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Purpose verschafft Unternehmen nicht nur eine einzigartige Identität, er kann auch Mitarbeiter motivieren, Kunden anziehen und Teams zusammenschweissen. Doch er ist schwer messbar, und eine genaue Definition gibt es nicht. Der Nachhaltigkeitsexperte der WU Executive Academy, Christof Miska, und seine WU-Forscherkollegin Nathania Chua erzählen, was Purpose sein kann, was er bringt und wie er von Geschäftsführern ins Unternehmen eingebracht werden kann.
Vergangenes Jahr befragte der Schweizer Datenanalyst Neoviso in Kooperation mit Forbes 1.000 Menschen der Generation Z (kurz «Gen Z» und lose definiert als geboren zwischen den Jahren 1995 und 2010) dazu, was sie von Arbeitgebern erwarten. Eine Erkenntnis war, dass junge Menschen viel Wert darauf legen, dass ihr Job «Sinn macht». Für 38 % der Befragten ist eine sinnvolle Tätigkeit einer der drei wichtigsten Motivationsfaktoren in ihrer Arbeit; in Deutschland steigt der Anteil sogar fast auf 50 %. Auf einer Skala von eins bis sieben bewertet die Gen Z die Wichtigkeit, eine Tätigkeit auszuüben, die den eigenen Werten und Interessen entspricht, im Schnitt mit einem Wert von 5,6. Viele junge Menschen wollen mit ihrer Arbeit etwas bewirken. Im Leadership-Jargon würde man sagen, ihre Arbeit braucht Purpose; einen Sinn.
Der Nachhaltigkeitsexperte der WU Executive Academy, Christof Miska, und seine WU-Research-Kollegin Nathania Chua forschen, unterstützt vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF und gemeinsam mit Kollegen wie Günter Stahl, mittlerweile zwei Jahre lang an genau diesem Thema: Was ist Purpose und wie können Unternehmen ihn in ihr Geschäftsmodell integrieren? Dabei kann Purpose etwa Gewinnausschüttungen für Aktionäre, zufriedene Mitarbeiter, die positiv auf die letzten Jahre zurückblicken, oder langlebige Produkte sein. Manches davon ist nur schwer zu messen, weshalb Purpose oft nicht den gebührenden Stellenwert in Unternehmen bekommt, so die Forscher. «Viele Unternehmen schreiben Purpose einfach auf die Liste ihrer Ziele, ohne ein passendes Konzept zu definieren», so Chua. Das sei der falsche Ansatz, denn so könne er sein positives Potenzial nicht entfalten.
«Nur ‹Wir sind profitabel› zu sagen ist nicht mehr gut genug. Es ist bloss eine Grundvoraussetzung.»
Christof Miska
Doch wie können Unternehmer Purpose dann nutzen? Oder noch wichtiger: Warum sollten sie – inmitten einer Wirtschaftskrise – Zeit und Geld dafür investieren? Und was genau ist Purpose, abgesehen von warm-wohligen Gefühlen?
«Ganz einfach gesagt ist Purpose das, was von einem Unternehmen fehlt, wenn es nicht mehr existiert», erklärt Miska. Doch so leicht ist es dann doch nicht: Die Wissenschaftler unterscheiden grob zwischen ziel- und pflichtorientiertem Purpose. Bei zielorientiertem Purpose, so Miska, gehe es um die Mission, Vision und die Strategie eines Unternehmens. Handeln Unternehmen hingegen aus pflichtorientiertem Purpose, wollen sie ihre Rolle in der Gesellschaft ausweiten. «Es geht dann darum, einen Nutzen für die Gesellschaft oder den Planeten zu schaffen», erklärt Miska. Er fügt jedoch hinzu: «Alle reden über Purpose, aber jeder meint etwas anderes damit. Für manche Unternehmen ist es Profit, für andere ein positiver Impact auf die Gesellschaft – die Liste ist lang.» Noch gebe es in der Wirtschaftswissenschaft keine eindeutige Definition.
