„Richten uns nach dem Markt“

Michael Schiebe, Chef der Mercedes-Tuningtochter AMG, muss einen Spagat wagen: die Fans des Verbrennermotors weiterhin zuverlässig begeistern und gleichzeitig die elektrische Zukunft vorbereiten. Gelingt ihm das?

An einem heiteren Julitag sitzt Michael Schiebe, 41, in einem Besprechungsraum in der Mercedes-­Benz World westlich von London und macht ein Eingeständnis. In wenigen Stunden wird der ­Geschäftsführer der Performance-Marke AMG das neueste Modell vorstellen: den GT 63 Pro. Die Daten des Sportwagens sind beeindruckend: V8-Biturbomotor, 612 PS; von null auf hundert Stundenkilometer in 3,2 Sekunden. Der Verbrauch: rund 14 Liter auf 100 Kilometer. Doch wie passen derart luxuriös-verschwenderische Karossen wie der GT 63 in eine Zeit, in der Autobauer öko­logischer als die Konkurrenz sein wollen – und müssen?

„Es ist ein Auto für V8-Liebhaber“, so ­Schiebes Eingeständnis, also ein Auto für Fans röhrender Verbrennermotoren. Doch Schiebe weist umgehend darauf hin, dass Sustainabili­ty eine „ganz grosse Rolle“ spiele – auch AMG werde irgendwann ein voll elektrisches Unternehmen sein. Aber, so sagt er: „Wir richten uns dabei nach dem Markt und nach den Kunden.“ Und die Akzeptanz für E-Autos sei von Markt zu Markt verschieden. „Unsere Aufgabe ist es, dem Kunden die komplette Bandbreite anzubieten. Das tun wir“, sagt Schiebe – und verweist auf den GT 63 S E Performance, angetrieben von einem mächtigen V8-Plug-in-Hybrid-Motor. Schiebe weiss: Auch dieses Auto macht dank seiner ra­santen Beschleunigung ­„unheimlich viel Spass“, auf der Rennstrecke und im Alltag.

Schiebe ist am Vortag nach London gereist, um der Welt einen Tag vor dem berühmten „Festival of Speed“ in Goodwood das neue AMG-­Modell zu präsentieren. Die Kulisse ist der Brooklands Drive in der Grafschaft Surrey – die älteste Rennstrecke der Welt, erbaut 1907. Damals wurden auf der Strecke die ersten Rennen vor Tausenden Zuschauern veranstaltet. Mit dem Verbrennungsmotor nahm damals auch die mobile Zukunft rasant Fahrt auf. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden die Rennen ein­gestellt, das Herz des britischen Motorsports ­ver­lagerte sich in der Folge nach Silverstone.

Heute, weit mehr als 100 Jahre später, wirkt jene Technologie, die damals für Fortschritt stand, eher ausgebrannt. Ihr Ende scheint besiegelt. Oder gilt auch hier: Totgesagte leben länger?

Nach 2035 dürfen in der EU nur noch Pkw neu zugelassen werden, die nicht mit Diesel oder Benzin fahren. So hat es das Europäische Parla­ment vor zwei Jahren beschlossen. Eine Ausnahme gilt für klimaneutrale und synthetisch hergestellte Kraftstoffe, sogenannte E-Fuels. Darauf hatte auch die Bundesregierung des Autolands Deutschland gedrängt. Im Herbst soll nun entschieden werden, wie die Regelungen für neuartigen und angeblich umweltfreundlicheren Treibstoff genau aussehen.

Schon jetzt heisst es in Brüssel, dass ein radikales „Verbrennerverbot“ vom Tisch sei. Statt­dessen betont man eine „Technologie-Offenheit und Wahlmöglichkeiten für Verbraucher“, die weiterhin sichergestellt sein sollen. Das sind gute Nachrichten für die deutschen Autobauer.

