DER DIGITALE LEBENSABEND

In der Geriatronik verschmelzen neueste Technologien und Altenpflege. Auch in Bayern entstehen Innovationen, die eine hohe Lebensabendqualität garantieren – dank VR-Sets, Roboter, künstlicher Intelligenz und Smart-Home-Anwendungen, die jedes Zuhause senioren­freundlich machen. Ein Report.

Doch noch mal auf die geliebte Kampenwand. Mit der atemberaubenden Rundumsicht vom Gipfel, rein ins Chiemgau, rüber zum Wilden Kaiser, hinter ins Karwendel. Oder einmal noch ans Ufer vom Walchensee. An den Kiesstrand mit Blick auf den Jochberg. Oder vielleicht doch lieber runter ans Mittelmeer mit seiner grenzenlosen Weite. Es braucht gar nicht viel für die Reise zu den alten Lieblingsorten eines langen Lebens: eine VR-Brille, einen Controller und nach einer gewissen Zeit auch wieder ein Ladekabel.

Granny Vision nennt sich das Münchner Start-up, das es kranken, pflegebedürftigen und nicht mehr mobilen Menschen im hohen Alter ermöglicht, virtuell immer wieder lieb gewonnene Schauplätze aus der Vergangenheit zu besuchen oder Neues zu entdecken.

Um den Alltag hinter sich zu lassen, um einzutauchen in eine andere Welt. Um sich zu erinnern, um Emotionen zu wecken, aber auch das Kognitive wieder zu fördern. Oder auch um vor einem knisternden Kaminfeuer zu sitzen oder mit der KI Schach zu spielen. Nur ein Beispiel für in Bayern entwickelte junge Technologien, die älteren Menschen durch die letzten Jahre ihres Lebens begleiten sollen. Ein Beispiel dafür, wie digitale Innovationen helfen. Für eine höhere Lebensabendqualität.

2019 gründeten Daniel und Carolina Bendlin ihr Unternehmen, beide hatten schon individuelle, ganz persönliche Erfahrungen in der Altenpflege. Daniel Bendlin, der eine Ausbildung zum ehrenamtlichen Helfer in einem Münchner Hospiz begann und dort erstaunt feststellte, was todkranken Menschen in den letzten Monaten und Wochen ihres Lebens noch wichtig ist. 16 Zimmer habe die Einrichtung gehabt, erzählt Bendlin, acht gingen vorne raus zur Strasse, acht hinten in den Garten. „Sobald eines der hinteren Zimmer frei wurde, wollten viele von der Strassenseite dorthin umziehen“, sagt er. „Weil sie in ihren letzten Tagen doch noch mal ein Eichhörnchen sehen wollten und die Vögel zwitschern hören und keinen Autolärm.“ Weil sie damit friedlicher einschlafen konnten.

Und auch Carolina Bendlin wusste um die Herausforderung im Umgang mit Angehörigen, wenn sie ihrer Grossmutter immer nur erzählte. Von der neuen Wohnung, vom Ausflug in die Berge, vom Urlaub mit der Familie, aber sie die Oma aufgrund ihres fragilen Zustandes nie dorthin mitnehmen konnte. So entwickelten beide gemeinsam die Idee, mit einer 360-Grad-Kamera zu fotografieren, die Fotos auf eine VR-Brille zu spielen und der Grossmutter aufzusetzen. Bilder von der Hochzeit etwa. Damit sie doch noch das Gefühl hatte, dabei zu sein und mittendrin.

Nach und nach gewannen die Bendlins Senioren- und Pflegeeinrichtungen als Kooperationspartner, inzwischen sind es bundesweit schon an die 100 Institutionen, darunter auch ambulante Dienste und private Betreuer, die für 79 Euro im Monat die Granny Vision ins Haus holten. „Bei vielen gehört unsere Brille schon zum festen Wochenplan“, sagt Bendlin. Montag, 10 Uhr, Spielevormittag. Dienstag, 14 Uhr, Gymnastik. Mittwoch, 16 Uhr,

„Die Interaktion zwischen Mensch und Maschine ist gerade im Gesundheits­wesen nicht mehr aufzuhalten.“

Sami Haddadin

Reise in virtuelle Welten. Meist sind es dort dann allgemeine und gar nicht mal personalisierte Bilder, doch das reicht, um die Menschen abzuholen und an ferne, nicht mehr erreichbare Orte zu bringen – oder einfach auch nur auf die Parkbank ums Eck. Um alte Erinnerungen zu wecken und sie später in der gemeinsamen Runde zum Erzählen zu bringen. Wie es damals bei den wirklichen Erlebnissen eben so war. Auf den Bergen, an den Seen und am Meer. Im Leben früher.

