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Lieferando, Delivery Hero, Uber Eats und Co machen seit Jahren nicht nur durch rasante Wachstums- und Expansionsraten, sondern auch durch schlechte Arbeitsbedingungen und Milliardenverluste auf sich aufmerksam – und das trotz Pandemie, die ihnen eigentlich in die Tasche gespielt hat. Wer dominiert die Food-Delivery-Branche und wer kann langfristig von ihr profitieren? Eine Bestandsanalyse.
Es ist einer der letzten schönen Spätsommertage in Wien. Zwischen den weissgrauen Altbauten der Innenstadt sticht immer wieder ein heller Farbfleck ins Auge, einmal grün, einmal orange, einmal pink: Im Minutentakt zischen Essenslieferanten auf ihren Fahrrädern vorbei. Es ist Montagnachmittag – von „Primetime“ kann zu diesem Zeitpunkt nicht die Rede sein. Wer nicht aktiv darauf achtet, dem fällt das enge Intervall, in dem die Kuriere sich durch die Gassen schlängeln, wahrscheinlich nicht weiter auf, denn die neonfarben gekleideten Werbeflächen auf zwei Rädern sind mit unserem Stadtbild schon lange verschmolzen. Wann und wie ist der Lieferservice aber ein selbstverständlicher Teil unseres Lebens in der Stadt geworden?
Im Jahr 1999 stösst der 21-jährige Holländer Jitse Groen auf eine Marktlücke. Nachdem der Wirtschaftsinformatikstudent für eine Familienfeier Essen mitnehmen will, aber kein Restaurant mit Lieferservice findet, gründet er die Plattform Takeaway. Auf dieser vernetzt er Kunden mit Restaurants, die Lieferservice anbieten. Aller Anfang ist mühsam – Groen muss persönlich Hunderte Restaurants abklappern, um sie gegen eine Provision für seine Plattform zu gewinnen. Er setzt sich durch: 2008 expandiert er nach Deutschland, heute gehört dem Niederländer einer der grössten Lieferdienste der westlichen Welt. Groen verfügt laut Forbes US über ein Nettovermögen von 1,4 Mrd. US-$.
Etwa zur selben Zeit beginnt die Geschichte eines Lieferservice auf der anderen Seite des Atlantiks. 1999 gründet der US-Amerikaner Jason Finger mit Seamless Web ein ähnliches System, um Essen bei Restaurants zu bestellen. Es dauert nicht lange, bis Konkurrenz aus dem Boden schiesst: Grubhub, Doordash, Postmates und Co betreten Mitte der 2000er den US-Markt. Bis 2018 lag das von Mike Evans und Matt Maloney gegründete Grubhub klar an der Spitze, 2019 wurde das Unternehmen erstmals von Konkurrent Doordash überholt. Wie auch am europäischen Markt ist die Marktführerschaft in der Branche heiss umkämpft, denn man munkelt, dass nur der Marktführer am Ende profitabel aussteigen kann. Im Mai 2022 hält Doordash laut dem US-Wirtschaftsmedium Bloomberg ganze 59 % des Marktes, Uber Eats nimmt 24 % ein und Grubhub belegt mit 14 % den dritten Platz. Anders als in Europa sind die beiden Unternehmen an der Spitze dabei nicht nur gross, sondern (zumindest vor Bereinigung) auch profitabel: Uber Eats machte im zweiten Quartal 2022 einen Gewinn von 99 Mio. US-$, Doordash 103 Mio. US-$ (bereinigtes Ebitda). Das US-Medium Quartz macht das Modell des Duopols mitverantwortlich für den Erfolg, der sich in der Branche bisher als schwierig gestaltet hat.
Zurück nach Europa, wo der Markt ebenso seit Beginn stark umworben ist: 2021 betrug das Volumen des europäischen Online-Food-Delivery-Markts laut dem Marktforschungsinstitut Marketandresearch 36 Mrd. US-$, bis 2027 soll sich das Volumen fast verdoppeln. Delivery Hero, Just Eat, Takeaway und Deliveroo sind die grossen Namen, die man auf dieser Seite des Ozeans kennt. Lange haben sie gekämpft, doch nach einer milliardenschweren Fusion des britischen Just Eat und Jitse Groens Takeaway, ihrem Zukauf des US-Giganten Grubhub sowie der Übernahme des gesamten Deutschland-Geschäfts von Delivery Hero ist Justeat Takeaway heute der grösste Food-Delivery-Anbieter der westlichen Welt. 2021 machte der grösste Spieler auf dem Feld trotzdem einen Verlust von 1,044 Mrd. € (operativer Verlust 350 Mio. €) und stieg damit siebenmal schlechter als im Vorjahr aus. Ein Merkmal der Branche?
