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Erneuerbare Energien sind hoch im Kurs, doch das europäische Stromnetz ist nicht auf die schwankenden Strommengen ausgelegt. Marcel Wasserer, Gründer des Wiener Start-ups enliteAI, möchte mit einer KI-Lösung Abhilfe schaffen und durch eine optimale Verteilung von Stromproduktion und -nachfrage die Netze entlasten.
Sauberer Strom wird meist bezüglich seiner Erzeugung diskutiert, aber seine Einspeisung in veraltete Netze ist in Diskussionen viel weniger präsent. Dabei ist das oft ein Problem, denn die europäischen Stromnetze werden durch den Umstieg auf erneuerbare Energien immer wieder an ihre Grenzen gebracht. Durch sogenannte Einspeisemanagement-Massnahmen wird die Produktion aus erneuerbaren Energien bei Überproduktion in ihrer Leistung reduziert oder ganz abgeschaltet, während in anderen Regionen gleichzeitig Strom aus Gaskraftwerken eingespeist werden muss, um die lokale Nachfrage zu decken. Das kostet Geld und nutzt die vorhandenen Ressourcen nicht optimal.
Einerseits passiert das, weil besonders Wind und Sonnenlicht wenig planbar sind und bei zu viel davon Überlastungen in Teilen des Netzes entstehen; andererseits, weil dieses nicht ausreichend dafür ausgelegt ist, grosse Mengen Strom über weite Strecken zu transportieren: Als die Infrastruktur vor Jahrzehnten errichtet wurde, kam der Grossteil des Stroms aus Atom-, Kohle- und Gaskraftwerken, die man je nach Bedarf hinauf- oder hinunterregulieren kann. Heute spielen erneuerbare Energien eine viel grössere Rolle: In Österreich wurden 2020 rund 37 % des gesamten Energieverbrauchs aus Erneuerbaren gewonnen, beim Spitzenreiter Schweden waren es sogar über 60 %.
Ein Wiener Unternehmen möchte dieses Problem mithilfe von künstlicher Intelligenz angehen: die enliteAI GmbH, die 2017 von Marcel Wasserer gemeinsam mit seinem ehemaligen Schulkollegen Clemens Wasner und dem Unternehmensberater Johannes Stumtner gegründet wurde. Das Start-up bietet verschiedene Leistungen und Produkte an, die Unternehmen dabei unterstützen, Profit oder logistische Abläufe zu optimieren. In den vergangenen Jahren konnte enliteAI über 45 individuelle KI-Lösungen in verschiedenen Unternehmen implementieren, bevor der Strategiewechsel hin zu eigenen Produkten erfolgte. „Derzeit sind wir in den Bereichen Logistik und Produktion, Energie und öffentliche Infrastruktur aktiv“, so Wasserer.
Die KI-Produkte von enliteAI arbeiten mit Reinforcement Learning – anders als die bisher erfolgreichen neuronalen Netzwerke, die anhand von Trainingsdaten lernen, bereits feststehende Ergebnisse zu erkennen. Beim Reinforcement Learning hingegen agiert die KI mit ihrer Umwelt – wie bei einem Schach- oder Computerspiel. Jedes Mal, wenn der Agent (wie die KI auch genannt wird) eine Aktion setzt, ändern sich die weiteren Handlungsmöglichkeiten. Ein Training mit einfachen Datensätzen ist daher nicht möglich, stattdessen wird mit Simulationen gearbeitet. Meist bekommt der Agent dann erst am Ende der Laufzeit Feedback, ob die getroffenen Entscheidungen langfristig richtig waren.
Um die KI für reale Entscheidungsprobleme wie beispielsweise Lieferketten einsetzen zu können, braucht es passende Trainingsumgebungen. Für ein Projekt zur Optimierung von Lieferketten musste enliteAI als Vorreiter in diesem Bereich selbst eine solche entwickeln: „Nachdem wir rund zwei Jahre daran gearbeitet hatten und so tief in diesem Thema drinnen waren, haben wir uns umgesehen, wo man das sonst noch verwenden könnte“, sagt Wasserer.