Aber was bringt der Ausbruch aus der monoton realen in die bunte virtuelle Welt tatsächlich? Die Simulation als Stimulation, macht sie die Menschen wirklich glücklicher? Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology ermittelten in einer Studie 2018 viele positive Effekte von VR-Brillen auf das Wohlbefinden älterer Menschen: Das Gefühl von Glück, Zufriedenheit und Geborgenheit sei nach dem 3D-Rundumblick in projizierte Landschaften deutlich gestiegen. Und auch das kalifornische Front Porch Center for Innovation and Wellbeing fand in einer Untersuchung mit Bewohnern von Senioren- und Pflegeheimen heraus, dass sich 90 Prozent der Probanden fröhlicher und weniger einsam fühlten, wenn sie alles durch die zwar nicht rosarote, aber zumindest virtuelle Brille sahen.

Auch in Garmisch-Partenkirchen wird schon seit 2018 an technologischen Innovationen gezielt für Kranke und Pflegebedürftige geforscht, am Lehrstuhl für Robotik und System­intelligenz, einer Aussenstelle der TU München. Der Star des Instituts heisst Garmi, ein Roboter, der hier als Pflegeassistent durch einen Raum surrt. Manchmal bringt mit seinen Greifarmen ein Glas Wasser oder öffnet die Tür. Oder er misst den Blutdruck und fühlt den Puls. Ein Assistent, der uns das Leben einmal erleichtern soll. Den Kranken, den Alten.

Ein Roboter für die Menschheit. Gamis Vater ist Sami Haddadin, der Direktor der Munich School of Robotics and Machine Intelligence, er arbeitet in Garmisch als Professor am Lehrstuhl für Robotik und Systemintelligenz. Haddadin gilt auf seinem Gebiet als einer der weltweit führenden Persönlichkeiten, seine Entwicklungen schafften es bereits auf die Titelseiten des Time-Magazins und von National Geographic. Am Institut für Geriatronik entwickelt er mit seinem Team neue Technologien, wie Robotik und Mechatronik, wie IT und KI helfen können, älteren Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und sie in der medizinischen Versorgung optimal zu unterstützen. Beispielsweise durch die sogenannte „Remote Reha“ zur Verbesserung der Mobilität. Wie so eine Tele-Therapie aus der Ferne schon heute funktioniert, veranschaulicht Haddadin an einem Versuch. In der einen Ecke des Raumes sitzt ein Student als Patient mit Garmi neben sich. In der anderen sitzt der Besucher in der Rolle des Arztes, daneben ein Roboterarm und ein Bildschirm mit dem Scan eines menschlichen Oberkörpers. Dünne rote Linien zeigen Muskelstränge. So wie der Arzt den Roboterarm steuert, genauso bewegt Garmi nun seinerseits den linken Arm des Patienten. Doch mehr noch: Über einen Sensor am Maschinenarm spürt der Arzt die Gegenkraft des Patienten, als halte er den Arm des Menschen selbst. Als Rückmeldung, wie aktiv der Patient mitarbeitet. Lässt er sich nur passiv führen? Hat er mehr Kraft als letztes Mal? Und dann ist ja noch der Bildschirm. Je gelber und je dicker die Linien, desto aktiver die jeweiligen Muskeln. Ob der Arzt dabei im Nebenzimmer sitzt, in der nächsten Stadt oder am anderen Ende der Welt, ist zweitrangig. Hauptsache, das Internet ist stabil. Garmi als verlängerter Arm des Arztes, eines von nur vielen Beispielen, wie Geriatronik künftig zum Einsatz kommen soll. Gedacht ist das System vor allem für Senioren, die alleine zu Hause leben. Als Allround-Alltagshelfer, der im Notfall auch sofort Alarm schlägt. Wenn der Mensch etwa in der Wohnung stürzt, wenn er mit Brustschmerzen im Bett liegt und nicht ans Telefon kann, wenn die eine Gesichtshälfte als Indiz auf einen Schlaganfall anders aussieht als gewohnt, wenn die Algorithmen beim Biomonitoring erkennen: Da stimmt was nicht. Dann soll Garmi sofort den Arzt verständigen, womöglich selbst EKG und Ultraschall durchführen und Bilder und Daten in Echtzeit übermitteln.

Aber Garmi beherrscht auch die emotionale Klaviatur, wenn die blauen Augen im Display seines Kugelkopfs putzig blinzeln oder wenn er ein synthetisches Lachen generiert, das zwar mehr noch nach dem Sound einer Atari-Spielkonsole aus den Achtzigerjahren klingt, aber damit neben KI auch noch KE vermittelt: künstliche Empathie. Ein Roboter fürs Zwischenmenschliche.

