WO DER RUBEL ROLLT

Am 24. Februar 2022 geschah das lang Undenkbare: In Europa ist Krieg ausgebrochen. Kurz darauf kündigte der Westen eine neue Sanktionsrunde gegen russische Oligarchen an. Damit sollen die engen Vertrauten des Putin-Regimes, die jahrzehntelang von der Korruption im Land profitiert haben, getroffen werden. Doch sind alle Oligarchen gleich? Woher stammt ihr Reichtum? Und: Wie viel Geld hat eigentlich Putin?


Der Fall Tinkow – oder was passiert, wenn man sich gegen den Krieg ausspricht.
„Die Hälfte der Forbes-Top-20 sind gegen den Krieg“: Das sagte der russische Unternehmer Oleg Tinkow im Interview mit dem Videojournalisten Yuri Dud Anfang Mai. Dabei meinte der Tech-Gründer (und bis vor Kurzem Milliardär) Tinkow die Top 20 reichsten Russen auf der Forbes Billionaires List – er habe mit rund der Hälfte seit Anfang des Kriegs Kontakt gehabt und sie „seien alle einig“, so Tinkow – „einig gegen den Krieg.“ Diese Aussage hat in Russland für viel Aufsehen gesorgt, denn seit Präsident Wladimir Putin am 24. Februar in die Ukraine einmarschiert ist, sprachen sich nur wenige der russischen Oligarchen öffentlich gegen den Krieg aus. Somit stellt Tinkow eine Ausnahme dar. Der 54-Jährige hatte 2006 die „Neobank“ Tinkoff gegründet, mit der er 2013 an die Londoner Börse ging und damals eine Bewertung von 1,1 Mrd. US-$ erzielte. Nach dem Börsengang ergatterte Tinkow erstmals (mit einem geschätzten Vermögen von 1,4 Mrd. US-$) einen Platz auf der Forbes Billionaires List. Sieben Jahre nach der Gründung, 2020, bekam Tinkow ein Angebot von Yandex, dem russischen Pendant zu Google, seine Bank um sechs Mrd. US-$ zu verkaufen. Dieses lehnte der Gründer jedoch ab.

Nachdem sich Tinkow im April 2022 auf Instagram gegen den „verrückten Krieg“ äusserte, habe ihn die russische Regierung „gezwungen“, seine Anteile (35 %) an der Tinkoff-Bank zu verkaufen, für „nur 3 % des eigentlichen Werts“. Nutzniesser ist der Oligarch Wladimir Potanin, der nahe Kontakte zum Kreml pflegen soll, dessen Name aber bislang auf keiner Sanktionsliste auftaucht.

„Ich hatte rund 9,4 Mrd. US-$, nun sind es 0,2 Mrd. – aber wen interessiert das angesichts der Umstände schon?“, so Tinkow im Interview mit Dud. „Es sterben gerade ganz normale Leute. Und warum sterben sie? Nur weil sie in der Ukraine leben!“, so der Unternehmer. Tinkow hatte sich schon vor dem Krieg gelegentlich gegen das Putin-Regime ausgesprochen; so sagte er beispielsweise 2018 in einem Interview, dass Putin persönlich für die Korruption im Land verantwortlich sei.

Tinkow, der von der britischen Zeitung Financial Times als einer der wenigen Selfmade-Unternehmer Russlands bezeichnet wurde, ist kein gewöhnlicher russischer Milliardär, sondern ähnelt eher einem Serienunternehmer des Westens. Er studierte an der US-Eliteuniversität Berkeley und stellte in den 90er-Jahren eine Reihe an Gastro-Unternehmen auf die Beine, bevor er 2005 schliesslich die Tinkoff-Bank gründete, die heute mit acht Millionen Nutzern zu den grössten Onlinebanken der Welt zählt.

Der Fall Tinkow zeigt, was in Russland passieren kann, wenn man sich als Unternehmer öffentlich gegen den Kreml ausspricht. Er habe sein Unternehmen um Kopeken (russische Cents, Anm.) verkaufen müssen, sagt er. Und es drohen ihm bis zu 25 Jahre Haft, sollte er aus seinem Exil nach Russland zurückkehren – weil er die Invasion einen „Krieg“ nannte, statt (wie der Kreml vorgibt) eine „militärische Spezialoperation“. Und: Er habe letztens erstmals Securitys einstellen müssen, da ihn andere Oligarchen vor potenzieller Gefahr durch Putin gewarnt haben.

