Phänomen Schweizerhaus

Das Schweizerhaus im Prater ist eine feste Grösse in der Wiener Gastronomieszene. Seit 104 Jahren wird der Traditionsbetrieb von der Familie Kolarik geführt – genau wie der Vorname für männliche Nachkommen wird auch das Schweizerhaus von Generation zu Generation weitergegeben.

Trotz Kaiserwetter und angenehmen 16 Grad sind die Attraktionen im Wiener Prater am 15. März 2024, einem Freitag, nicht überfüllt. Es ist noch zu früh im Jahr, um einen Ansturm im Vergnügungspark zu erwarten. Direkt neben dem Praterturm, genau genommen am Karl-Kolarik-Weg, macht sich aber Volksfeststimmung breit: Wie jedes Jahr zu diesem Datum öffnet das Schweizerhaus, der berühmteste Biergarten des Landes, seine Pforten. Eine Heerschar von Kellnern drängt sich mit prall gefüllten Tabletts durch den 3.200 Quadratmeter grossen Gastgarten. Fast alle Besucher haben ein Bier in der Hand, viele tanzen ausgelassen zu den Klängen der Blasmusikkapelle. Der Bereich um die zwölf Meter lange Schank, benannt nach dem Franz-Josefs-Bahnhof in Wien, ist für Menschen mit Klaustrophobie tabu: Die Tische sind restlos ausgebucht. Die meisten Reservierungen stammen vom Januar, Stammgäste haben sich ihren Platz noch früher gesichert. Der Biergarten ist in kleinere Bereiche unterteilt, die jeweils mit den Namen der Wiener Gemeindebezirke versehen sind.

In der „Prater Au“, einem von sechs Innenbereichen (neben Belvedere, Gloriette, Küchenstöckl, Schönbrunn und Wintergarten Oberlaa), warten die Geschäftsführer Karl Jan Kolarik und sein Sohn, Karl Hans Kolarik, auf unser Gespräch. Auch in der Gaststube herrscht Hochbetrieb. „Der Eröffnungstag zählt statistisch zu den fünf Tagen mit der höchsten Gästezahl“, sagt der Seniorchef. Auf die Frage, wie viel Umsatz so ein erfolgreicher Tag bringt, antwortet er mit Wiener Schmäh: „Einen Muskelkater.“ Der erfahrene Wirt, der keine genauen Umsatzzahlen preisgeben möchte, schätzt jedoch, dass der Tagesumsatz das 2,5- bis Dreifache eines durchschnittlichen Tages ausmacht. Die Hauptkundschaft besteht nicht aus Touristen, sondern vor allem aus Wienern und Ostösterreichern. Die meisten ausländischen Gäste würden in Begleitung von Einheimischen kommen. „Deswegen ist unsere Karte auch nicht auf Englisch. Wir wollen authentisch bleiben und uns nicht für Touristen verstellen“, erklärt Kolarik senior. Einen viel grösseren Stellenwert für die Kolariks haben ihre Stammgäste: „200 bis 300 Gäste kommen vier- bis fünfmal pro Woche zu uns“, so Kolarik junior.

200 bis 300 Gäste kommen vier- bis fünfmal pro Woche zu uns.

Karl Hans Kolarik

Das Schweizerhaus bietet insgesamt 2.200 Sitzplätze, davon 1.400 im Garten und 800 im Gasthaus. „In der Gastronomie sind Sitzplatz­kapazitäten mit Vorsicht zu geniessen, da Tische oft nicht vollständig besetzt sind“, so Kolarik junior. Durch ein anonymes Zählsystem erhält er präzise Informationen über die Anzahl der Gäste. Es wurden insgesamt 2.200 Personen gezählt, wobei 200 davon Angestellte und die restlichen 2.000 Gäste sind. „Das ist eine Feuertaufe für unsere Kellner. Wir starten jedes Jahr etwa mit 30 % neuem Personal. Die werden in den Wochen davor entsprechend eingeschult“, sagt Kolarik senior. Frauenpower ist im Schweizerhaus herzlich willkommen, jedoch stellt der klassische Kellner­beruf oft eine körperlich anspruchsvolle Aufgabe dar. „Das Tragen eines Tableaus mit 15 Krügerln fällt in der Regel Männern leichter. Das Balancieren von zwölf Kilogramm Gewicht und das gleichzeitige Aufnehmen von Bestellungen ist ein echter Knochenjob. Die Frauen tragen meistens Bauchläden mit Brezeln, arbeiten im Reservierungsmanagement und sind auch in der Küche aktiv“, so Kolarik senior weiter.

