Teure Integrität

Ursprünglich verkaufte Brian Acton WhatsApp um 19,3 Mrd. US-$ an Facebook – nun sollte sein Idealismus aber über Mark Zuckerbergs Finanzkraft siegen. Warum Acton auf 850 Mio. US-$ verzichtete.

WhatsApp-Mitgründer Brian Acton, 46, sitzt im Café des Four Seasons Hotels in Palo Alto, Kalifornien. Das Einzige, was darauf hinweisen könnte, dass dieser Mann 3,6 Milliarden US-$ schwer ist, sind die 20 US-$ Trinkgeld, die er für einen Kaffee liegen lässt. Kräftig gebaut, mit einer Baseballmütze am Kopf und einem WhatsApp-T-Shirt am Leib, scheint er fest entschlossen, ­bodenständig zu bleiben, und macht alle seine Besorgungen selbst – auch seinen ­Minivan hat er am Morgen zum Service gebracht. Ein SMS von seinem Honda-Händler blinkt am Display auf: „Zahlung eingegangen.“ Er zeigt die Nachricht kurz her. „Genau so wollte ich, dass die Menschen WhatsApp nutzen“, sagt der Mitgründer des mit 1,5 Milliarden Nutzern weltweit grössten Messaging-Dienstes, der seine werbefreien verschlüsselten Nachrichten als Hauptfeature hat. „Informativ und praktisch“, so Acton wehmütig.

Vor mehr als vier Jahren verkauften Acton und sein Mitgründer Jan Koum WhatsApp mit damals noch geringen Umsätzen um 19,3 Milliarden US-$ an Facebook (der letztendliche Preis betrug dann jedoch 22 Milliarden US-$, da ein Teil des Kaufpreises mit Facebook-Aktien beglichen wurde und diese bis zur Finalisierung des Deals an Aktienwert gewonnen hatten, Anm.). Es war ein Geschäft, das als eine der bemerkenswertesten Übernahmen des noch jungen Jahrhunderts bezeichnet werden sollte. Doch vor einem Jahr verliess Acton Facebook, um sich dem Non-Profit-Sektor zu widmen. Im März, als die ersten Details des Cambridge-Analytica-­Skandals an die Oberfläche kamen, setzte ­Acton einen Tweet ab, der rasch viral ging und seine ehemaligen Mitarbeiter – die ihn zuvor zum Milliardär gemacht hatten – extrem schockierte: „It is time. #deletefacebook.“ Es sollte Actons bislang letzter Tweet bleiben.

Heute spricht er erstmals in der Öffentlichkeit über den Druck, den Mark Zuckerberg und Sheryl Sandberg ausübten, um WhatsApp zu ­monetarisieren – was bedeutete, Werbung zuzulassen und die Verschlüsselung zwischen Nutzern und Unternehmen „aufzuweichen“. Eine für ­Acton unhaltbare Situation, wegen der er schliesslich ein Jahr, bevor er die letzte Tranche seiner Facebook-Aktien übertragen bekommen sollte – ein Teil des Kaufpreises wurde in dieser ­Weise zugesichert –, das Unternehmen verliess. Es war vielleicht die teuerste moralische Entscheidung der Wirtschaftsgeschichte, denn sie kostete ihn nicht weniger als 850 Millionen US-$.

Acton geniesst das Rampenlicht trotz dieser aufsehenerregenden Geschichte auch heute nicht. Gleichzeitig betont er, dass Facebook nicht der „Bad Guy“ sei – „sie sind einfach sehr gute Geschäftsleute“, sagt er.

Ausser dem Transfer von Milliarden US-Dollar, sagt Acton, habe er nie eine Verbindung zu Mark Zuckerberg gehabt. „Ich kann euch gar nicht viel über diesen Typen erzählen“, sagt er. Acton ­wusste also nicht, was er von Zuckerberg zu erwarten hatte, als dieser ihn letzten September in sein Büro holte – etwa zu der Zeit, als Acton Facebook verkündete, dass er das Unternehmen verlassen werde. Acton und Koum hatten eine Klausel in ihren Verträgen, die vorsah, dass sie ihre Aktien (verteilt über vier Jahre) übertragen bekommen würden, wenn Facebook ohne ihre Erlaubnis „­Initiativen zur Monetarisierung implementiert“.

