Was braucht Europa?

Was passiert, wenn ein proeuropäischer Aktivist und ein junger Realpolitiker die Zukunft Europas diskutieren?

Wir haben es mit Akilnathan Logeswaran von der Bürgerbewegung Stand Up For Europe und Muamer Bećirović, Herausgeber des Digitalmagazins „Kopf um Krone“ sowie Bezirksobmann der Jungen Volkspartei (JVP), versucht.

Kaum ist die erste Frage gestellt („Was braucht Europa?“) legt Akilnathan Logeswaran auch schon los. Den Vorwurf der im Englischen gerne gebräuchlichen „hidden agenda“ kann man dem Deutschen wahrlich nicht machen. Zu unserem Fotoshooting erscheint Logeswaran einfach mal mit einer Europa-Fahne – als wäre es das Normalste auf der Welt, so aufzutauchen. Und auch in der Argumentation seiner Standpunkte lässt der Münchner nicht offen, welches Europa er sich wünscht: „Früher haben politische Ideen immer jemandem ‚gehört‘. Doch wir müssen im Denken auf Kollaboration umstellen. Unternehmen sind da einen Schritt weiter, Tesla macht etwa seine Patente zugänglich, um den Markt zu ver­grössern. Unternehmen erkennen, dass sie es alleine nicht mehr schaffen. Das Gleiche muss in der Politik passieren.“ Logeswaran wünscht sich mehr Miteinander, mehr Zusammenarbeit, mehr Europa. Macht Sinn. Doch sobald Muamer Bećirović ans Wort kommt, knallt diesen Ausführungen harte Realitätsnähe entgegen. Bećirović übt sich in seinem Digitalmagazin Kopf um Krone nämlich regelmässig im politischen Streitgespräch und hat zu diesem Zweck etwa bereits den österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz oder den Fraktionsvorsitzenden der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, getroffen. Und auch in diesem Fall hält der Österreicher mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg: „Ich wünschte, es würde so ablaufen. Doch in der Politik geht es um Interessen, und solange das der Fall ist, wird sich in Sachen Kollaboration nicht viel tun. Denn jeder verfolgt seine eigenen Interessen. Das funktioniert nicht, maximal könnte es zu einem Interessensabgleich kommen.“

Die Debatte der beiden nimmt sofort Fahrt auf und dreht sich um zwei grundlegende Fragen. Erstens: Braucht es eine europäische Identität? Und zweitens: Kann Europa ohne mehr Zusammenarbeit in Zukunft überhaupt überleben?

Fangen wir mit der ersten Frage an. Da gilt es erst mal zu differenzieren. Denn Bećirović verortet einen Unterschied zwischen dem, was gebildete, weltoffene, zumeist junge Menschen mit Europa verbinden, und dem, wie „einfache Menschen“ Europa sehen. „Die meisten Menschen da draussen tun sich mit diesem europäischen Bewusstsein schwer.“ Doch Logeswaran lässt das – erwartungsgemäss – nicht unkommentiert: „Die Europäische Union war auch eine Idee der Eliten. Damals wäre die Mehrheit der Bevölkerung wohl gegen die Gründung gewesen, Frankreich und Deutschland waren damals ja tief verfeindet. Doch das wandelt sich. Es gibt zahlreiche Initiativen, etwa Pulse of Europe, wo in vielen Ländern Demonstrationen für ein vereintes Europa stattfinden.“

Recht haben in gewisser Weise wohl beide. Denn die jüngste Ausgabe des Eurobarometers, einer EU-weiten Stimmungsumfrage, zeigt, dass die Zustimmung zur EU heute so hoch ist wie noch nie. 67 Prozent aller Befragten gaben im April 2018 an, dass ihr Land von der Mitgliedschaft in der Europäischen Union profitiert. 60 Prozent denken, dass die EU-Mitgliedschaft grundsätzlich eine gute Sache sei. Zum Vergleich: 2010 dachten lediglich 53 Prozent, dass die Mitgliedschaft ihrem Land dient.

