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Die Berliner Künstlerin Anne Bengard ist stark aus ihren Zwanzigern inspiriert, in denen sie in London lebte und in der Clubszene der Stadt arbeitete. Das Malen werde ihr „selbst oft unangenehm“, sagt sie, doch dafür sei ihre Kunst da: Sie möchte ihr eigenes Unbehagen erforschen.
Anne Bengard empfängt uns in ihrer Wohnung in Berlin-Schöneberg. An den Wänden hängen und lehnen Dutzende Gemälde – viele von ihnen zeigen eng umschlungene Paare oder Gesichter, aus deren Mündern (oder in sie hinein?) Hände wachsen und Schmetterlinge fliegen. In einer Ecke in ihrer Küche sind gut 100 Sprühdosen gestapelt und fein säuberlich nach Farben sortiert. Bengard reicht uns eine Tasse Kaffee: „Ich trinke selten einen. Es kann sein, dass er viel zu stark ist.“ Ihre Wohnung ist gleichzeitig ihr Atelier; hier lagert die 37-Jährige ihre Gemälde, malt und lebt.
Die Wahl-Berlinerin malt seit ihrer Kindheit, lebt aber erst seit rund acht Jahren als professionelle Künstlerin. Sie malt auf Auftragsbasis – hauptsächlich Porträts und fast immer Ölgemälde, sagt sie. Für Werbeagenturen malt sie auch grossflächige Wandmalereien, was den Sprühdosen-Stapel in der Küche erklärt; für Unternehmen etwa Wände in Büros oder Restaurants. Und sie malt zum Spass: „Viele meiner liebsten Gemälde male ich für mich. Manche erzeugen so wichtige, tiefe Gespräche, dass ich sie gern öfters ausstelle, ehe ich sie klar zum Verkauf anbiete“, sagt sie. Bengard thematisiert menschliches Verlangen und Fetische, sagt sie, seit einiger Zeit auch die Wechselwirkung zwischen der Traum- und der realen Welt.
Vier ihrer Werke – darunter ist auch jenes auf der nächsten Seite, das wir für unsere diesjährige Under 30-Kampagne verwenden – hat sie an Jmes World weitergegeben. „Es ist eine Serie, die Schlaf und Träume und die Welt dazwischen erforscht“, so Bengard. Jmes World möchte eine Plattform für „Co-Ownership von Kunst“ bauen – jeder soll dort Teile von Kunstwerken kaufen können, was den Markt demokratisieren und besonders jungen Künstlern helfen soll.
Diese Gruppe hat es nicht leicht: Laut einer Studie des Analyse- und Beratungsunternehmens Prognos im Auftrag des Bundesverbands Bildender Künstlerinnen und Künstler und der Stiftung Kunstfonds erzielen 90 % aller bildenden Künstler in Deutschland weniger als 20.000 € im Jahr aus ihrer künstlerischen Tätigkeit. Ein Drittel der Befragten finanziert sich grösstenteils aus anderen Mitteln; Frauen verdienen im Schnitt weniger als Männer, obwohl sie in Ausstellungen ähnlich stark vertreten sind.
Auch Bengard hat Nebenjobs, obwohl sie durch ihre Gemälde mehr als der Durchschnitt verdient. Wie hat es die Malerin, die eigentlich Theater studiert hat, in die Kunstwelt verschlagen? Und wie navigiert sie die Linie zwischen ihren künstlerischen Vorstellungen und ebenjener Aufgabe, die sogar Künstler beschäftigen muss – dem Geldverdienen?
Bengard wurde in Leipzig geboren, ihre Familie zog aber zuerst nach Berlin und, als Bengard neun Jahre alt war, nach Devon, England. Schon als Kind zeichnete sie gerne Mangas. „Meine Eltern haben mir das Equipment wie Federhalter gekauft. Die Rasterfolien, die man beim Manga-Zeichnen verwendet, um Schatten zu zeichnen, waren superteuer und nicht leicht zu bekommen, also hat mein Vater versucht, sie so gut wie möglich nachzubauen“, erzählt sie. Mit 19 inskribierte sie im Central Saint Martins College of Art and Design in London. „Als ich mich für den Studiengang einschrieb, hiess er ‚Theatre: Design for Performance‘. In dem Jahr, in dem ich startete, haben sie den Titel auf ‚Theatre: Performance, Design and Practice‘ geändert. Auf einmal mussten wir auch auftreten – aber niemand von uns wollte Theaterschauspieler werden!“ Sie zog das Studium durch. Das Entwerfen und Bauen der Bühnenbilder machte ihr Spass (es war der Grund, warum sie überhaupt inskribiert hatte), sie fand danach aber keinen Job in der Branche. Viele Einstiegspositionen seien unbezahlt gewesen, was sie sich in London nicht leisten konnte.
Sie fand ihren Weg in die Event-Industrie, arbeitete in Clubs oder organisierte private Partys. Dass sie viel in Fetish Clubs unterwegs war, beeinflusst ihre Werke heute stark. Bengard: „Mir hat die ‚Etiquette‘ dort sehr zugesagt – es geht um Respekt, Toleranz und Einverständnis; darum, die Grenzen anderer zu beachten, aber auch seine eigenen Grenzen durchzusetzen.“ Rund acht Jahre lang arbeitete sie als Freelancerin und organisierte später auch Firmenveranstaltungen, Hochzeiten oder richtete Locations für Musikvideos und Werbedrehs ein.