Tinkow ist nicht nur wegen seiner Aussagen ein Ausnahmefall, auch sein Lebenslauf entspricht nicht dem eines klassischen russischen Oligarchen. Doch was macht einen Oligarchen eigentlich aus?

Wie man einen Oligarchen erkennt.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurden Unternehmen, die zuvor unter staatlicher Kontrolle standen, privatisiert. Ein kleiner Kreis junger Männer nutzte die Öffnung des Markts geschickt aus: Die Unterschiede zwischen den alten Inlandspreisen für russische Rohstoffe (wie Erdgas und Erdöl) und den Preisen auf dem Weltmarkt waren gewaltig. So konnten sie Milliarden verdienen. Im Laufe der 90er-Jahre entstand eine Gruppe superreicher Industrieller, die dank ihrer engen Kontakte zur Politik geschäftlich profitierten und ihre Macht enorm ausbauten.

Der Grossteil von ihnen hat sein Vermögen in der Rohstoffindustrie gemacht (25 der 30 auf den folgenden Seiten angeführten Oligarchen waren an Rohstoffunternehmen beteiligt). So verdiente etwa der reichste Mensch Russlands, Wladimir Lissin (18,4 Mrd. US-$), als Vorstandsvorsitzender des Stahlproduzenten Novolipetsk Steel sein Vermögen; der zweitreichste, Wladimir Potanin (17,3 Mrd. US-$), wurde als Generaldirektor von Nornickel, einem Bergbauunternehmen, das Metalle wie etwa Gold, Silber, Nickel und Platin fördert, reich; der siebtreichste auf der Liste – Alischer Usmanow (11,5 Mrd. US-$) – verfügt mit Metalloinvest über die zweitgrössten Eisenreserven der Welt.

Die restlichen zwei Dutzend Oligarchen auf unserer Liste haben ähnliche Geldquellen. Roman Abramowitsch (6,9 Mrd. US-$) wurde im Ölgeschäft reich – zwischen 1996 und 1997 kaufte er zusammen mit Boris Beresowski in einer dubiosen Versteigerung den Ölproduzenten Sibneft (heute Gazprom Neft). Dmitri Rybolowlew (6,6 Mrd. US-$) stellte mit seinem Unternehmen Uralkali Mineraldüngemittel her; Oleg Deripaska (1,7 Mrd. US-$) war bis 2017 und bis zur Sanktionierung durch die USA Präsident von Rusal und im Aluminiumgeschäft aktiv.

In den 30 Jahren seit dem Zerfall der Sowjetunion wuchsen die Vermögen der Oligarchen rasant, während die realen Einkommen im Land stagnierten. Unseren russischen Forbes-Kollegen zufolge ist das Vermögen der russischen Milliardäre während der Pandemie um weitere 45 % gestiegen. Damit kontrollierten 2021 die 500 reichsten Russen mehr Vermögenswerte als die restlichen 99,8 % der Bevölkerung zusammen. Dabei macht das Vermögen des reichsten Russen einen höheren Anteil am BIP des Landes aus als in jeder anderen grossen Volkswirtschaft. Das Geld hat sich also angehäuft. Doch wo liegt dieses Geld?

Im Vergleich zu anderen Ländern legen die russischen Eliten einen wesentlich grösseren Anteil ihres Vermögens im Ausland an. Dem US-Thinktank Atlantic Council zufolge steckt rund eine Billion US-$ russisches Geld im Ausland (es wird vermutet, dass ein Viertel davon von Wladimir Putin und seinen engen Vertrauten kontrolliert wird). Dabei gehen die Oligarchen nach einem Schema vor: Meist errichten sie auf Zypern und auf den Britischen Jungferninseln Shell-Unternehmen zur Strukturierung von Investitionen. Damit lassen sich die tatsächlichen Besitzverhältnisse in einem komplexen Firmengeflecht verschleiern. Wem etwa eine Villa, ein Privatjet oder eine Yacht gehört, lässt sich meist nur schwer zuordnen.

Durch die Swiss-Leaks im Jahr 2015 wurde aufgedeckt, dass die HSBC Bank in der Schweiz bei einem Steuerhinterziehungsprogramm beteiligt war, zu dessen „Kunden“ 740 Russen gehörten, die gesamt mehr als 1,8 Mrd. € bei der Bank hielten.