Acton schien es damals leichtzufallen, sich auf diese Klausel zu berufen. Die Facebook-Whats­App-Paarung war von Anfang an ein Problemfall. Facebook verfügt über eines der weltweit grössten Werbenetzwerke; Koum und Acton hassten Werbung. Facebooks grösster Nutzen für Werber ist, dass das Unternehmen viel über ­seine User weiss; die WhatsApp-Gründer waren Privat­sphäre-Freaks, die ihr globales Wachstum auf ihre ausgeklügelte Verschlüsselungstechnologie zurückführten. Diese Dissonanz frustrierte Zuckerberg. Facebook, sagt Acton, verfolgte daraufhin zwei Wege, um an WhatsApp Geld zu verdienen. Erstens: Bei der Präsentation neuer Funktionen wurde auf WhatsApp Werbung gezeigt, was Acton als Vertrauensbruch gegenüber seinen Usern empfand. Denn sein Motto bei WhatsApp lautete stets „No ads, no games, no gimmicks“ – also das genaue Gegenteil zur neuen Muttergesellschaft, die 98 Prozent ihrer Einkünfte aus Werbung erwirtschaftet. Ein anderes Motto war „Take the time to get it right“, ein Kontrast zu Facebooks „Move fast and break things“. Facebook wollte Unternehmen Tools zum Chatten mit WhatsApp-Usern verkaufen. Und wenn diese einmal an Bord waren, sollten ihnen auch Analytic-Tools feilgeboten werden. Die Herausforderung war, die End-to-End-Verschlüsselung ausser Kraft zu setzen. Zwar habe Facebook nicht geplant, diese komplett abzustellen, so Acton, doch es bot Analysen von WhatsApp-Nutzern in ihrem verschlüsselten Umfeld an.

Facebooks Pläne bleiben jedenfalls unklar. Zum Schutz der Verschlüsselung schlug Acton die Möglichkeit der Monetarisierung vor, in der für eine bestimmte Anzahl an Nachrichten von Hochfrequenznutzern auf ein entsprechendes Konto eingezahlt wird. „Ein System, das du einmal entwickelst und das in jedem Land funktioniert“, erklärt er. „Dazu brauchst du keine hochintelligente Sales-Force. Das ist ein ziemlich einfaches Geschäft.“

Actons Pläne wurden aber von Sandberg abgeschmettert. „Das ist nicht skalierbar“, war ihr Kommentar. „Da wurde ich das erste Mal laut“, erinnert sich Acton, der Gier im Spiel sah. „Ich habe es schon gesagt – das sind sehr gute Geschäftsleute. Sie repräsentieren aber Geschäftspraktiken, Prinzipien und ethische Haltungen, mit denen ich nicht einverstanden bin.“ Acton, der dachte, die gesamte Verkaufssumme bei seinem frühzeitigen Weggang mitnehmen zu können, stellte also klar, dass die Meinungsverschiedenheit – Facebook ­wollte Werbung, während er mit ­Hochfrequenznutzern Geld verdienen wollte – darauf hinauslaufe, dass er seine gesamten Aktienanteile bekommen könnte. Facebooks Rechtsanwälte stimmten dem nicht zu. „Am Ende des Tages habe ich mich verkauft. Das weiss ich“, so Acton heute.

Brian Acton
wurde 1972 geboren und studierte an der Stanford University Informatik. Nach Abstechern zu Apple Inc und Adobe Systems dockte er bei Yahoo an, wo er auch Jan Koum kennenlernte. 2009 gründete Koum WhatsApp, Acton stieg später dort ein. 2014 wurde WhatsApp um 19,3 Milliarden US-$ an Facebook verkauft.

Acton schloss in Stanford das Studium der Computerwissenschaften mit ­einem Bachelor ab. 1996 ging er zu Yahoo und freundete sich mit Koum, einem ukrainischen Immigranten, an. „Wir waren beide nerdige Typen“, erinnert er sich. „Wir gingen Ski fahren, spielten Ultimate Frisbee und Fussball.“ Acton verliess Yahoo 2007 und unternahm eine Reise, bevor er sich ironischerweise bei Facebook, bewerben wollte. Weil das nicht klappte, ­dockte er bei Koums Start-up WhatsApp an und überzeugte eine Handvoll früherer Yahoo-Kollegen, in die Firma zu investieren. So erarbeitete er sich den Status eines Mitgründers. Acton und Koum führten ihr Unternehmen genau so, wie sie es für richtig hielten: auf Cash-Basis und mit einer grossen Aufmerksamkeit für die Integrität ihrer In­frastruktur. Mark Zuckerberg kam im April 2012 zunächst auf Koum zu, lud ihn zum Lunch ein. „Wir wollten damals aber ­unser Unternehmen nicht verkaufen, hatten keinen Exit geplant.“

Es waren letztlich zwei Dinge, die Zuckerberg zur bekannten Megaofferte trieben. Zum ­einen wurden die WhatsApp-Gründer zu Google zu Gesprächen eingeladen – er wollte sie nicht an einen Konkurrenten verlieren. Zum anderen gab es ein Dokument mit einer Analyse zum Wert von WhatsApp, das sowohl dem Verhandlungsteam bei Google als auch bei Facebook zugespielt worden war. Der grösste Internetdeal des Jahrzehnts ging also in aller Eile am ­Valentinstagswochenende über die Bühne. Es war wenig Zeit, Details zu verhandeln – etwa die Klausel der Monetari­sierung. Acton erinnert sich, dass ­Zuckerberg sehr unter­stützend war, wenn es um die End-to-­End-Verschlüsselung ging. Und: „Er kam mit einer grossen Summe Geld und ­machte uns ein Angebot, das wir nicht ablehnen ­konnten“, so Acton. Der Facebook-Gründer versprach Koum einen Sitz im Board und sagte beiden zu, dass sie die kommenden fünf Jahre „keinen Druck“ bei der Monetarisierung bekommen würden.