Das ist aber kein Grund, Purpose nicht in Unternehmensstrategien mitzudenken. Miska und Chua haben einige Schritte identifiziert, denen Unternehmen dafür folgen können. Der erste Schritt ist, den Purpose eines Unternehmens zu identifizieren und klar zu definieren. Dazu braucht es keine genaue Definition von Purpose im Allgemeinen; vielmehr müssen sich Unternehmer fragen, was sie mit ihrem Tun erreichen wollen. «Viele Manager, mit denen wir für unsere Forschung sprechen, wissen gar nicht, was das grosse Ziel ihres Unternehmens ist», so Chua. «Sie sind so darauf konzentriert, das Schiff zu lenken, dass sie gar nicht wissen, wo sie hinfahren wollen.»
Um das zu ändern, hilft es manchmal, an den Ursprung des Unternehmens zu gehen. Welches Ziel hatte der Gründer vor Augen, als er ins Ungewisse startete? Manche Unternehmen haben eine lange Tradition, die ihren Purpose widerspiegeln kann. «Versicherungen haben oft eine interessante Geschichte», nennt Chua ein Beispiel: «Viele haben ihren Ursprung darin, dass Mitglieder einer Gesellschaft ihr Geld in Krisenzeiten zusammenlegten. Oft sind daraus Versicherungen entstanden. Ist dem CEO einer Versicherung das bewusst, kann er womöglich leichter sehen, was der Purpose seines Geschäfts ist.» Hat ein Unternehmen seinen Purpose klar definiert, muss es diesen kommunizieren, sowohl ausserhalb als auch innerhalb eines Unternehmens. Um das Beispiel anhand von Versicherungen fortzuführen, sagt Miska: «Die Geschäftsführung könnte ihren Mitarbeitern bewusst machen, dass sie nicht einfach Polizzen verkaufen, sondern Sicherheit.» Da sich diese Kommunikation auch an Angestellte des Unternehmens richtet, muss sie über Marketing hinausgehen.
Ein Fehler, der in diesem Prozess oft passiert, sei, so die WU-Forscher, dass nicht alle relevanten Parteien eingebunden werden. Oft verfolgen Departments verschiedene Ziele. Dennoch ist es wichtig, dass alle einen übergeordneten Purpose vor Augen haben. Ähnlich ist es mit Aktionären und Stakeholdern: Sie müssen mit an Bord sein, nicht zuletzt, weil sie dem CEO oft Ziele setzen. Chua: «Wenn nicht alle hinter dem Purpose stehen, führt das zu unternehmensinternen Spannungen. Dann wird es unmöglich, den Purpose am Laufen zu halten.»
Für ein greifbares Beispiel nennen die Forscher ein Familienunternehmen, das vor einem Generationswechsel steht: Verstehen die Nachfolger den Purpose falsch, werden sie das Unternehmen in eine andere Richtung führen; stehen sie nicht dahinter, wollen sie womöglich nicht ins Unternehmen einsteigen. Möchte ein Unternehmer, dass sein Lebenswerk von seinem Nachwuchs weitergeführt wird, muss er den Purpose entsprechend kommunizieren.
Oft kann Purpose auch zu den nötigen Veränderungen innerhalb eines Unternehmens führen. Das trifft besonders auf Branchen wie den traditionellen Energiesektor zu, die in der Forschung zu den kontroversen Industrien zählen. «Diese Industrien müssen sich in den nächsten Jahren massiv wandeln», so Miska. «Damit das passieren kann, müssen Unternehmen in diesen Bereichen Stakeholder, Manager und Mitarbeiter hinter einem Purpose vereinen. Sonst hat jeder eine andere Vision für das Unternehmen.»
Eine Schwierigkeit ist, dass die Effekte von Purpose nur schwer messbar sind. Es gibt Kennzahlen für Unternehmenserfolg – Cashflow, Gewinn, Margen –, nicht jedoch für Purpose. Das schrecke auch viele davon ab, so Miska, sich der Thematik zu widmen. Doch dass der Einfluss schwer messbar ist, heisst nicht, dass er nicht da ist. Miska: «Purpose hat oft einen indirekten Einfluss auf den Profit eines Unternehmens. Er motiviert Mitarbeiter und macht das Unternehmen attraktiver für Kunden. Das schlägt sich vielleicht nicht sofort in den Zahlen nieder, aber auf lange Sicht macht Purpose einen Unterschied.» Greifbar wird dieser durch den Wettbewerbsvorteil, den Unternehmen durch starken Purpose gewinnen können. Das Marktforschungsunternehmen Forrester weist in einer Studie darauf hin, dass viele Konsumenten der Gen Z Marken vermeiden, die gewissen ethischen Ansprüchen nicht gerecht werden. Unternehmen, die diese Ansprüche erfüllen oder sie sogar vorhersehen, können junge Kundengruppen besser ansprechen. Miska: «Wenn mein Unternehmen das erste ist, das alle Ansprüche erfüllt, muss die Konkurrenz nachziehen. Das verschafft mir einen enormen Vorteil.» Da Lieferketten immer transparenter werden müssen, betrifft das Firmen aller Branchen und jeder Grösse.