Aufgrund einer anderen Problematik gestaltet sich die Personalauswahl zunehmend anspruchsvoll: „Viele Anwärter wollen nur 20 Stunden arbeiten und am Wochenende frei haben.“ Zum Glück können die Kolariks auf ihr Stamm­personal vertrauen, das zwei Drittel des Teams ausmacht. 30 % der Kellner sind schon länger als zehn Jahre im Unternehmen, weitere 30 bis 40 % arbeiten bereits seit mehr als zwei Jahren hier. Karl Jan Kolarik selbst geht in die 39. Saison an der Spitze der traditionsreichen Gastronomiestätte.

Das Schweizerhaus, benannt nach einer Schweizer Meierei von 1868 im Prater, könnte schon 1766 als Schweizer Hütte existiert haben, heisst es in manchen Wiener Chroniken. Eine ­alternative Theorie besagt, dass der Name von schweizerischen Jagdhelfern stammt – sie sollen der Legende nach die kaiserlichen Herrschaften bewirtet haben, als der Prater für das Volk noch nicht zugänglich war. Seit 1880 an seinem heutigen Standort betrieben wurde das Schweizerhaus 1920 vom erst 19-jährigen Karl Kolarik, dem Vater von Karl Jan Kolarik, übernommen und zum heutigen Erfolg geführt. Gemeinsam mit dem Riesenrad zählt es zu den meistbesuchten Attraktionen des Wiener Wurstelpraters. Im Jahr 1986 erfolgte die Übergabe an die nächste Generation, nachdem der Gastronom 66 Jahre lang das Ruder geführt hatte. Seitdem leitet Karl Jan Kolarik mit seiner Schwester Lydia und seiner Frau Johanna die Geschicke der Kult-Gaststätte. Im August 2021 wurde das Ehepaar Kolarik für seine Verdienste von Bürgermeister Michael Ludwig mit dem Goldenen Rathausmann ausgezeichnet.

Auch die jüngste Schwester Elisabeth hat sich als ­erfolgreiche Unternehmerin etabliert und ­leitet ihren eigenen Betrieb. Kolariks Freizeitbetriebe im Wiener Prater umfassen die Lokale Praterfee, Luftburg und Himmelreich sowie den Kinder­vergnügungspark Kinderwelt. Im Jahr 2020 übernahm Elisabeths Sohn Paul Kolarik die Freizeitbetriebe und verwandelte die Luftburg in das grösste Bio-Restaurant der Welt. Die dritte Generation im Schweizerhaus, zu der im operativen Geschäft neben Karl Hans Kolarik auch seine Schwester Regina zählt, strebt keine drastischen Veränderungen in ihrem Betrieb an. Jedes Jahr gibt es geringfügige Anpassungen, wobei darauf geachtet wird, dass der Charakter und die Identität der Marke bewahrt bleiben.

Zum Beispiel bietet das Schweizerhaus in der Saison 2024 neben klassischen Gerichten wie Schweinsstelze, Gulasch und Schnitzel auch eine grössere Auswahl an vegetarischen Speisen an. Unter dem Slogan „Um ein echtes Schmankerl zu sein, braucht es kein Fleisch“ werden Schafskäsetascherln, Spinatnockerln, gebackener Emmentaler und ein Bohnen-Linsen-Eintopf angeboten. „Wir haben die Karte leicht adaptiert, weil immer mehr Gäste kein Fleisch essen möchten, aber trotzdem nicht auf das Erlebnis Schweizerhaus verzichten wollen“, so der Juniorchef. Die Favoriten der „Veggies“ bleiben aber die Klassiker: handgemachte Erdäpfelpuffer mit Bier­rettich und Krautsalat. Die Schweinsstelze, die traditionell mit Krautsalat und Salzstangerl serviert wird, bleibt im Fleischsegment der absolute Bestseller. An Tagen wie diesen können schon mal 500 Stück über die Theke gehen.

Ein Blick auf die Dessertkarte offenbart den Einfluss der böhmischen Küche: Powidltaschen und Mohnnudeln. Aber auch pikante Leckereien wie Prager Kuttelflecksuppe, slowakische Krautsuppe oder Znaimer Rindsgulasch weisen auf die Wurzeln der Kolariks hin. Den Bezug zum nördlichen Nachbarland haben sie nie verloren „Ich habe das tschechischsprachige Komensky-Gymnasium in Wien besucht. Mein Sohn hat die Sprache während seines Studiums gelernt“, erzählt Kolarik senior.

Seit Urzeiten kommt auch das Bier aus der ­alten Heimat. Im Jahr 1926 führte Karl Kolarik das originale Budweiser Budvar ein. Die Festlegung der Bierpreise ist natürlich Chefsache – beide Geschäftsführer sind Absolventen der Wirtschaftsuniversität Wien. Einen halben Liter Budvar haben sie dieses Jahr bei 5,90 € angesetzt; eine Erhöhung um 30 Cent im Vergleich zum Vorjahr. „Unser ­Warenkorb ist um 3,7 % teurer als im Vorjahr. Unseren Gästen haben wir keinen so kräftigen Preisanstieg weitergegeben, weil das Leben für sehr viele schon schwer genug ist“, sagt Kolarik senior. Im ­letzten Jahr stieg der Preis für ein Krügerl um 40 Cent oder rund sieben Prozent, während er nun mit ­einem Plus von 5,2 % leicht unter der Jahres­inflationsrate liegt. Zusätzlich wurde in energiesparende Küchengeräte investiert, um langfristig Kosten zu sparen. „Herde und Grillplatten sind in diesem Winter getauscht worden, um die Energieeffizienz zu verbessern“, so Kolarik junior.