Doch das Bild ist kein homogenes. Während Irland oder Malta auf eine Zustimmung von 90 Prozent kommen und sich in Deutschland rund 80 Prozent der Befragten positiv zur EU äusserten, finden in Österreich nur 54 Prozent der Befragten, dass die EU-Mitgliedschaft ihrem Land einen Nutzen bringt. EU-skeptisch zeigten sich auch die Griechen, die Italiener, die Tschechen oder die Kroaten. Doch das grösste Problem der Umfrage ist ein anderes. Denn laut Euro­barometer finden nur 32 Prozent der befragten Europäer, dass die EU sich in die richtige Richtung bewegt (obwohl auch hier ein positiver Trend besteht).

Eng zusammen hängt diese europäische Identität wohl mit der zweiten Frage: Wie viel Zusammenarbeit benötigt Europa? Und obwohl die Gründe dafür ziemlich unterschiedlich sind, sind sich Bećirović und Logeswaran in diesem Punkt einig: Europa muss enger zusammenrücken. Logeswaran sieht die Probleme unserer Zeit schlicht als zu gross an, um sie noch nationalstaatlich lösen zu können: „Der Klimawandel macht ja nicht an Landesgrenzen halt, da müssen wir zusammenarbeiten.“ Es benötige für solche Probleme also europäische Lösungen, etwa in der „Migrations-, der Energie- oder der Sozialpolitik“. Das Denken in starren Nationalstaaten sei veraltet, überhaupt denkt der Deutsche mit einem tamilischen Vater, dass die Rückkehr zu einem Netzwerk von Regionen, das Europa bereits in der Vergangenheit prägte, auch die Zukunft sein wird. „Irgendwann zwischen 2030 und 2050 werden wir ein Konstrukt einer Republik Europa haben. Die besteht dann nicht mehr aus Nationalstaaten, sondern aus einem Verbund von 30 bis 50 Regionen.“

Da kann Bećirović nur grinsen. Zwar erwartet auch der Jungpolitiker mehr europäisches Miteinander. Doch der Treiber sei nicht idealistische Überzeugung aller Beteiligten, sondern das nackte Überleben: „Der Druck wird so gross werden, dass die Menschen die Lösungen aus reiner Vernunft auf eine höhere Ebene schieben. Wir fallen zurück. Ende des 19. Jahrhunderts machte Europa ein Viertel der Weltbevölkerung aus, Ende des 21. Jahrhunderts werden es nur noch fünf Prozent sein. Zudem lag die Wertschöpfung Europas des weltweiten Bruttoinlandsprodukts vor 60 Jahren bei etwa 30 Prozent, Mitte des 21. Jahrhunderts werden es nur noch elf Prozent sein. Wir befinden uns in einem Überlebenskampf.“

Die von Logeswaran beschriebene Republik Europa sieht Bećirović „frühestens“ Ende dieses Jahrhunderts – wenn uns „der Laden nicht zuvor um die Ohren fliegt“. Denn eine Zusammenarbeit der 27 Mitgliedsstaaten mit ihren speziellen Kulturen birgt laut Bećirović das Potenzial, die „Europäische Union“ in sich zusammenfallen zu lassen. Beispiel gefällig? Migration. Hier ist der Trend laut Bećirović klar: Die Europäer wollen weniger Migration. Das zeigt sich selbst bei eigentlich EU-freundlichen Politikern wie Emmanuel Macron, der lediglich die Zuwanderung von Fachkräften nach Frankreich fördern will. Auch der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz agiert proeuropäisch, ist in der Migration aber äusserst restriktiv. Doch Logeswaran sieht das gar nicht als springenden Punkt: „Den Klimawandel will auch niemand haben, er passiert aber; genau wie Migration als jahrtausendealtes Phänomen der Menschheit passiert. Wir müssen dafür Lösungen finden. Und eine solche wurde für die Migration nicht gefunden, weil Staaten sich aus der Verantwortung gezogen haben.“

Neue Lösungen für das Einstimmigkeitsprinzip, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten etc. – das Gespräch streift noch viele Themen. Und die beiden könnten wohl noch deutlich länger diskutieren. Doch dann merkt Bećirović, dass eigentlich beide die gleiche Position vertreten: Ohne mehr Zusammenarbeit wird Europa auf internationaler Bühne nicht bestehen können. Und so schliesst er mit einem Satz, der vielleicht auch der Schlüssel zu einer erfolgreichen Zukunft Europas sein könnte: „Da sind wir uns einig.“

Dieser Artikel ist in unserer Juni-Ausgabe 2018 „30 Unter 30“ erschienen.

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