Für alle bis ins Jahr 2034 in der EU zu­gelassenen Autos mit Verbrennungsmotor wird es ohnehin einen Bestandsschutz geben. ­Somit kann über das Jahr 2035 hinaus mit klassischem Antrieb gefahren werden. Zudem könnten bis ­dahin E-Fuels den traditionellen Treibstoffen ­beigemischt werden. Damit wäre der Betrieb von ­klassischen Verbrennern – auch aus der AMG-Reihe – ­klimafreundlicher und gesetzeskonform. „Wir bleiben nicht stehen und investieren in ­Motoren. Wir ­machen sie fit für künftige Gesetz­gebung, ­machen sie noch effizienter und schauen ­natürlich auch, was bei der Leistung noch möglich ist“, sagt Schiebe.

Mercedes sieht in dem Topmanager einen Mann für die Zukunft – und zwar nicht nur wegen seines für die Chefetage noch geringen Alters von 41 Jahren. Schiebe ist ein Eigengewächs des schwäbischen Autobauers, das seine bisherige Laufbahn ganz im Zeichen des Sterns erlebt hat.

Vor seiner Beförderung im vergangenen März zum neuen Geschäftsführer der Sport­wagentochter arbeitete er als Chief of Staff und Vertrauter von Konzernchef Ola Källenius. Schiebe ist seit 2004 im Konzern, als er noch BWL studierte. Bei der damaligen Daimler AG startete er seine Karriere im Bereich der Strate­gischen Produktprojekte, wechselte dann ins Controlling und später in den Bereich Marketing und Vertrieb. Unter anderem war er auch als Präsident und CEO von Mercedes-Benz Luxembourg tätig und verantwortete den Vertrieb von Mercedes-Benz-Fahrzeugen in Deutschland.

Schiebe lässt sich von den Mitarbeitern gerne duzen. Er ist eher ein Freund des ­Büros als des Homeoffice. Wenn er in seinem GT-63-Dienstwagen zum Werk fahre, erzählt er mit leuchtenden Augen, überkomme ihn immer ­wieder ein besonderes Gefühl: „Wahnsinn, ich habe einen Traumjob!“

Schon bevor Schiebe bei Mercedes anheuerte, hatte er ein Faible für die ­Fahrzeuge des Konzerns. Sein erstes Auto war allerdings weniger PS-stark – es war ein Smart. Mit Begeisterung beschreibt Schiebe sein zweites Auto: einen C63 AMG der Baureihe 204 mit 6,2 Liter grossem V8-Motor. „Meine Partnerin sagt: ‚Du hast dieses Auto so gern gehabt, irgendwann holst du dir wieder mal einen‘“, sagt Schiebe und schmunzelt.

„Wahnsinn, ich habe einen Traumjob.“
Michael Schiebe

AMG gilt als „Cashcow“ von ­Mercedes – die Tochtergesellschaft produziert ­exklusive Fahrzeuge mit einem Preis von ­mindestens 200.000 € für einen finanzstarken globalen ­Kundenkreis. Das Unternehmen mit Sitz in ­Affalterbach nördlich von Stuttgart entwickelt neben der GT-Baureihe noch das Roadster-Modell SL und ist ein Innovationstreiber im Konzern. Im vergangenen Jahr hat die Performancemarke rund 143.000 Fahrzeuge abgesetzt.

Das Luxussegment ist für Autobauer besonders reizvoll: Trotz der Unberechenbarkeit der geopolitischen Weltlage und verunsicherter Finanzmärkte wächst die Zahl der Superreichen, der sogenannten Ultra-High-Networth-Indivi­duals, weiter; immer mehr Konsumenten ge­hören zur sogenannten Ein-Prozent-Schicht. Die Wachstumsraten liegen bei rund 30 % pro Jahr – somit steigt die Zahl der potenziellen AMG-Neukunden, auch wird das Durchschnittsalter der Käufer immer jünger.

