Wirklichkeiten konstruieren

Lera Boroditsky erforscht Sprache und Bewusstsein – mit dem Ziel, vermeintlich angeborene Fähigkeiten zu disruptieren. Denn wenn Sprache Bewusstsein formt, schafft sie bei veränderter Anwendung auch neue Realitäten.

Sprache, sagt Lera Boroditsky, ist Teil unserer universellen menschlichen Erfahrung. Es gibt nichts, ­worüber wir Menschen nicht sprechen können – und so formt Sprache auch die Art, wie wir über Dinge, Beobachtungen oder Erfahrungen denken. Und es ist nicht nur so, dass die Verschiedenheiten der Wahrnehmung etwa im Vergleich ­unterschiedlicher Kulturen und Sprachen gross sind – sie sind auch erheblich in der Konversation zwischen Individuen der gleichen Sprache und Kultur. „Als Methode der Kommunikation ist Sprache nicht perfekt“, sagt Boroditsky, „und gleichzeitig ist es die beste, die wir haben.“ Eine perfekte, absolut unmissverständliche Kommunikation sei selbst mit Menschen, die man viele Jahre kenne, nicht möglich. „Da geben wir uns einer Illusion hin und sind oft schockiert, dass es überhaupt möglich sein kann, mit seinem langjährigen Partner so grosse Missverständnisse zu haben.“ So, wie es der Dramatiker und Nobelpreisträger George Bernard Shaw einst formulierte: „Das grösste Problem in der Kommunikation ist die Illusion, sie hätte stattgefunden“, zitiert sie ihn.

Lera Boroditsky wurde 1976 in Weissrussland geboren. Heute ist sie Professorin an der University of California San Diego (UCSD) – und zwar an der Fakultät für Kognitionswissenschaften, die interdisziplinär aufgestellt ist. „Psychologen, Linguisten, Neurowissenschaftler, Computerwissenschaftler, Philosophen und Anthropologen – wir sind ein bunter Haufen.“ Boroditsky zählt zu den Vertretern des sogenannten linguistischen Relativismus, der die Verbindung zwischen Sprache und Denken in den Fokus seiner Forschungen stellt. Aufbauend auf der Sapir-Whorf-Hypothese geht die Forscherin von einer Art innerer Sprachform, einem sprachlichen Weltbild, aus, das von semantischer Struktur und dem Wortschatz der Muttersprache bestimmt wird. Das bedeutet: Menschen, die ihre Gedanken mit einer Person einer anderen Muttersprache teilen, können davon ausgehen, dass sie nicht verstanden werden.

Die Theorie wurde zwar bereits in den 1950er-Jahren verfasst, Boroditsky befeuert diese aber mit neuen Ideen und Experimenten. Sie spricht von „disrupting abilities“, was in letzter Konsequenz eine Verhaltensveränderung zur Folge haben könnte. Boroditsky: „Grundsätzlich sind Sprachen Werkzeuge, die wir sowohl zur Kommunikation als auch zum Denken verwenden. Wir formen sie nach unseren Bedürfnissen und auf Erfahrungen hin. Je nach Umfeld, Notwendigkeit und Gegebenheiten haben diese Werkzeuge – abseits einer simplen Benennung von konkreten Gegenständen zum Beispiel – auf abstrakteren Positionen wie ‚Vergangenheit und Zukunft‘ Einfluss auf die Wahrnehmung von Zeit und Raum.“ Vieles in unserer ganz alltäglichen Kommunikation sei „gut genug“, sagt sie. „Im Sinne von ‚Gib mir das Salz‘ – und man bekommt, was man wollte.“ Weitaus komplexer stelle sich das Ganze bei abstrakteren Begriffen, etwa Liebe, Wahrheit oder Gerechtigkeit, dar – oder bei Metaphern, die Boroditsky aktuell gerade erforscht.

