Wimmsi, der Spass-fussballer

Patrick Wimmer wuchs auf einem Bauernhof in Niederösterreich in bescheidenen Verhältnissen auf. Dass er Fussballprofi wurde, ist seiner Oma zu verdanken, die ihn, als er ein Bub war, allerdings erst zum Kicken überreden musste. Nun will der 22-Jährige bei der EM in Deutschland mit Österreich für Furore sorgen.

Es ist eine Klage, die man immer wieder hört, aus der Ecke der Nostalgiker und der selbsterklärten Fussballfachleute: Dem Sport fehlen die Typen. Zu stromlinienförmig, zu angepasst seien die Spieler der aktuellen Generation – weil in den Akademien den Talenten die Ecken und Kanten abgeschliffen werden.

Ob diese Diagnose zutreffend ist oder nicht, darüber lässt sich vortrefflich streiten. Sicher ist: Patrick Wimmer muss sich von dieser Aussage nicht angesprochen fühlen. Der 22-jährige Angreifer des VfL Wolfsburg und Hoffnungsträger der österreichischen Nationalmannschaft gilt als „echter Typ“. Und er sieht sich auch selbst so: „Ich bin einer, der immer für Überraschungen gut ist – das ist mein Marken­zeichen“, sagt ­Wimmer, Spitzname „Wimsi“, beim Zoom-Interview mit Forbes Mitte Dezember des ver­gangenen Jahres.

Dass er keine klassische Aus­bildung in einer Nachwuchs­akademie eines Klubs durchlaufen hat, zeigt sich auf und neben dem Platz. „Andere haben fussballerisch vielleicht ein besseres Niveau. Dafür bin ich ein Instinktfussballer“, sagt Wimmer. Auch in der Kabine und im Vereinsumfeld fällt auf, dass er ein wenig anders tickt: „Wenn mich was stört, dann mach ich den Mund auf. So bin ich halt aufgewachsen.“

Wimmers Karriere wirkt wie ein seltener, aber schöner Zufall. Als Kind faulenzte er am Wochenende lange Zeit lieber zu Hause auf dem Sofa, statt mit anderen Burschen einem Ball nachzujagen. Seine Grossmutter Maria musste ihn geradezu zwingen, zusammen mit seiner älteren Schwester zum Fussballtraining zu gehen. Selbst in seinen frühen Teenagerjahren betrieb Wimmer das Gewichtheben mit mehr Ernsthaftigkeit als den Fussball. Er gewann sogar einige Turniere auf europäischem Niveau, trotz seiner schon damals eher schlanken Statur.

Fussball war lange Zeit ein Hobby, keine Ambition. Noch im Alter von 14 Jahren spielte Wimmer für seinen Dorfverein, den SC Sitzen­berg-Reidling. In seiner Freizeit kickte er auf der „Pfarr­wiesn“, einem Feld mit Handball­toren hinter dem Pfarrhaus. ­Wimmer sieht sich bis heute als „Spass­fussballer“. Im Gegensatz zu anderen fussballverrückten Kids schaute er sich damals nur selten Spiele im Fernsehen an. Er sammelte auch keine Trikots von Idolen. Dafür hätte er ohnehin kein Geld gehabt – Wimmer wuchs in eher bescheidenen Verhältnissen auf. Von allen Burschen auf der „Pfarrwiesn“ hatte er die günstigsten Fussballschuhe; die Familie fuhr nie auf Urlaub. Erst später, als Nachwuchsspieler bei den Profis von Austria Wien, reiste Wimmer erstmals ins Ausland.

Früher fütterte Patrick Wimmer am Bauernhof seiner Eltern die Tiere oder fuhr mit dem Traktor in den Wald. Heute sieht er sich als „Instinktfussballer“.

Auch hatte Wimmer erst mit 13 Jahren ein Smartphone. Soziale Medien kamen in seinem Alltag kaum vor – stattdessen stand er früh auf, musste die Tiere füttern, dann ging es mit dem Traktor in den Wald, zum Brennholzmachen, oder in den Weinberg, um die Reben zu spritzen; und dann früh ins Bett. Nebenbei machte er eine Ausbildung zum Mechatroniker. Wäre er nicht Fuss­ballprofi geworden, würde sein Leben heute wohl noch genau­so aussehen, glaubt er. Und er würde es nicht mal bedauern: „Mein Ziel war es nie, Fussballprofi zu werden. Ich bin nicht auf den Fussball angewiesen. Ich spiele, weil ich Spass daran habe“, sagt Wimmer.