Nach der wirtschaftlichen Analyse des ­Gerstensafts rückt nun die legendäre Zapftechnik des dunkelgelben Zwölf-Grad-Lagerbiers in den Fokus. Der Seniorchef lüftet das Geheimnis des süffigen Geschmacks des Budweisers im Schweizerhaus: „Unser Bier wird dreimal gezapft: Vorschenken, Nachschenken, Fertigzapfen. Dieser Vorgang dauert etwa drei bis vier Minuten und erfordert viel Handarbeit. Der Vorteil für den Konsumenten liegt darin, dass sich eine feste Schaumhaube bildet. Ein Teil der Kohlensäure im Bier wandert in die Schaumhaube. Dadurch ist das Bier etwas weniger kohlensäurehaltig und damit bekömmlicher.“ In herkömmlichen Restaurants sei es schwieriger, diese Vorbereitung in grossen Mengen durchzuführen. „Bei uns geht ein Kellner bereits auf Verdacht hinaus und findet Abnehmer.“ In Zahlen: Ein herkömmlich gezapftes Budweiser hat 5,2 Gramm Kohlensäure auf 100 Milliliter, während das Schweizerhaus-Budweiser nur 3,5 Gramm Kohlensäure auf 100 Milliliter enthält. Ein besonderes Bier verdient zweifellos ein einzigartiges Glas: Für das perfekte Schaumhauberl wurde eigens das „Schweizerhaus-Bunkerl“ entwickelt.

Über ein Jahrhundert hinweg hat die ­Familie immer wieder ihren Unternehmergeist bewiesen: In den 1920er-Jahren versuchte Karl Kolarik, den Wienern gebackenen Fisch schmackhaft zu machen. Um zu testen, ob das Öl schon heiss genug zum Frittieren ist, legte der Koch immer dünne Kartoffelscheiben in die Pfanne. Aus einem wirtschaftlichen Gedanken heraus entstand somit eine Innovation, die sich schliesslich zu einem beliebten Snack entwickelte: die Original Schweizerhaus Rohscheiben. Wer viel experimentiert, erlebt auch Flops: Ein besonders kurioser Misserfolg war der Wurstomat, den die Gäste des Schweizerhauses im Jahr 1928 per Kurbel bedienen konnten, um eine warme Wurst zu erhalten. Der Erfolg blieb aus, und der Wurstomat verschwand fast so schnell, wie er gekommen war.

Auch wirtschaftlich ging es für die ­Familie Kolarik nicht immer nur nach oben. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Schweizerhaus dem Erdboden gleichgemacht. Doch Karl Kolarik und seine Frau Else liessen sich davon nicht entmutigen – sie begannen mit dem Wiederaufbau, indem sie einen ausgemusterten Riesenrad-Waggon kauften und von dort aus Getränke ausschenkten. Erst in den späten 1960er-Jahren konnten die Kreditschulden ab­bezahlt werden. Gewinne wurden stets in die ­Optimierung des Betriebs gesteckt.

Expansionspläne ­haben die Kolariks für das Schweizerhaus nie gehegt. Anfragen von ­Geschäftsleuten aus Russland und Serbien, die Interesse an der Errichtung einer Filiale in ihren Heimatländern hatten, wurden abgelehnt. „Ein grosser Erfolgsfaktor ist unsere Lage. Wir sind nur 20 Gehminuten vom Stephansplatz (dem Stadtzentrum Wiens, Anm.) entfernt und befinden uns mitten in der grünen Lunge der Stadt. Eine Dependance müsste einen ähnlich zentralen Standort haben wie das Original und sich gleichzeitig in einer grünen Umgebung befinden. Eine Lage am Stadtrand würde keinen Sinn ergeben. Aber damit beschäftigen wir uns sowieso nicht. Das Schweizerhaus soll es nur hier im Wiener Prater geben“, so Kolarik junior.

Seit 1920 wird das Schweizerhaus von der Familie Kolarik geführt. Im Jahr 1986 übernahm Karl Jan Kolarik die Geschäftsführung von seinem Vater Karl; 2015 ist auch sein Sohn, Karl Hans Kolarik, in die Geschäftsführung eingetreten.

Fotos: Matthias Aschauer

Paul Resetarits,
Redakteur

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