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Jean-Pascal Tricoire hat bei Schneider Electric bereits einige Kurswechsel hinter sich. Doch das nächste grosse Ziel des CEOs hat es in sich: sauberen und sicheren Strom für jeden Menschen auf der Welt bereitstellen.
Jean-Pascal Tricoire ist kein Mann, der lange zögert. Rückblick, Mai 2006: Der Franzose wurde soeben zum neuen CEO des Elektronikkonzerns Schneider Electric bestellt. Nur sechs Monate später brachte er die Übernahme der US-amerikanischen American Power Conversion unter Dach und Fach. Die Kosten für die Akquisition des Weltmarktführers für Secured Power Systems (sichere Stromversorgung) beliefen sich auf 6,1 Milliarden US-$ (der Nettowert des Unternehmens machte damals 4,3 Milliarden € aus). Damit setzte Tricoire erst einmal den Fokus auf US-amerikanische Technologie fort. Doch im letzten Jahrzehnt sollte er den französischen Traditionskonzern auf vollkommen neue Beine stellen. Und dieser wächst seit Jahren.
In mehr als 100 Ländern aktiv
Schneider Electric ist heute Marktführer bei Energiemanagement (Mittel- und Niederspannung sowie sichere Spannungsversorgung) und Steuerungs- und Automatisierungstechnik. 2018 stieg der Umsatz organisch um 6,6 % auf 25,7 Milliarden € (2007 betrug der Umsatz noch 17,3 Milliarden €). Die beiden grössten Märkte – die Region Asien-Pazifik und Nordamerika – machten mehr als die Hälfte des Gesamtumsatzes aus. Das bereinigte EBITDA betrug knapp 3,9 Milliarden €, das Nettoergebnis stieg um 8,6 % auf 2,3 Milliarden € – ein neuer Rekord für den Konzern. Insgesamt beschäftigt Schneider Electric weltweit 137.000 Mitarbeiter in mehr als 100 Ländern. Auf der „Forbes 2000“-Liste der grössten Unternehmen weltweit rangiert der Konzern auf Platz 256.
Kurz gesagt: Geht es irgendwo auf der Welt um intelligente Energieversorgung von Immobilien, Industrie, Infrastruktur oder Datencentern, steckt dahinter wahrscheinlich Schneider Electric. Laut Tricoire findet sich in 40 % der Gebäude weltweit Schneider-Technologie. Dennoch kennen nur wenige Konsumenten das 1836 gegründete Unternehmen. Schneider Electric ist dies durchaus bewusst. „Wir entwickeln nun mehr Produkte im Bereich Smart Home. Aber unser Geschäft findet zu 95 % im B2B-Bereich statt. Dennoch müssen wir besser kommunizieren, was wir tun“, gibt sich Tricoire gelassen. Das Geschäftsmodell basiert auf einem Partnersystem: Lösungen und Produkte werden den Kunden mithilfe von Partnern bereitgestellt.
Die Vision des Unternehmens
Tricoire ist hungrig, die Vision des Unternehmens umzusetzen: eine elektrische, digitale, umweltfreundliche und dezentrale Energieversorgung. Eingebettet in ein riesiges weltweites Ökosystem will das Unternehmen den (digitalen) Übergang von fossiler Energie zu digitaler Energieeffizienz sowie lokal produzierter erneuerbarer Energie mitgestalten. Dabei fokussiert sich Schneider Electric auf die Nachfrageseite. „Zu 90 % geht es bei der Debatte rund um die Energiewende darum, wie das Angebot generiert wird. Doch alle sind sich einig, dass die billigste, schnellste und umweltfreundlichste Lösung ist, Energie einzusparen“, sagt Tricoire, als wir ihn am Rande der Hannover Messe treffen. Im Endeffekt solle jeder Mensch jederzeit Zugang zu sauberem, sicherem und effizientem Strom haben.
Jean-Pascal Tricoire
... ist seit 1986 bei Schneider Electric tätig. Der gelernte Elektroingenieur wurde im Mai 2006 zum CEO und Chairman des Elektronikkonzerns ernannt. Tricoire fährt in seiner Freizeit gerne Kajak.
Potenzial digitaler Technologien
Um diese Wende hinzubekommen, setzt Tricoire auf das volle Potenzial digitaler Technologien. Dabei ist das Portfolio von Schneider Electric ein weit verzweigtes, das nur schwer zu überblicken ist. Schneider Electric stellt integrierte Lösungen und Produkte her, die Energie-, Automatisierungs- und Softwaretechnologie kombinieren. Den Kern bildet dabei „EcoStruxure“ – eine offene IoT-Architektur. EcoStruxure arbeitet auf drei Ebenen: Die erste Ebene bilden netzwerkfähige Komponenten wie beispielsweise Leistungsschalter oder Automatisierungsprodukte. Diese werden auf der zweiten Ebene durch Edge-Technologien (bezeichnet die Datenverarbeitung in der Nähe kritischer Prozesse, bedient also beispielsweise die Maschine mit niedriger Latenzzeit und maximaler Verfügbarkeit, Anm.) vernetzt und gesteuert. Die daraus resultierenden Daten werden auf der dritten Ebene in Echtzeit durch Softwareanalysen (Apps, Analytik und Services) überwacht und ausgewertet. EcoStruxure ermöglicht Anwendern dadurch, den Energieverbrauch nachhaltig zu reduzieren und die Einsparungen in Echtzeit zu erfassen. Anlagenbetreiber profitieren letztendlich von gesteigerter Produktionsgeschwindigkeit und höherer Verfügbarkeit der Maschinen.