Der Niederösterreicher wurde als 16-Jähriger nach einem Einsatz in der Profimannschaft des Viert­ligisten SV Gaflenz entdeckt. Der Hauptsponsor von Austria Wien war vor Ort und empfahl dem Bundes­ligisten aus der Hauptstadt den jungen Flügel­spieler. Von der Austria wechselte Wimmer für 700.000 € zum damaligen deutschen Erst­ligisten Arminia Bielefeld und schaffte 2021 mit drei Toren und acht Vorlagen den Durchbruch. Trotzdem konnte die Arminia den Abstieg nicht ver­hindern. Wimmer hingegen blieb erstklassig: Der VfL Wolfsburg nutzte die Fünf-Millionen-­Euro-Ausstiegsklausel.

Anfang 2023 lieferte der Datenanbieter Opta eine über­raschende Statistik. Demnach gab es zu diesem Zeitpunkt in den besten fünf Ligen Europas nur drei Spieler (mit mindestens 500 Einsatzminuten), die pro Partie im Schnitt mehr als eine Grosschance vorbereiten: Manchester Citys Kevin De Bruyne, Weltmeister Lionel Messi bei Paris St. Germain – und Wolfsburgs Patrick Wimmer. Durch eine 1:2-Heimniederlage am letzten Spieltag gegen Hertha BSC verpasste er mit dem VfL knapp den Einzug in die Europa League.

Ein halbes Jahr später muss Wimmer einen erneuten Rückschlag verkraften: Im vergangenen November verletzte er sich am Sprung­gelenk. „Das ist eine neue Erfahrung für mich. Es ist zäh und zieht sich“, sagt Wimmer. Nach dem Aufbau­training will er im Januar wieder auf dem Platz stehen.

Die Europameisterschaft in Deutschland soll ein weiteres Karriere-Highlight werden. Ralf Rangnick hat bei der österreichischen Nationalmannschaft Euphorie entfacht; durch den 2:0-Sieg gegen Deutschland im November nahm die Vorfreude auf das Turnier weiter zu. Wimmer kam nicht zum Einsatz, feierte aber nach dem Schlusspfiff ausgelassen mit der Mannschaft.

Rangnick, der in seiner langen Karriere viele Talente zu Topstars aufgebaut hat, hält grosse Stücke auf Wimmer: „Patrick kann ein inter­nationaler Top-Spieler werden.“ Ob er tatsächlich das Format hat, kann er im Sommer erstmals auf der grossen Bühne beweisen.

Österreich hat eine schwierige Gruppe erwischt, mit den Nieder­landen und Vizeweltmeister Frank­reich. Einsätze für die Nationalmannschaft betrachtet Wimmer „als Geschenk“. Denn: „Ein ganzes Land steht hinter dir, das sorgt für eine ganz besondere Atmosphäre.“ Und das zu erwartende Duell gegen Megastar Kylian Mbappé? Macht ihn das nervös? Wimmer schüttelt den Kopf: „Es ist mir völlig egal, wer mir auf dem Platz gegenübersteht. Ich scheiss mir nichts, wie man in Niederösterreich sagt.“

Das Thema Geld und Business nimmt er hingegen sehr ernst – ­früher hatte Wimmer die billigste Ausrüstung, heute ist er Fussball­millionär. Er investiert in Immo­bilien und engagiert sich für wohl­­tätige Zwecke. Und er arbeitet mit den Agenturen More Than Sport und Socentic Sports an Marketingprojekten. Seit Kurzem repräsentiert Wimmer die Traktorenschmiede Steyr als Werbepartner.

„Geld ist eine schöne Neben­sache“, sagt Wimmer. Aber er spielt nicht wegen des Geldes Fussball. Sondern aus Spass. Wie früher auf der „Pfarrwiesn“.

Patrick Wimmer steht beim VfL Wolfsburg unter Vertrag und spielt im offensiven Mittelfeld. Geboren wurde der wohl talentierteste österreichische Fussballer seiner Generation am 30. Mai 2001 in Tulln an der Donau. Bevor er sich dem Fussball widmete, war er Kraftsportler. Im Gegensatz zu den meisten Profis absolvierte Wimmer keine Nachwuchs­akademie; er gilt daher als Instinktfussballer, eine Spezies in diesem Sport, die als besonders rar und daher schützenswert gilt.

Fotos: Marvin Seibert

Reinhard Keck

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