Im Hinblick auf jene Klientel hat AMG den Musiker und Tech-Unternehmer „Will.i.am“ als Botschafter verpflichtet. Der Mitbegründer der legendären Popgruppe Black Eyed Peas präsentiert die neue „Mercedes-AMG GT 63 S E Performance“-Kampagne und gestaltet den Sound der Autos – denn die kommen durch den Hybrid-Antrieb ohne das klassische Verbrenner-Röhren aus.

Der Ausbau des Premiumsegments ist auch bei der Konkurrenz von BMW und VW Teil der Wachstumsstrategie. Dadurch lässt sich laut Experten die Abhängigkeit vom Volumenabsatz reduzieren; auch eine Vorsichtsmassnahme, falls es zu einer Rezession kommt. Neben der M-Sport-Sparte bei BMW oder den RS-Fahrzeugen bei Audi hat AMG Konkurrenz von Luxusmarken wie Ferrari, Lamborghini, Porsche, Aston Martin und Bentley.

Die Marke AMG steht für den Erfindergeist und das Unternehmertum, auf denen über viele Jahrzehnte der Erfolg der süddeutschen Industrie fusste. Gerade in Zeiten, in denen von Deindustrialisierung die Rede ist und stets die Zukunftstauglichkeit dieses Erbes infrage gestellt wird, macht die Erfolgsstory von AMG Mut.

In den 1960er-Jahren arbeiteten die Ingenieure Hans Werner Aufrecht und Erhard Melcher in der Entwicklungsabteilung von Daimler-Benz an einem Rennmotor. Selbst als sich der Konzern zeitweise aus dem Motorsport zurückzog, tüftelten Aufrecht und Melcher privat weiter an der Performance des Motors – in einem Haus in Grossaspach. Aus den Namen Aufrecht, Melzer und Grossaspach wurde später AMG.

1965 gewann mit einem Motor dieser neuen Marke der Daimler-Kollege Manfred Schiek die Deutsche Tourenwagenmeisterschaft. Ein Jahr später kündigten Aufrecht und Melcher, machten sich selbstständig und widmeten sich ganz der Konstruktion von Rennmotoren.

Beim 24-Stunden-Rennen von Spa im Jahr 1971 schaffte AMG den Klassensieg und den zweiten Platz in der Gesamtwertung mit einem AMG-Mercedes 300 SEL 6.8. Eine bullige Luxus­limousine hängte die leichten Rennwagen ab – eine Sensation. AMG war weltberühmt.

Das ikonische Modell ist an diesem Tag in Brooklands ausgestellt. Hunderte AMG-Fans ­fotografieren sich mit dem Auto. Viele sind selbst Besitzer oder sogar Sammler von AMGs und ­wurden vom Unternehmen zur Präsentation ein­geladen. Es gehört zu Michael Schiebes Job, die Beziehung zu den Kunden zu pflegen, ihre An­regungen aufzunehmen und ihnen ein Gefühl der Exklusivität zu geben – denn jeder AMG-Besitzer kann Mitglied eines Klubs werden, der etwa Treffen auf Rennstrecken in aller Welt organisiert; ­damit die Kunden ihre Sportautos voll ausfahren und jedes PS an Leistung aus dem Motor kitzeln können, bevor sie mit demselben Auto zum Shoppen fahren oder die Kinder aus der Kindertagesstätte abholen. Auf der Rückbank des neuen AMG GT 63 Pro, so erläutert später der Chefingenieur den versammelten Journalisten bei der Besichtigung der Luxuskarosse, kann auch ein Kindersitz eingebaut werden – ein durchaus familien­taugliches Spassauto also.

In den 1970er- und 1980er-Jahren wuchs AMG rasant, die Motoren der Marke ­sorgten im Rennsport für Furore. Nach jahrelanger ­Kooperation übernahm Daimler-Chrysler 2005 das Unternehmen vollständig. Bei der Mercedes-AMG GmbH in Affalterbach sind heute mehr als 2.000 Mitarbeiter beschäftigt. Mercedes-AMG ist die erfolgreichste Marke in der Geschichte der Deutschen Tourenwagen Masters – und mit dem Mercedes-AMG Petronas F1 Team ist die Marke seit 2012 auch in der Formel 1 vertreten. Nicht zuletzt dank der AMG-Technologie wurde Lewis Hamilton insgesamt sieben Mal Formel-1-Weltmeister.

