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Alexander Sanger ist der Enkel von Margaret Sanger – die Krankenschwester aus Brooklyn gründete 1916 eine Klinik für Verhütungsmittel, aus der später die Organisation Planned Parenthood werden sollte. Auch mehr als 100 Jahre später kämpft ihr Nachfahre den Kampf seiner Grossmutter.
Als Margaret Sanger anfing, hatte sie alle gegen sich: „Die Regierung war gegen sie. Die Kirchen waren gegen sie. Die Ärzte waren gegen sie. Die Presse war gegen sie. Die Männer waren gegen sie. Und viele Frauen waren auch gegen sie“, erzählt ihr Enkel. Alexander Sanger ist 76 Jahre alt. Er trägt ein weisses Hemd und nippt an seinem Orangensaft. Bei Sarabeth’s, dem ikonischen Restaurant auf der Park Avenue in Manhattan, ist Sanger Stammgast, jeder begrüsst ihn mit Namen.
Er spricht detailverliebt über die Anfänge seiner Grossmutter und den langen Kampf, den sie begann und den er selbst fortführt – „mein gesamtes Leben“, wie er sagt.
„Meine Grossmutter hatte keinen Support, nur ihre Überzeugung“, erzählt Sanger weiter. „Und sie hatte arme Frauen, ihre Patientinnen, die in ihr eine Retterin sahen.“ Margaret Sanger war auch eine von ihnen – eine arme Frau. Sie war eine irische Einwanderin im New York des frühen 20. Jahrhunderts. Sie pflegte ihre Mutter, die bereits mit 47 Jahren starb – nach elf Geburten und vermutlich bis zu 18 Schwangerschaften; sieben Mal soll sie eine Fehlgeburt erlitten haben. Margaret Sanger war von dem Leid umgeben, das ungewollte Schwangerschaften und die unkontrollierte Familien-„Planung“ über die Menschen brachte.
In ihrer Klinik, die sie 1916 eröffnete, wurden Frauen vor allem Verhütungsmittel angeboten. Dem Gesetzgeber war das ein Dorn im Auge, viele Male hatte Sanger Ärger mit dem Gesetz. Später wurde aus jener Klinik die Organisation Planned Parenthood (PP), die wohl wichtigste Organisation für sexuelle Selbstbestimmung und Familienplanung in den USA – und weltweit.
Heute ist PP eine Wohltätigkeitsorganisation und der grösste Anbieter für Abtreibungen in den Vereinigten Staaten. Die mehr als 600 Kliniken im ganzen Land bieten jedoch auch Schwangerschaftsbegleitung, allgemeine gynäkologische Versorgung, Aufklärung, Verhütungsmittel und STI-Tests (also Tests zu sexuell übertragbaren Infektionen) an.
Meine Grossmutter hatte keinen Support, nur ihre Überzeugung.
Alexander Sanger über Margaret Sanger
Alexander Sanger bekleidete im Lauf seines Lebens verschiedene Positionen bei PP. In den 1990ern diente er fast zehn Jahre lang als Präsident für Planned Parenthood New York City und seinen internationalen Arm. Dort stach er als Wall-Street-Typ heraus – in der Welt von Planned Parenthood war er ein Aussenseiter, denn Sanger ist kein Mediziner. Nach seinem Studium der Geschichte studierte er Jura, arbeitete lange Zeit als Anwalt in einer Grosskanzlei und als Geschäftsmann.
Er ist noch heute Co-Chair von Fòs Feminista und fungiert dort als Botschafter, hält Reden und sammelt Gelder ein. Fòs Feminista ist eine Allianz von 250 Organisationen weltweit, die sich für sexuelle Gesundheit, Aufklärung und Gerechtigkeit für Frauen einsetzt, und war einst als der internationale Arm von Planned Parenthood in der westlichen Hemisphäre bekannt.
An seine Grossmutter selbst hat Sanger nur wenige Erinnerungen. Zum Ende ihres Lebens lebte sie in Arizona, er selbst wuchs in New York auf. „Wir haben sie vielleicht so einmal im Jahr gesehen“, erinnert er sich. Als sie starb, war Alexander Sanger 19 Jahre alt. Kurz danach entschied er sich, seine Abschlussarbeit über seine Vorfahrin zu schreiben. Er erlangte Zugang zu den Unterlagen seiner Mutter, die damals in der Library of Congress und im Smith College unter Verschluss gehalten wurden. Dort konnte er ihren Briefverkehr einsehen, Notizen und Tagebücher.
Sanger lernte viel über die Frau, die schon in seiner Kindheit ein Objekt der Bewunderung war; selbst bei Katholiken und Republikanern, sagt er. „Sie alle wollten eine bessere Gesellschaft, sie wollten, dass die Menschen eine Chance haben, sich zu verbessern – und Familienplanung war eben ein Teil davon.“ Rund fünf Jahrzehnte später scheint diese Gesinnung zu verblassen: Der Kampf um das Recht auf Selbstbestimmung ist täglich Thema – in der Zeitung, in Gerichtssälen, in den Kammern der Regierungen in Washington und der Bundesstaaten und auf der Strasse.