Dass Tricoire die Transformation des eigenen Unternehmens und zudem des Energiemarktes so schnell wie möglich vorantreiben will, macht Sinn. Denn der weltweite Energiebedarf wächst laut der Internationalen Energieagentur (IEA) jährlich um 1 %, jener an elektrischer Energie sogar noch rascher. Gleichzeitig dürften der Erdölverbrauch und der CO2-Ausstoss in den kommenden Jahrzehnten weiter ansteigen. Um die Pariser Klimaziele bis 2050 zu erreichen (Reduktion des globalen Temperaturanstiegs gegenüber vorindustriellen Werten auf „deutlich unter zwei Grad Celsius“), braucht es also nicht nur eine verstärkte Nutzung erneuerbarer Energien, sondern auch eine Erneuerung der Strommärkte. Doch wie will Tricoire es schaffen, Menschen auf der ganzen Welt mit sauberem Strom zu versorgen?
Der Zugang zu Energie und digitalen Technologien ist ein grundlegendes Menschenrecht.
Dass Tricoire sein äusserst ambitioniertes Ziel erreicht, ist ihm durchaus zuzutrauen, denn der Franzose ist ein Manager, der auch vor schärferen Kurswechseln nicht zurückschreckt. Seit seiner Bestellung zum CEO 2006 fokussierte Tricoire das Portfolio von Schneider Electric auf Energiemanagement und Automatisierung. War das Unternehmen im 19. Jahrhundert in der Stahl- und Schwerindustrie tätig, kamen in weiterer Folge etwa auch das Bauwesen und die Elektrotechnik hinzu. Anfang der 80er-Jahre fokussierte man sich dann zunehmend auf den Bereich Elektrotechnik. „Ich führte mehrere Transformationen durch: Erstens die Konvergenz von digitalen Lösungen und der Stromversorgung; damit können wir mehr Energie- und Prozesseffizienz in unseren vier Märkten bereitstellen. Zweitens: Nicht nur in Produkten zu denken, sondern wirklich das gesamte Geschäft unserer Kunden zu verstehen – sei es im Gesundheitsbereich oder in Datencentern et cetera. Wir haben eine Community von 20.000 Systemintegratoren und Partnern aufgebaut (im Rahmen der Schneider-Electric-IoT-EcoStruxure-Architektur, Anm.), um unseren Kunden entsprechende Lösungen anbieten zu können und damit deren Business zu digitalisieren“, so Tricoire. Schneider Electric ist in den Sparten Immobilien (40 % des Umsatzes), Industrie (29 %), Infrastruktur (17 %) und IT (14 %) tätig. Diese machen Unternehmensangaben zufolge 60 % des weltweiten Energiekonsums aus.
Lebensmittelpunkt nach Asien verlegt
Tricoire gilt als geradlinig und agil. Auch während des Interviews ist der Franzose erpicht darauf, die Mission des Unternehmens klarzumachen. Dabei pendelt er zwischen erfahrenem Manager und leidenschaftlichem Elektroingenieur. Sein Vorgänger als CEO, Henri Lachmann, wurde Anfang 1999 in China auf ihn aufmerksam. Die erste Begegnung mit dem jungen Tricoire, der 1986 zum Unternehmen kam, beschrieb Lachmann im Handelsblatt so: „Mir gefielen sein direktes Wesen und seine Ungeduld im positiven Sinne des Wortes.“ Als wir Tricoire darauf ansprechen, lächelt der CEO: „Ich mag es, wenn jemand sagt, was er denkt, sowie in einem strukturierten Umfeld zu arbeiten.“ Er macht eine kurze Pause. „Und ja, ich bin ungeduldig. Wir wissen, was wir tun müssen – besser heute als morgen.“
Die Erfahrenheit als Manager hat Tricoire auch seinen weiten Reisen zu verdanken. Ab den 90er-Jahren war er für Schneider etwa in China, Südafrika und den USA tätig. Es waren Zeiten, die Tricoire prägten. „Die grosse Priorität lautet nicht, einfach mehr Energie, sondern Energie in einer digitalisierten Umgebung zu liefern. Der Zugang zu Energie und digitalen Technologien ist ein grundlegendes Menschenrecht“, sagt er. Dabei erkannte der Franzose bereits früh das Potenzial der Emerging Markets. Vor sieben Jahren zog der 56-Jährige mit seiner Frau und seinen zwei Kindern nach Hongkong – ein ungewöhnlicher Schritt, denn bis dahin war es alles andere als üblich, dass ein französischer CEO seinen Lebensmittelpunkt nach Asien verlegt. Tricoire begann, die Organisation des Konzerns umzubauen. So wurden Führungskräfte und Managementteams dezentral in Asien, den USA und in Europa installiert – denn die Entscheidungen werden längst nicht mehr (nur) in der Unternehmenszentrale Rueil-Malmaison in der Nähe von Paris getroffen. „Wir haben das ziemlich radikal durchgezogen, denn man muss ins kalte Wasser springen“, so Tricoire.