Es stellte sich heraus, dass das Geldverdienen Facebook letztlich doch nicht schnell genug ging. Zudem musste die Übernahme von den europäischen Wettbewerbsbehörden genehmigt werden. Facebook bereitete Acton auf Gespräche mit der Europäischen Wettbewerbskommission vor. „Ich wurde gecoacht, zu erklären, dass es wirklich schwierig sein würde, die beiden Systeme entweder übereinanderzulegen oder gar ineinanderfliessen zu lassen“, so Acton. Erst später erfuhr er, dass es sehr wohl „Pläne gegeben hat, die Daten zu integrieren“ – etwa in Form von Telefonnummern-Matching von Facebook- mit Whats­App-Accounts.

Innerhalb von 18 Monaten wurden für WhatsApp neue Geschäftsbedingungen eingeführt, die Acton wie einen Lügner dastehen liessen. Die Facebook- und WhatsApp-Accounts der Nutzer zu verbinden war ein entscheidender ­erster Schritt, WhatsApp zu monetarisieren. Die WhatsApp-Gründer wiederum versuchten, die Anpassung zu verhindern, und verbrachten Stunden damit, eine Kompromisslösung zu erarbeiten. Letztlich wurde dies durch den Abschnitt „Messaging von Unternehmen“ gestoppt, als ein Anwalt Acton und Koum ­nahelegte, die Erlaubnis für „Produktmarketing“ in die Geschäftsbedingungen einzubringen. Sie hatten den Kampf gegen die Einführung von Werbung gegen Facebook verloren. Die WhatsApp-Gründer ­taten nun alles, um die Monetarisierungspläne zu verzögern. Drei Jahre waren seit dem Deal vergangen und Zuckerberg wurde immer ungeduldiger. Intern wurde bei Facebook ein Fünf-Jahres-Monetarisierungsziel von zehn Milliarden US-$ festgelegt – Zahlen, die Acton zu hoch vorkamen und zudem von Werbung abhängig waren.

Vor mehr als zehn Jahren hatte Acton bei Yahoo seine Managementposition ­aufgegeben, weil er wegen der dortigen Webbanner so frustriert war. Die Aussicht auf Einnahmen zulasten einer ­guten Product Experience hinterliess bei ihm einen schlechten Nachgeschmack. Nun wiederholte sich die Geschichte. „Das war es, was ich an Facebook – und auch an Yahoo – so gehasst habe“, sagt er. Anders ausgedrückt: Es war Zeit, zu gehen. Koum aber blieb. Er wollte die Zeit bis zur vollständigen Übertragung seiner Facebook-­Aktien abwarten – ging aber kaum mehr ins Büro. Koum verliess das Unternehmen im April dieses Jahres, einen Monat nach Actons #deletefacebook-Tweet.

Acton ging es nicht um den Verlust von 850 Millionen US-$. Seit seinem Weggang trieb er eine Messaging-App namens Signal voran, die von dem Sicherheitsforscher Moxie Marlinspike mit der Mission, das Wohl der Nutzer vor die Gewinne zu stellen, betrieben worden war. Dazu investierte Acton 50 Millionen US-$ und gründete eine Stiftung. Heute arbeitet er mit den gleichen Leuten, die damals sein Open-Source-Verschlüsselungsprotokoll geschrieben hatten, um 1,5 Milliarden Whats­App-Nutzer zu schützen. Im Grunde erschafft er WhatsApp in seiner Ursprungsform wieder: kostenlose Nachrichten und Telefon­anrufe mit End-to-End-Verschlüsselung und ohne Platz für Werbung.

­Neben der Investition in Signal widmete er eine Milliarde US-$ aus dem Verkauf an Facebook philanthropischen Zwecken – etwa für Gesundheitsvorsorge in armen Gegenden der USA oder für Projekte für frühkindliche Entwicklung. Er selbst habe entschieden, seine Kinder ganz normal aufwachsen zu lassen und sie in öffentliche Schulen zu schicken – so wie er selbst eben auch nur einen Honda fahre und in einem (relativ betrachtet) bescheidenen Haus lebe. Er erzählt, dass sein Haus nur eine Meile von Zuckerbergs Hochsicherheitsanwesen entfernt sei. Extremer Reichtum, so sagt er, „scheint nicht so befreiend zu sein, wie manche hoffen“.

Text: Parmy Olson / Forbes US

Dieser Artikel ist in unserer November-Ausgabe 2018 „Europa“ erschienen.

 

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