Eva Stüber ist Mitglied der Geschäftsleitung des Instituts für Handelsforschung Köln. Sie sieht in den Zahlen nicht zwingend schlechte Unternehmensführung: „Die ersten sieben bis zehn Jahre Verlust hinzunehmen ist prinzipiell bei neuen Geschäftsmodellen nicht überraschend. Ohne schnelles Wachstum und hohe Investitionen funktioniert diese Art von Modell nicht, denn es lebt von schneller Bekanntheit. Zalando, das heute als Vorreiter im Markt gilt, hat acht Jahre gebraucht, um profitabel zu sein, bei Amazon gilt das Gleiche. Trotzdem kann man sich natürlich auch übernehmen“, so Stüber.
Nicht nur im Heimatmarkt Niederlande, sondern auch in Deutschland hat sich Groens Takeaway als klarer Marktführer etabliert – der Weg dorthin gleicht einem Krimi. 2008 expandierte der Holländer unter dem Namen Lieferservice.de nach Deutschland. Zu dem Zeitpunkt war Pizza.de Marktführer. Zur gleichen Zeit entstand auch das Start-up Lieferando. Um mehr Kapital zu erhalten, pitchten die Gründer von Lieferando, Jörg Gerbig, Kai Hansen und Christoph Gerber, vor dem Inkubator Team Europe ihre Idee – diesem gefiel das Konzept gut, aber anstatt zu investieren, startete der Inkubator mit Lieferheld.de seinen eigenen Anbieter. Diese vier Unternehmen konkurrierten von nun an am deutschen Markt – und das nicht immer fair: Restaurantadressen wurden von Websites geklaut, Anzeigen wegen vermeintlicher Hackerangriffe sorgten für Schlagzeilen.
2011 fusionierte Lieferheld.de mit Niklas Östbergs skandinavischem Anbieter Pizza.nu – es entstand Delivery Hero. Um den Marktführer Pizza.de zu überholen, wollte Delivery Hero sich mit Lieferando zusammenschliessen und ging in die Verhandlungen. Kurz vor dem Notartermin entschied sich Lieferando aber für Takeaway, mit dem parallel verhandelt wurde, schreibt die Wirtschaftszeitung Capital. Delivery Hero gab nicht auf, kaufte unter anderem Pizza.de, Foodora und Foodpanda und stellte sich so nicht nur an die Spitze des Marktes, sondern war 2015 mit einer Bewertung von 2,3 Mrd. € nach Spotify kurzzeitig auch das zweitwertvollste privat finanzierte Unternehmen Europas. Weltweite Expansionen sollten folgen.
Lieferando fokussiert sich währenddessen auf Deutschland. Nach weiteren Übernahmen und einem Börsengang beschliesst Delivery Hero 2018, das für das Unternehmen nicht mehr rentable deutsche Pflaster zu verlassen, und verkauft sein Deutschland-Geschäft für 930 Mio. € an Takeaway, sprich Lieferando. Auch die Briten von Deliveroo ziehen sich nach einem wenig erfolgreichen Ausflug nach Deutschland zurück auf den Heimatmarkt. Der „letzte Mann am Platz“ ist orange: Trotz immer wieder aufkommender Neuzugänge dominiert Lieferando seit 2018 den deutschen Markt: In einer 2021 durchgeführten Statista-Studie gaben 79 % der Deutschen an, Lieferando in den vergangenen zwölf Monaten genutzt zu haben. Danach folgt die Pizza-Lieferkette Domino’s mit 23 %. Das Erfolgsrezept, wenn man es trotz Milliardenverlusten des Mutterkonzerns so nennen möchte: Man hatte einfach den längeren Atem; zumindest laut Eva Stüber. Vorbei ist der Kampf um den deutschen Markt für sie allerdings noch nicht: „Letztendlich wird sich durchsetzen, wer am kundenzentriertesten ist und die meisten Mehrwerte liefert. Sicher sollte sich heutzutage keiner fühlen“, so Stüber.
Doch nicht nur durch spannende Konkurrenzkämpfe und Milliardendeals macht das Food-Delivery-Business seit Jahren Schlagzeilen. Restaurants klagen über hohe Kommissionen (13 % zahlt man bei Lieferando, um Teil der Plattform zu sein, 30 %, wenn man ihre Fahrradkuriere in Anspruch nimmt), Fahrradkuriere über schlechte Arbeitsbedingungen. Für den geringen Lohn sind die Lieferanten nicht nur jedem Wetter, sondern auch dem fordernden Strassenverkehr und konstantem Stress ausgesetzt. Was als „flexible Arbeitszeiten“ beworben wird, bedeutet beschränkte Möglichkeiten auf ein Vollzeitarbeitsausmass. Zusätzlich stellen die meisten Anbieter ihre Kuriere nicht an, somit fallen auch bezahlter Krankenstand und Urlaub weg.