Das Malen gab sie nie ganz auf – und 2014, nachdem sie einige Monate durch Thailand, China und Japan reiste („irgendwann ging das Geld aus und ich musste zurück“), zog sie nach Berlin, um sich voll der Kunst zu widmen. „Ich hatte nicht wirklich einen Plan, und ich habe schnell gemerkt, dass ich noch andere Jobs brauchen werde“, sagt sie über die ersten Jahre. Sie arbeitete bei einem Reiseveranstalter und als Kunstpädagogin in einer Schule – und verkaufte ihre ersten Gemälde nebenbei. Dann, 2017, wurde sie Teil des Projekts „The Haus“: Auf rund 10.000 Quadratmetern wurde ein verlassenes Bankgebäude in eine Street-Art-Galerie verwandelt, die nach eigenen Angaben damals die grösste der Welt war. (Heute steht dort ein Wohnhaus.) „Das hat mir sehr viel mehr Aufmerksamkeit verschafft“, erinnert sich Bengard. Sie wurde immer öfter engagiert, meist von Agenturen, um Wandmalereien zu erstellen, bis das Geschäft mit den Wandmalereien ein weiteres Standbein für sie wurde.
Gleichzeitig gaben mehr Menschen Kunst – meistens Porträts – bei ihr in Auftrag. „Bis heute wächst die Anzahl meiner Kunden vor allem durch Mundpropaganda. Jemand, der zu Hause eines meiner Bilder hängen hat, wird gefragt, woher das kommt – und diese Person kommt dann zu mir“, so Bengard.
Viele von Bengards Kunstwerken beginnen mit einem Fotoshooting ihrer Musen; oft Freunde, denen sie auch 10 % der Erträge gibt. Sie nimmt den Pinsel nicht sofort in die Hand, sondern plant ihre Gemälde erst digital – direkt neben der Staffelei steht ihr iPad. „Es ist eine Mischung aus Photoshop, digitalen Collagen, Zeichnungen. Vielleicht male ich ein paar Skizzen, um zu schauen, welche Farben mir gefallen“, erklärt sie.
Die Einflüsse aus der Londoner Fetisch-Szene sind leicht zu erkennen: Ein Bild in ihrem Wohnzimmer zeigt einen Mann mit schwarzen Locken; seine Schultern sind nackt, in seinem Mund steckt ein Schmetterling. Ein weiteres: Derselbe Mann, wieder mit nacktem Oberkörper; eine Frau umarmt ihn von hinten, nimmt seinen Kopf in ihre Hände. Eine Hand verschwindet in seinem Mund, die andere in seiner Brust. Auf beiden Bildern schaut der Mann den Betrachter direkt an, seine Augen sind halb geschlossen, als wäre er in Trance. Eine andere Serie zeigt in Latex gekleidete Frauen, die in Seifenblasen gefangen sind. Wieder eine andere Bildreihe – eine Frau mit schulterlangen Haaren, in Fesseln. „Es geht aber nicht nur um Latex und Peitschen und Ketten, das ist der visuelle Teil“, so die Künstlerin – sie versucht, die Psychologie hinter Fetischen zu erforschen: „Warum sind Menschen von Dingen besessen? Wenn ich so etwas male, sehe ich, dass andere Verhaltensweisen wie das Sammeln von Kunst oder Sneakern auch zur Besessenheit werden können; dass wir normalen Dingen so eine grosse Bedeutung beimessen und ihnen so viel Macht über uns geben.“
Das Gemälde, das wir für unsere diesjährige Under 30-Kampagne gewählt haben, ist ein Porträt einer Frau, die Bengard in ihren jungen Jahren in Berlin kennenlernte. „Sie ist ein bisschen ein Freigeist“, so Bengard. Was heisst das aus dem Mund einer Künstlerin, die Fetische malt? „Sie packte zwei Koffer, keine grossen, verkaufte alles andere und ging auf Reisen.“ Heute lebt diese Frau mit ihrem Mann und ihren Kindern auf einer Ranch in Nicaragua (durch regenerative Landwirtschaft wollen sie das Land wiederbeleben, betont Bengard), wo die Künstlerin sie vor ein paar Jahren besuchte: „Sie hatte dort einen Pool, und der Pool war kaputt und voller Schmutz und Blätter und Insekten. Es war widerlich. Und sie ist reingesprungen.“ Es machte sich ein Gefühl von Unbehagen in ihr breit, erzählt die Künstlerin über den Moment – also schoss sie ein Foto. Erst Jahre später malte sie die Serie mit ihrer Freundin.
Wenn Bengard für einen Auftrag malt, gibt es natürlich Feedback-Schleifen mit dem Käufer – schliesslich muss es dem Kunden gefallen, wenn er es kaufen soll. Aber es sei dieses besagte Gefühl von Unbehagen, das die Künstlerin mit ihrer Kunst – jenen Gemälden, die sie nicht sofort zum Verkauf stellt – jagt. „Dort führt mich meine Kunst oft hin. Es fühlt sich dann an, als würde ich mich selbst verhören. Ich frage mich, wo diese Verhaltensmuster – die Fetische, die Besessenheit – in meinem Leben aufgekommen sind. Schliesslich bin ich diejenige, die das malt.“
Fotos: Charlotte de la Fuente