Dann der Auftritt des neuen GT-Modells: Zu lautem Bass-Wummern, Pyroflammen und rosa Farbe versprühenden Drohnen flitzt unter dem Applaus Hunderter Zuschauer das strassen­taugliche Rennauto über die Strecke. Nach der Show sitzt Michael Schiebe beim Dinner auf der Terrasse der Mercedes-Benz World. Es gibt Gegrilltes – neben reichlich Fleisch auch ein rein pflanzliches und nahezu emissionsfreies Pilz­gericht. Auch für die Veganer unter den AMG-Bleifüssen ist also gesorgt.

In den kommenden Jahren will AMG neue Innovationen und Schlüsselkomponenten auf den Markt bringen; etwa die „AMG.EA“-Plattform, die auf die Axialfluss-Motorentechnologie von Yasa, einem Unternehmen aus Oxford, setzt. Mercedes übernahm das Start-up vor drei Jahren. Die Elektromaschine soll ein motorsport­ähnliches Leistungspotenzial bieten, nimmt aber kaum Einbauraum in Anspruch. Der E-Motor gilt als die Zukunft der elektrisch angetriebenen Hochleistungsfahrzeuge mit dem Silberstern.

Schiebe erzählt eine Anekdote von seinen Anfängen als AMG-Chef, die ja nur ein paar Monate zurückliegen: Damals wurde ihm eine besondere Ehre zuteil – er durfte auf der Test­strecke im Schwarzwald den AMG One fahren, ein Hypercar mit Flügeltüren, das die Techno­logie aus der Formel 1 auf die Strasse bringt; 1063 PS Systemleistung, von null auf 200 in sieben Sekunden. „Ganz gleich, wo das Hypercar seine Leistung zeigt, hört man bereits vorher, dass sich echte Formel-1-Technologie nähert. Gänsehaut garantiert – für Fahrer, Fussgänger und Fan“, heisst es in der offiziellen Produkt­beschreibung des Boliden.

Im Oktober 2022 raste der Werks­fahrer Maro Engel mit dem Mercedes-AMG One in ­einer Zeit von 6:35,183 Minuten über die rund 20 Kilometer lange Nürburgring-Nordschleife – ein neuer Rekord für Serienfahrzeuge mit Strassen­zulassung, und dazu noch acht Sekunden schneller als der bisherige Bestwert, aufgestellt vom Porsche 991 GT2 RS.

Gänsehaut hatte auch Schiebe, als er auf der Mercedes-Teststrecke mit dem AMG One das Gaspedal durchdrückte. Das Rennauto schoss über den Asphalt, binnen Sekunden stand die ­Tachoanzeige bei 250 Stundenkilometern. Doch die Spritztour hatte ein Nachspiel: Schiebe hatte das Tempolimit überschritten – das liegt bei 150 Stundenkilometern. Für eine Aufhebung der Beschränkung braucht es vorab eine Sonder­genehmigung.

Die konnte Schiebe allerdings problemlos nachreichen – zumal es als AMG-Chef ja eher ein Vorteil ist, wenn man schnell aus den Start­löchern kommt.

Michael Schiebe ist Vorsitzender der Geschäftsführung der Mercedes-AMG GmbH. Der Manager ist seit 2004 im Konzern tätig, begann seine Karriere noch während des Studiums bei der damaligen Daimler AG, war im Controlling, Marketing und Vertrieb tätig und auch CEO von Mercedes-Benz Luxembourg. Von 2020 bis 2023 berichtete er an CEO Ola Källenius als Chief of Staff. Seit März 2023 ist Schiebe nun CEO von Mercedes-AMG.

Fotos: Mercedes AMG

Reinhard Keck

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