Die Diskussion über den Purpose von Unternehmen ist nicht neu. Bereits im 19. Jahrhundert machten sich Ökonomen und Geschäftsleute darüber Gedanken, was die Rolle von Unternehmen in der Gesellschaft sein soll. Doch in den letzten Jahren rückte die Diskussion rund um Purpose weiter in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte als jemals zuvor. Dafür nennen Miska und Chua einige Gründe: In den letzten Jahren folgte eine Krise auf die nächste, zuerst die Coronapandemie, dann Kriege wie in der Ukraine; alles, während die Klimakrise immer schneller voranschreitet. Diese grossen gesellschaftlichen Herausforderungen, so Miska, haben die Aufmerksamkeit vieler auf die Frage gelenkt, welche Verantwortung Unternehmen tragen sollen.
Gleichzeitig macht das Internet viele Informationen über Unternehmen frei zugänglich, und durch soziale Medien können Unternehmen leichter zur Rechenschaft gezogen werden, sollten sie ihre Verantwortung, wie sie von der Gesellschaft wahrgenommen werden, nicht erfüllen. Das alles führt dazu, dass sich Unternehmen immer mehr Gedanken zu ihrem Purpose machen müssen. «Nur ‹Wir sind profitabel› zu sagen ist nicht mehr gut genug. Es ist bloss eine Grundvoraussetzung», so Miska. Laut ihm bietet diese neue Aufgabe aber auch eine Chance: «So können Unternehmen darüber nachdenken, was sie wirklich machen wollen», sagt er.
Ein Unternehmen, das genau das laut Miska und Chua gut verkörpert, ist Tony’s Chocolonely. Die niederländische Schokoladenmarke möchte die Branche nachhaltig verändern, denn in den Wertschöpfungsketten vieler grosser Schokoladenhersteller arbeiten Kinder – und Sklaven. CEO Douglas Lamont ist dabei aber auch bewusst, dass Profit ein wichtiger Bestandteil des Purpose ist. «Wenn wir es nicht schaffen, nachhaltig Gewinne zu schreiben, werden wir die Branche nicht verändern können – denn dann haben die Grossen immer noch die Ausrede, dass ihre Aktionäre höhere Margen wollen», sagte er letztes Jahr im Gespräch mit Forbes. In diesem Fall, so Miska, «ermöglicht Purpose diesen Kampf eines Davids gegen Goliath. Ohne einen starken Purpose könnte Tony’s Chocolonely wahrscheinlich nicht einmal beginnen, mit den grossen Marken der Schokoladenindustrie herausfordernd zu konkurrieren.»
Dass ein profitables Geschäft mit Purpose Hand in Hand gehen kann – und meistens sogar muss –, dürfen Unternehmer trotzdem nicht vergessen. «Für For-Profit-Unternehmen», so Miska, «ist das Erzielen von Gewinnen Teil der Aufgabe. Das ist genau das, was sie machen müssen. Die Kunst ist es, einen Purpose zu finden, der sich mit dem Erzielen von Profiten vereinbaren lässt – oder im Idealfall den Profit steigert.»
Christof Miska ist akademischer Leiter des Masterprogramms in Sustainability, Entrepreneurship & Technology und des ESG- und Nachhaltigkeits-Kurzprogramms der WU Executive Academy. Er ist Professor am Institut für Responsibility and Sustainability in Global Business der WU Wien. Nathania Chua ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Responsibility and Sustainability in Global Business der WU Wien. Sie absolvierte ihr Doktoratsstudium an der Esade Business School in Barcelona am Department für Gesellschaft, Politik und Nachhaltigkeit.
Fotos: Gianmaria Gava