Es hat ausserdem einen guten Grund, warum das Helferlein so drollig und tollpatschig daher rollt und trollt. Schliesslich wurde er in Aussehen und Design nach Umfragen unter Senioren und Pflegekräften ganz bewusst optisch genau so konzipiert, harmlos, liebenswert und unbeholfen. Verständlich irgendwie. Auf dem Weg durchs letzte Lebensviertel, wer hat da schon gern einen grimmigen Kampfroboter im Terminator-Look an seiner Seite?

Für Haddadin steht die Entwicklung in der künstlichen Betreuungsassistenz gerade erst am Anfang. Als „einen Meilenstein“ bezeichnet er den Beschluss des bayerischen Kabinetts, das nur eine Stunde vor dem Gespräch grünes Licht für den Bau eines grossen Geriatronik-Forschungscampus hinter dem Garmischer Bahnhof gegeben hat. Ein zentraler Ort für Pflegeheime und Pflegeschulen, für betreute Wohnformen, für einen unmittelbaren Austausch zwischen Forschung an der Assistenzrobotik und praxisnaher Anwendung beim Menschen.

Das Kernthema auch von „Dein Haus 4.0“, einem Forschungsprojekt der TH Deggendorf, das im Juni 2022 als eines von zehn bundesweit bedeutenden digitalen Innovationsprojekten aus dem ländlichen Raum ausgezeichnet wurde. Wissenschaftler und Studierende entwickelten dabei Technologien als Alltagshelfer für alleinstehende Senioren. Smart Devices, die etwa erkennen, wenn die Kühlschranktür offensteht und die Lebensmittel zu verderben drohen.

Oder die registrieren, wenn die Trittfrequenz bei Bewohnern kürzer wird und sie häufiger stolpern. „Wir wollen den Sturz nicht erst erkennen“, sagt Projektleiter Horst Kunhardt, der von einem „protektiven Haus“ spricht, „wir wollen ihn vermeiden.“ Um den Menschen ein möglichst langes eigenständiges Leben in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen.

Doch wie geht es weiter? Der smarte Alterssitz, das vernetzte Pflegestift, wie sieht die Zukunft in der Alten- und Krankenbetreuung wirklich aus in einigen Jahrzehnten? Sami Haddadin ist überzeugt, dass die Distanzbehandlung des Arztes, die „Remote Reha“ mit Hilfe eines ferngesteuerten Assistenzroboters vor Ort bald zur Normalität wird. „In 50 Jahren ist das längst Realität, die Interaktion zwischen Mensch und Maschine ist gerade im Gesundheitswesen nicht mehr aufzuhalten.“ Das Miteinander von Hausarzt und Robodoc. Und von einer neuen Stufe des Internet-Zeitalters spricht er, vom Übergang des „Age of Information“ auf das „Age of Action“.

Auch im virtuellen Raum wird die Entwicklung rasant vorangehen, sagt Granny-Visionär Daniel Bendlin und erinnert an den Game Boy vor gerade einmal 30 Jahren, der in seiner visuellen und akustischen Qualität heute mehr wie ein Artefakt aus dem digitalen Neandertal anmutet. „Wir werden uns sicher bald von diesen grossen Headsets verabschieden, die VR-Technologie der Zukunft wird eher wie eine leichte Skibrille, eines Tages vielleicht gar wie eine Sonnenbrille aussehen.“ Dass die Enkeltochter die Oma dann per Livestream auf einen Spaziergang an der Isar mitnehmen kann, so ist seine Vision. Wenngleich auch er sagt, all das Virtuelle kann zur Verbesserung der Lebensqualität nur eine Ergänzung sein. Ersetzen, das weiss auch Bendlin, lassen sich der menschliche Kontakt und das authentische Erlebnis nicht. Nicht das reale Schachspiel mit einem direkten Gegenüber. Nicht die Hochzeit der Enkelin. Nicht das reale Gipfelglück auf der Kampenwand.

Sami Haddadin, der Direktor der Munich School of Robotics and Machine Intelligence, gilt als einer der besten Robotik-Wissenschaftler weltweit. Dass er vor einigen Jahren aus den USA nach Deutschland zurückkehrte, wurde als Sensation gefeiert. Tatsächlich ist Deutschland bei der Produktionstechnik schon lange vorne dabei. Er sagt: „Die Robotisierung im ganz grossen Stil steht uns allen erst noch bevor.“

Text: Florian Kinast
Fotos: Miriam Doerr Martin Frommherz, Azovsky, Zapp2Photo, Halfpoint (alle Shutterstock.com)

Forbes Editors

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