Schneider Electric in Zahlen (Quelle: Schneider Electric)
Hinter dieser Dezentralisierung der Organisation steht eine weitere Überlegung: Schneider Electric ist zwar ein global tätiges Unternehmen, begreift sich aber als „multilokal“. Denn anstatt eines „One size fits all“-Ansatzes kann das Unternehmen besser auf Kundenbedürfnisse reagieren, wenn in lokalen Märkten entwickelt und produziert wird. Ein Beispiel: Die Steuerungssysteme für das Energiemanagement von Gebäuden sind überall auf der Welt dieselben, bei der Installation bestehen jedoch regionale Unterschiede. „Das ist einer der Gründe, warum wir erfolgreich sind: Wir respektieren lokale Gegebenheiten und versuchen, lokaler tätig zu sein als unsere Mitbewerber“, so Tricoire. Laut ihm werden 70 % aller Schneider-Leistungen von lokalen Partnern (beispielsweise Elektroinstallateuren und Grosshändlern) zur Verfügung gestellt. Der schon früh gesetzte Fokus auf Asien zahlt sich heute voll aus: Im asiatisch-pazifischen Raum generiert Schneider Electric heute sechsmal so viel Umsatz wie noch vor 15 Jahren.
Konkurrenz positioniert sich neu
Doch auch die Mitbewerber schlafen nicht. Akteure im Mittel- und Niederspannungsbereich sowie der industriellen Automation positionieren sich neu. So will Siemens im Rahmen der Unternehmensstrategie „Vision 2020+“ den einzelnen Geschäftsbereichen deutlich mehr unternehmerische Freiheit geben. Der Schweizer Automatisierungskonzern ABB verkaufte kürzlich seine Stromnetzsparte Power Grids an den japanischen Mischkonzern Hitachi. In der Energieverteilung war ABB auf den Hochspannungsbereich fokussiert, der aber kaum Berührungspunkte mit der Industrieautomation aufweist. Schneider Electric hat hier den Vorteil, dass sich das Unternehmen auf Anwendungen im Bereich der Mittel- und Niederspannung in Verbindung mit Automatisierung und Software spezialisiert hat, die beide auch für die Industrieproduktion relevant sind. Wie Siemens will auch ABB seinen vier verbleibenden Geschäftsbereichen mehr Eigenständigkeit einräumen und digitale Technologien forcieren. Das passiert unter neuer Führung, denn Ulrich Spiesshofer trat kürzlich als ABB-CEO zurück.
Schneider Electric muss vor allem seinen digitalen Fussabdruck weiterhin verstärken, um der Konkurrenz einen Schritt voraus zu sein. Denn da es nahezu keine Lösung mehr gibt, in der Informationstechnologie keine Rolle mehr spielt, gewinnt der IT-Bereich für Schneider zunehmend an Bedeutung. Dafür griff man zuletzt wieder kräftig in die Tasche: Für 1,5 Milliarden € übernahm das Unternehmen Anfang 2018 60 % der Anteile des britischen Industriesoftwareanbieters Aveva. Durch eine strategische Zusammenarbeit mit dem deutschen Softwareanbieter Planon wurde das Softwareangebot erst kürzlich im Immobilien- und Facility-Management aufpoliert. Gleichzeitig wächst das Geschäft im Bereich IT: Die Ausstattung von Datencentern macht heute rund 14 % des Umsatzes von Schneider Electric aus – Tendenz steigend.
„Noch mehr Digitalisierung, noch mehr vertikale Lösungen, noch mehr Expansion in die Wachstumsmärkte und weiterer Ausbau der Partnerschaften“ – so beschreibt Tricoire die Strategie für Schneider Electric für die kommenden Jahre prägnant. Angesichts des Tempos, das der Manager vorgibt, gilt es wohl, dies so rasch wie möglich umzusetzen. Doch genau dieser Charakterzug Tricoires könnte es sein, der den Elektronikkonzern zu neuem Erfolg führt.
Der Artikel ist in unserer Mai-Ausgabe 2019 „Europa“ erschienen.