finden sich auch Verwaltungs- oder Gesundheitseinrichtungen in peripheren Lagen.
Denn der Donut-Effekt – die Verlagerung an den Rand und die damit einhergehende Verödung der Zentren – macht die Gemeinden kaputt. Er entzieht den Orten ihren Boden und ihre Identität und er macht sie auch für kommende Generationen unattraktiv. Es ist dringend an der Zeit, aus den Donuts wieder Krapfen zu machen, mit wohlschmeckender Marillenmarmelade oder anderen guten Füllungen in der Mitte, weil wir von einer Sache auch Abschied nehmen müssen: Der Handel in der klassischen Form ist nicht mehr zurückzuholen – der ist verloren. In der Mitte, im Zentrum darf kein Loch, keine Leere sein. Hier braucht es die Fülle des süssen Lebens.
Wir brauchen einen Krapfen-Effekt
Damit das süsse Leben wieder in die Orts- und Stadtzentren zurückkehren kann, ist ein umfassendes Bündel an Massnahmen und vor allem das Rückgrat und die Ausdauer der handelnden Personen vor Ort notwendig. Zuallererst steht das Bekenntnis der Politik und Verwaltung zur Innenentwicklung vor Aussenentwicklung. Ein weiterer Schritt ist es, die Bürgerschaft mit mutigen Beteiligungsprozessen zum gemeinsamen Weiterdenken zu gewinnen. Dabei ist es wichtig, die Bürgerinnen und Bürger vom ersten Akt der Ideenfindung bis zur konkreten Umsetzung als Experten für den eigenen Ort in die Veränderungsarbeit einzubeziehen. Und gleichzeitig ein umfassendes Bewusstsein für den sparsamen und intelligenten Umgang mit Grund und Boden zu schärfen. Das wird zwar immer öfter in Papieren, wie zum Beispiel im österreichischen Baukulturreport oder im deutschen Baukulturbericht, formuliert und gefordert, jedoch werden nach wie vor täglich zu viele Hektar Land verbaut. Trotz hohem Leerstand in gut erschlossenen Orts- und Stadtkernen werden die meisten dieser neuen Einfamilienhaus- oder Gewerbegebiete in flächenverbrauchenden, neuen Baugebieten am Ortsrand umgesetzt. Es wäre jedoch wesentlich klüger und vor allem auch ressourcenschonender, unsere verödeten Ortszentren mit kreativen und zeitgemässen Formen von Wohnen, Arbeiten, Handel und Freizeit zu beleben, vorhandene Gebäude und Flächen zu nutzen, umzubauen, weiter zu bauen oder, wo noch Platz ist, neu zu bauen. Diese kompaktere Bauweise und höhere Dichte sowie die dabei entstehenden Nutzungsdurchmischungen sind essentiell für den Sozialraum der Menschen und auch für ein intaktes Ortsbild. Und sie dämmen den Flächenverbrauch ein.
Roland Gruber,
... geboren 1972 in Bad Kleinkirchheim in Kärnten, Studium der Architektur in Linz und Zürich sowie Studium Kulturmanagement in Salzburg. Mitgründer und Geschäftsführer von nonconform, einem Büro für Architektur und Partizipation mit derzeit 7 Standorten in Österreich und Deutschland (u.a. Wien, Berlin und mehrere Orte im ländlichen Raum), Initiator und Kurator der nonconform Leerstandskonferenz, Mitgründer von LandLuft – Verein zur Förderung von Baukultur in ländlichen Räumen sowie Mitgründer von Zukunftsorte – Plattform für innovative Gemeinden.
Es gibt jedoch zahlreiche Orte in Österreich und Deutschland, die einen positiven Beitrag zum Krapfen-Effekt leisten: In Österreich wurde in der Tiroler Gemeinde Fliess ein nutzungsdurchmischtes Ensemble mit Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeit am Areal mehrerer leerstehender Gebäude entwickelt und die Gemeinde wurde dafür nicht nur mit dem Baukulturgemeinde-Preis, sondern auch mit dem Europäischen Dorferneuerungspreis ausgezeichnet. Ähnliche Projekte mit Strahlkraft zur Rückkehr des Lebens in die Ortsmitten wurden in der Tiroler Gemeinde Mils sowie der niederösterreichischen Stadtgemeinde Haag umgesetzt, wobei hier kulturelle Aktivitäten in der neugeschaffenen Mitte den Ausgang bilden und einen Schneeball-Effekt erzeugten. In Munderfing in Oberösterreich steht derzeit die Neudefinition des seit 40 Jahren leerstehenden Wirtshauses am Dorfplatz zu einem Multifunktionsort für Seminare, Kulinarik und temporäres Wohnen im Mittelpunkt. Im steirischen Trofaiach wird das gesamte Stadtzentrum mit sehr vielfältigen neuen „Marmeladefüllungen“ aus Orten für Spezialisten, einer Musikschule, neue Gaststätten, alternativen Büros und Gewerbe, Mobilitätsknoten, Kultur und einer Begegnungszone weiterentwickelt und dabei von einem „Zentrumskümmerer“ professionell begleitet. Und im Kärntner Moosburg ist neben Impulsen zu Wohnen und Bildung auch ein Coworking Space in einem Leerstand entstanden, der gerade einer Erweiterung erfährt.
In Deutschland gibt es neben Vorzeigeorten wie Blaibach im Bayrischen Wald mit seinem vielfach preisgekrönten, impulsgebenden Konzerthaus in der Ortsmitte oder Memmingen im Allgäu, die sich seit Jahren erfolgreich der Innenentwicklung annehmen und dafür auch den Baukulturgemeinde-Sonderpreis erhalten haben, mittlerweile zahlreiche andere Orte, an denen der Krapfen-Effekt sichtbar wird: In den Oberpfälzer Gemeinden Perlesreut und Berngau kommen neue Formen für Wohnen und kommunales Leben in einen Leerstand, in Ruhstorf in Niederbayern entsteht ein Wirtshaus mit gänzliche neuer Bedeutung und Multifunktionsnutzung, in Illingen im Saarland entwickelt sich auf dem Gelände einer ehemaligen Wurstfabrik mitten im Stadtzentrum eine sehr vielfältige Krapfenfüllungsmischung. Im nordrhein-westfälischen Arfeld ersetzt ein nutzungsoffenes Bürgerhaus als neue Drehscheibe für die Bevölkerung eine alte Schuhleistenfabrik und im bayrischen Kolbermoor wird der Krapfen-Effekt sehr aktiv gelebt, weil hier nicht nur das Zentrumsareal einer ehemaligen Baumwollspinnerei ein überregionales Leuchtturmprojekt für Umnutzung wurde, sondern auch die Stadt kontinuierlich Impulse setzt, um ein lebendiges Stadtzentrum zu schaffen.
All diese und zahlreiche weitere Orte sind dabei, den Turn-Around zu schaffen. Die Verantwortlichen haben die Tragweite erkannt und auf den Krapfen-Effekt gesetzt, das heisst die volle Konzentration auf die langfristige Entwicklung eines modernen und nutzungsvielfältigen Orts- und Stadtkerns gelegt. Dabei werden spannende Projekte mit höchster baukultureller Qualität umgesetzt. „Endlich treffen wir uns wieder am Dorfplatz und nicht mehr nur auf dem Friedhof“, so eine ältere Dame bei der Eröffnung des neuen Ortszentrums in Fliess.
Gastkommentar: Roland Gruber
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