Lera Boroditsky
...wurde 1976 in Weissrussland geboren, studierte Kognitionswissenschaften an der Northwestern University und machte ihren Ph. D. in kognitiver Psychologie an der Stanford University. Heute ist sie Associate Professor an der UCSD. Das US-Magazin Utne Reader bezeichnete sie als „one of 25 visionaries changing the world“. Boroditsky ist Keynote-Speakerin am Forbes Women’s Summit am 21. 3. 2019 in Wien.

Greifbarer wird das anhand von Beispielen. Die Aborigines-Gruppe der Kuuk Thaayorre hat beispielsweise keine Bezeichnungen für links und rechts, stattdessen wird in nahezu jedem Satz die Himmelsrichtung angemerkt, in die der Sprecher gerade schaut. „Orientierung ist dort eine absolute Massgabe und so stark ausgeprägt wie kaum woanders auf der Erde“, so Boroditsky. „Jede Fünfjährige könnte Ihnen dort sagen, wo Südwesten ist. Ich mache dann gerne ein albernes Experiment, in dem ich einen Hörsaal voller Universitäts­professoren bitte, nach Südwesten zu zeigen. Da zeigt jeder in eine andere Richtung.“ Für die Kuuk Thaayorre etwa verläuft die Zeit der Sonne entlang von Osten nach Westen. „Im Westen sagen wir: ‚Die Zukunft liegt vor und die Vergangenheit hinter uns.‘ Doch was bedeutet das für unsere psychologische Realität? Sollte die Vergangenheit nicht vor uns liegen, weil wir sie sehen – und die Zukunft hinter uns? Was macht all das mit unserem Verstand?“

Sprache ist laut Boroditsky in der Lage, Bereiche wie Orientierung (Zeit und Raum), aber auch Zahlen oder Geschlechter im Gehirn zu formen. „Das kann starke Auswirkungen haben, zum Beispiel auch dann, wenn man Geschlechter zuschreibt“, sagt sie. „Etwa bei ‚die Brücke‘ im Deutschen und ‚el puente‘ (‚der‘ Brücke) im Spanischen.“ Bitte man Probanden, diesen Dingen drei Eigenschaften zuzuschreiben, würden Deutsch sprechende Menschen die Brücke als elegant, filigran oder schön beschreiben, während Spanisch sprechende Menschen mit männlichen Attributen wie stark oder mächtig arbeiten würden. Bemerkenswert dabei sei, so Boroditsky, dass die Menschen glauben, dieses zugeschriebene, ­konstruierte Geschlecht sage tatsächlich etwas über das Objekt aus. Es gebe Anhaltspunkte dafür, fährt sie fort, dass diese Geschlechtszuweisungen auch Auswirkungen auf die Politik haben. So wurde etwa beschrieben, dass es in Ländern mit weiblichen und männlichen sprachlichen Geschlechtszuschreibungen höhere Tendenzen zu einem Gender Pay Gap oder einer Unterrepräsentanz von Frauen in den Regierungen gebe, so die Forscherin weiter.

„Ich hoffe“, sagt Boroditsky, „dass uns das Wissen darüber, wie Sprache unser Bewusstsein formt, die Möglichkeit eröffnet, unsere Gedanken und Wirklichkeiten stärker zu hinterfragen. Sie sind ja durch Sprache und Kultur konstruiert – und wir haben sie von unseren Vorfahren mitbekommen. Dieses Erbe sollten wir mehr hinterfragen, und nicht diesem ‚naiven Realismus‘ folgen, der besagt, dass alles, was ich erlebe – und wie ich es erlebe –, die wahre Wirklichkeit ist. Das würde nämlich bedeuten, dass alle anderen falsch liegen – und das ist nicht richtig“, grinst sie. „Ich hoffe, dass ­Menschen über Sprache und das Wissen darüber lernen und erfahren können, dass die Dinge anders sein können; dass sie sich öfter fragen, ob sie die Dinge nicht auch aus einer anderen Perspektive betrachten könnten, und dies dann auch tun, weil es sie verändern und die Welt für sie zu einem grösseren Ort mit mehr Möglichkeiten machen wird.“

Dieser Artikel ist in unserer September-Ausgabe 2018 „Women“ erschienen.

Heidi Aichinger,
Herausgeberin

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