Die russischen Oligarchen investieren gerne im DACH-Raum und geben hier ihre Milliarden für luxuriöse Besitztümer aus – etwa Yachten, Villen, Privatjets oder die teuersten Kunstwerke der Welt.

So schaffte sich etwa Oligarch Dmitri Rybolowlew eine beeindruckende Kunstsammlung an  und besitzt Werke von Picasso über Matisse, van Gogh und Rothko bis hin zu Gauguin sowie das teuerste Kunstwerk der Welt (das um 450 Mio. US-$ verkaufte „Salvator Mundi“-Gemälde von Leonardo da Vinci). Die Kunstschätze lagerte Rybolowlew im sogenannten Freeport Luxembourg, einem Lagerhaus für Superreiche, ein. Dieses liegt in der Nähe eines Flughafens – weshalb sich die kostbaren Schätze darin „in Transit“ befinden und nicht mehrwertsteuer- oder zollpflichtig sind. Insgesamt soll Rybolowlew Kunst im Wert von satten zwei Mrd. CHF erworben haben; zudem liess sich der Milliardär zwei Häuser in Gstaad im Wert von 135 Mio. US-$ bauen.

Rybolowlew ist nicht der einzige der Oligarchen, die sich im DACH-Raum den einen oder anderen Pied-à-Terre geleistet haben. So besitzt etwa der Putin-Vertraute Alischer Usmanow drei Villen am Tegernsee in Oberbayern und mit der „Dilbar“ eine der grössten Megayachten der Welt. Das angeblich 600 Mio. US-$ teure Boot wurde im März im Hamburger Hafen von deutschen Behörden beschlagnahmt.

Die Alpenrepublik Österreich wurde für manche Oligarchen zur zweiten Heimat. So gehörte das Luxushotel Aurelio in Lech (Vorarlberg) dem Aluminiummagnaten Oleg Deripaska. Kurz nach dem Ausbruch des Kriegs verkaufte Deripaska das Hotel an ein Unternehmen, das seinem Cousin Pawel Ezubow gehört. Weiters soll ein Haus am Wiener Kohlmarkt dem ehemaligen FC-Chelsea-Besitzer Roman Abramowitsch gehören.

In einem Bericht darüber, welche ausländischen Kräfte die Oligarchen bei ihren Käufen unterstützen, zeigte das International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ), wer an solchen Deals beteiligt ist: nicht nur unbekannte Mittelsmänner, sondern auch durchaus bekannte Unternehmen. So half etwa das Beratungsunternehmen EY Arkadi Rotenberg in Steuerfragen, als er 2011 mittels eines Shell-Unternehmens seinen Privatjet kaufte. (Nach dem Kauf kümmerte sich die österreichische Privatfluggesellschaft Avcon Jet um die Instandhaltung des Flugzeugs.)

Was ist eigentlich mit Putin?
Dem US-Finanzier Bill Browder zufolge könnte Wladimir Putin ein Vermögen von bis zu 200 Mrd. US-$ verwalten. Browder, der lange Zeit als Geschäftsmann in Russland tätig war und hinter den sogenannten Magnitsky-Gesetzen steht, geht davon aus, dass Putin mit den Oligarchen folgende Vereinbarung getroffen hat: „‚Du gibst mir 50 % deines Vermögens und ich lasse dir die anderen 50 %!‘“, erklärte Browder gegenüber Forbes US. „Wenn du das nicht tust, nimmt er dir 100 % deines Vermögens und wirft dich ins Gefängnis.“ Somit war das Errechnen von Putins Gesamtvermögen mathematisch recht simpel: Browder addierte die Nettowerte aller russischen Oligarchen und teilte sie durch zwei.

Browders These dürfte nicht allzu falsch sein, denn der Fall Tinkow scheint diese zu bestätigen. „Ich bin kein Politiker. Was wollen Sie alle von mir?“, antwortet Tinkow auf die Frage, ob er nicht schon früher mehr gegen das Putin-Regime hätte machen können. „Jetzt wurde mir meine Bank weggenommen. Wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn sie mir diese schon damals weggenommen hätten?“

Fotos: Forbes US

Sophie Spiegelberger,
Redakteurin & Head of Digital

Up to Date

Mit dem FORBES-NEWSLETTER bekommen sie regelmässig die spannendsten Artikel sowie Eventankündigungen direkt in Ihr E-mail-Postfach geliefert.