Doch nicht jeder Anbieter ist gleich, weiss auch der ehemalige Lieferando-Mitarbeiter Peter (Name geändert, Anm.). Der Student arbeitete neben seinem Studium sowohl bei Mjam als auch bei Lieferando, die sich in Österreich den Markt aufteilen, und weiss, wie hart der Job sein kann. „Ich habe nur zehn Stunden pro Woche gearbeitet, das ist okay. Aber wenn du Vollzeit arbeitest, kann es dir eigentlich gesundheitlich nicht gut gehen, vor allem im Winter“, so der ehemalige Mitarbeiter. Während die „Rider“, wie die Fahrradboten genannt werden, bei der Delivery-Hero-Tochter Mjam zu 90 % freie Dienstnehmer sind, werden die Kuriere bei Lieferando seit 2016 angestellt. Bei Mjam wird ausserdem pro Bestellung bezahlt (vier € pro Auftrag, mindestens zwei Aufträge die Stunde), beim orangen Konkurrenten gibt es einen Basislohn von elf € pro Stunde. Durch ein Bonussystem und Trinkgeld soll aber ein Stundenlohn von bis zu 18,50 € möglich sein, so Lieferando. Gewerkschaften halten das für unrealistisch. Forderungen nach besseren Bedingungen seien aber nicht so einfach durchzusetzen gewesen, so Peter: „Bei Mjam war es wirklich schwer, sich zusammenzuschliessen, weil jeder so isoliert arbeitet und man einander meistens gar nicht kennt“, sagt der Student. Mittlerweile gibt es in Österreich einen Betriebsrat, und die Gewerkschaft Vida konnte 2019 einen Kollektivvertrag für Essenszusteller durchsetzen. Lieferando stellte seine Fahrer in Österreich daraufhin alle regulär an und stellte ihnen durchwegs E-Bikes zur Verfügung. Diese seien ein absoluter „Gamechanger“ für die Fahrer, so der Ex-Mitarbeiter.
Die neuen Bedingungen wirken: Beim internationalen Forschungsprojekt Fairwork 2022 zu Arbeitsbedingungen der Internetplattform-Unternehmen Mjam, Uber, Bolt, Lieferando, Alfies und Extrasauber in Österreich schnitt Lieferando mit Abstand am besten ab. Trotzdem steht auch die Takeaway-Tochter immer wieder in der Kritik: So klagte das Unternehmen beispielsweise 2019 gegen die Gründung eines Betriebsrates in Wien, in Frankfurt beschwerten sich Betriebsräte über mangelhafte Sicherheitsprüfungen der Fahrräder sowie unkooperatives Verhalten bei unangekündigten Arbeitskontrollen. Ein grosser Schritt in Richtung bessere Bedingungen waren allerdings die unbefristeten Verträge, die das Unternehmen seit Sommer 2021 auch in Deutschland anbietet. Lieferando weist ausserdem darauf hin, dass ohnehin nur 10 % der Bestellungen von den Kurieren in Orange geliefert werden, die restlichen übernehmen die Restaurants selbst.
Nicht nur neue Arbeitnehmermodelle, auch ganz neue Geschäftsströme werden durch die Delivery-Branche eröffnet. Quick-Lebensmittellieferdienste wie Flink oder Gorillas, personalisierte Lebensmittellieferanten wie Hellofresh oder Essensautomaten sind neue Konzepte des Markts, mit denen auch die grossen Player Lieferando und Mjam bereits experimentieren. „In den nächsten Jahren wird es weiterhin viel Umbruch geben, bis die Kundenbedürfnisse adressierbar und die infrastrukturtechnischen Möglichkeiten sichtbar sind, die es braucht, um profitabel zu sein“, so Eva Stüber, die die gesamte Branche vor allem seit der Pandemie im Umbruch sieht.
Dass uns die Lieferdienste trotz der Verlustgeschäfte der letzten Jahre nicht mehr verlassen werden, da ist Stüber sicher. Ob es einen Platzhirsch wie Lieferando oder ein Duopol wie in den USA braucht, um langfristig rentabel werden zu können, wird sich zeigen. Ein klarer Marktführer könnte vorteilhaft sein, da dieser hohe Marketing- und Expansionskosten einsparen und sich auf bessere Arbeitsbedingungen fokussieren könnte, wie es auch Lieferando verspricht. Auch die EU will nun mit neuen Richtlinien die Scheinselbstständigkeit von Uber-Fahrern und Radkurieren beenden. Für Restaurants schafft eine Marktführerschaft hingegen eine gewisse Abhängigkeit. Noch ist das Schlachtfeld nicht verlassen – Uber Eats ist seit über einem Jahr am deutschen Markt vertreten und auch der finnische Lieferdienst Wolt will Deutschland nicht so schnell aufgeben. An Versprechen bezüglich besserer Zeiten mangelt es nicht – Jörg Gerbig von Lieferando plant, nächstes Jahr wieder Profit machen zu können, Uber Eats will „aufgrund hoher Nachfrage“ auf 70 Städte allein in Deutschland aufstocken, so der Europa-Manager des Unternehmens gegenüber Bloomberg. Wie viel auf diese Prognosen zu geben ist, lässt sich heute schwer sagen. Gehört hat man sie in der Food-Delivery-Branche auf jeden Fall bereits mehrmals.
Text: Sophie Ströbitzer
Recherche: Erik Fleischmann, Sophie Ströbitzer
Fotos: Jasmin Schuller, Unsplash