Das war nicht immer so. 1973 sicherte das Urteil „Roe vs. Wade“ des Obersten Gerichtshofs das Recht auf Abtreibung im gesamten Land zu. Drei Staaten hatten bereits kurz vorher Abtreibungen legalisiert. Mit diesen Rechtsprechungen konnten auch konservative Staaten viele Jahrzehnte lang keine Verbote von Abtreibungen durchsetzen. Das änderte sich 2022, als der Supreme Court die ursprüngliche Entscheidung wieder zurückzog. 14 Staaten haben das Recht auf Abtreibung seitdem extrem limitiert oder ganz abgeschafft. Das Recht auf Selbstbestimmung wird so zur offenen Wunde der amerikanischen Gesellschaft und könnte auch die Präsidentschaftswahl im November entscheiden. Und Planned Parenthood ist mittendrin.
Planned Parenthood finanziert sich heute durch Spendengelder und staatliche Mittel. Mehr als zwei Mrd. US-$ hat Planned Parenthood im vergangenen Geschäftsjahr (bis Juni 2023) umgesetzt. Fast die Hälfte davon kam aus privaten Spenden, etwa ein Drittel vom Staat.
Immer wieder wollen vor allem republikanische Politiker die Gelder von Planned Parenthood streichen. Fast nie gab es eine Zeit in der 107-jährigen Geschichte, in der PP nicht von einem Verbot und der Definanzierung bedroht war. Wie führt und entwickelt man eine Organisation, während man sich gleichzeitig permanent auf weitere Hürden und Einschränkungen einstellt?
„Die Herausforderung ist es, die eigenen Patientinnen zu Unterstützerinnen zu machen“, sagt Alexander Sanger. Mit Blick auf die Zahlen kann sich Planned Parenthood zumindest theoretisch auf einen grossen Unterstützerinnen-Pool verlassen: Laut Berechnungen des Guttmacher Institute werden etwa ein Viertel aller Frauen in den USA in ihrem Leben zumindest einmal eine Abtreibung haben; und nahezu jede sexuell aktive Frau in den USA benutzt im Lauf ihres Lebens Verhütungsmittel. So überrascht es nicht, dass nur 13 % der Amerikaner laut einer Gallup-Umfrage für ein komplettes Abtreibungsverbot sind.
Vor der Planned-Parenthood-Klinik in der Bleecker Street im Manhattaner Stadtteil Soho stehen oft Abtreibungsgegner mit Schildern und Prospekten; vor dem Eingang der Klinik zwei Mitarbeitende, die dafür sorgen sollen, dass Patientinnen unbelästigt die Klinik besuchen können. Das ist Alltag für die Planned-Parenthood-Kliniken im ganzen Land, doch es ist noch vergleichsweise harmlos: Immer wieder machen gewaltsame Anschläge auf Kliniken der Organisation Schlagzeilen. Patientinnen werden belästigt oder bedroht. In Staaten, in denen Abtreibungen inzwischen komplett verboten sind, kämpfen die Kliniken ums Überleben, denn ohne Abtreibungen ist es schwierig, die Standorte mit den nur wenigen verbliebenen Patientinnen zu betreiben.
Bei der kommenden Wahl könnte Planned Parenthood neue Rekordsummen für die Unterstützung von Kandidaten ausgeben. Bereits bei der Zwischenwahl 2022 gab die Organisation mehr als 50 Mio. US-$ aus. Doch diese politische Einmischung war lange umstritten. Freilich werden entsprechende Gelder vor allem eingesetzt, um demokratischen Politikern zum Sieg zu verhelfen und entsprechende Überlebensgarantien für Planned Parenthood zu schützen. „Doch damit macht man sich auch Feinde“, sagt Alexander Sanger. Er weiss, wovon er redet.
107 Jahre, drei Generationen, unzählige Rechtsstreitigkeiten, Triumphe und Niederlagen: Klar ist, dass die Arbeit von Margaret Sanger lange nicht erledigt ist. „Ich fürchte, auch meine Enkel werden diesen Kampf noch kämpfen“, sagt Alexander Sanger. Kommt da gar kein Frust auf? Er bleibe optimistisch, antwortet Sanger – „das muss ich auch.“
Er blickt auf die Uhr – neun Uhr, der nächste Termin ruft. Er kippt seinen Orangensaft in einen To-go-Becher, den man ihm unaufgefordert hingestellt hat, und bricht auf. Das Drei-Generationen-Projekt geht auch nach mehr als hundert Jahren mit ungebrochenem Enthusiasmus weiter.
Text: Sarah Sendner, New York
Fotos: Planned Parenthood