Sie stiessen auf den Wettbewerb „Learning to Run a Power Network“, der seit 2016 vom französischen Netzbetreiber RTE ausgerichtet wird. „RTE hat erkannt, dass das konventionelle Verfahren zur Steuerung der Stromnetze bei der immer höher werdenden Komplexität einfach nicht mehr ausreichend ist“, so Wasserer. KI-Lösungen können dabei helfen, an den vielen Stellschrauben zu drehen und neue Kombinationen zu finden, die die Netze entlasten. Dabei soll das System als Berater dienen und nicht selbst die Steuerung übernehmen. enliteAI sah die Chance, die neue Trainingsumgebung, die heute als MazeRL auf Github publiziert ist, für diese Problemstellung zu nutzen – mit Erfolg: 2022 konnte der erste Platz in besagtem Wettbewerb errungen werden.
Parallel zur Projektentwicklung tauschte sich das Start-up bereits mit Netzbetreibern aus und entwickelte ein eigenes Produkt, um den technischen Ansatz der Optimierung möglichst bald in die operative Betriebsplanung bringen zu können. Ausserdem wurde 2022 das Produkt „detekt“ gelauncht, das anhand von Bildmaterial Strassenschäden und Bodenmarkierungen erkennt und lokalisiert. Für CTO Wasserer ist das die grösste Errungenschaft: „Wir haben es geschafft, als kleines Unternehmen mit eigenen Mitteln zwei extrem anspruchsvolle Produkte zu entwickeln.“ Ausserdem ist ihm wichtig, tief in die technischen Details der Projekte involviert zu sein, weil er es ansonsten schwierig findet, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Er ist neben dem Entwicklungsprozess auch für technische Innovation im Unternehmen zuständig – und dafür, „die richtigen Leute zusammenzubringen“.
Das begann bereits mit der Gründung: Wasner und Stumtner kommen aus der Unternehmensberatung, während Wasserer die technische Expertise lieferte. „Wir stellten fest, dass wir gemeinsam ideal aufgestellt sind, um KI in Unternehmen zu tragen“, so Wasserer, der schon immer von KI fasziniert war. Als Kind interessierte er sich ausserdem besonders für Computerspiele: „Ich wollte diese aber nicht spielen – ich habe sie stattdessen nachprogrammiert.“ Das führte nach einem Studium in Computational Intelligence und Technischer Mathematik zu einer Karriere als Spieleentwickler. Wasserer baute ein 15-köpfiges Team auf, das neben anderen erfolgreichen Spielen auch „Ski Challenge“ programmierte. „Um meinem KI-Interesse nachgehen zu können, musste ich weitere zehn Jahre warten – bis die Computer leistungsfähig genug waren“, schildert Wasserer.
Mit enliteAI konnte er seine Leidenschaft nun verwirklichen. Das mittlerweile 15-köpfige Team konnte in den letzten Jahren einige Erfolge verzeichnen (beispielsweise ein Jahreswachstum von 189 %) und eine namhafte Kundschaft von insgesamt zwölf ATX- und DAX-Unternehmen aufbauen. Im letzten Herbst kam dann die Einladung zu einem Workshop auf der wichtigsten KI-Konferenz, der „NeurIPS“, in dem Anwendungsfelder für Reinforcement Learning vorgestellt wurden. Für Wasserer war es ein Meilenstein, gemeinsam mit den Vorreitern der KI-Branche – Deepmind, Open AI, Amazon und Google – sein Projekt vorstellen zu dürfen.
Für die Zukunft wünscht sich Wasserer, noch mehr Felder identifizieren zu können, in denen KI einen wichtigen Beitrag leisten kann, und zu zeigen, was durch KI im Bereich der Stromversorgung möglich ist. „Wir wissen aus unseren Studien, dass wir bis zu 60 % CO2 einsparen könnten. Das möchten wir jetzt auch ans Netz bringen“, sagt er. Bei den Betreibern sei der Druck hoch, die Netze gegenüber Engpässen abzusichern, doch weil das Thema noch sehr neu ist, müssen erst die geeigneten Daten gesammelt und Simulationen erstellt werden. Wasserer stellt ausserdem klar, dass die KI nicht die einzige Lösung sein kann, um das europäische Stromnetz sicherer zu machen – dazu gehören genauso Speichermöglichkeiten und der Netzausbau. Wasserer: „Aber man muss auch die interne Flexibilität der Netze nutzen, die unsere Systeme schaffen können.“
Marcel Wasserer, Clemens Wasner und Johannes Stumtner gründeten 2017 die enliteAI GmbH. Das Unternehmen wurde für seine Stromnetz-KI 2022 mit dem Sonderpreis „Verena“ des österreichischen Innovations-Staatspreises ausgezeichnet.
Fotos: David Visnjic