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Jahrzehntelang haben sich Arbeitsplätze weiterentwickelt, um mit der Zeit zu gehen – nun wandelt sich mit der derzeitigen Pandemie die Art und Weise, wie wir arbeiten, erneut. Mittendrin: der Schweizer Möbelhersteller Vitra. CEO Nora Fehlbaum stellt ihr Konzept für die Rückkehr zum Büro in einer neuen Ära des hybriden Arbeitens vor.
Zu Beginn des Interviews begrüsst uns eine ungewohnte Kulisse aus verspielten Cartoons – für Nora Fehlbaum erweist sich an diesem Morgen eine ruhige Ecke im Kinderabteil eines Zugs als idealer Ort für ein Videotelefonat. Die CEO des Schweizer Möbelherstellers Vitra ist gerade auf dem Weg zu einem Kundentermin in Zürich. „Ich bin ein Mensch, der sich gerne mit anderen persönlich vor Ort unterhält. Ich habe es immer als schwierig empfunden, über Telefonate eine Verbindung herzustellen“, sagt sie, während sie eine schwarze Maske trägt. „Da spielen Sinne eine Rolle, die man über einen Bildschirm nicht einsetzen kann.“
Videoanrufe, Masken, Desinfektion und soziale Distanzierung: Das sind die Markenzeichen eines Jahres, das von einer globalen Pandemie geprägt war. Bereits während des ersten Lockdowns machte sich das Basler Unternehmen Vitra daran, coronasichere Büros zu entwerfen – komplett mit leicht zu reinigenden Materialien und mobilen Trennwänden. Ein Jahr später stellt uns die Krise vor neue Herausforderungen: „Wenn wir jetzt davon sprechen, dass die Leute wieder ins Büro zurückkehren“, sagt Fehlbaum, nachdem sie dem Zugbegleiter ihre Fahrkarte gezeigt hat, „denke ich nicht, dass wir uns eine Welt vorstellen, in der die Leute den ganzen Tag Masken tragen, wenn sie am Tisch sitzen, und in der man einander nicht zu nahe kommen darf.“
Stattdessen hängt eine grössere Frage in der Luft: „Viele Unternehmen – und wir bei Vitra auch – versuchen, herauszufinden, was der permanente Modus Operandi sein wird“, so Fehlbaum. Laut McKinsey Global Institute könnte die Krise zu einem bis zu fünffachen Anstieg der Telearbeit führen. Kurz gesagt: 20 bis 25 % der Beschäftigten in fortgeschrittenen Volkswirtschaften könnten sich nach der Krise für Homeoffice an drei bis fünf Tagen pro Woche entscheiden. Unternehmen wie Facebook, Twitter und neuerdings auch Spotify haben bereits dauerhaft flexible Arbeitsmodelle für ihre globalen Belegschaften angekündigt. „Plötzlich bemühen wir uns bewusst, ins Büro zu kommen, um andere zu treffen“, sagt Fehlbaum. „Wir wollen nicht mehr einfach nur am Schreibtisch sitzen und bloss unsere Arbeit erledigen.“
Im Dreiländereck von Deutschland, Frankreich und der Schweiz liegt eine Stadt am östlichen Ufer des Rheins: das deutsche Weil am Rhein. Die ehemalige Eisenbahnerstadt ist heute ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, an dem täglich eine Vielzahl an Pendlern über die Grenze in die Basler Innenstadt geht. Hier errichtete Vitra 1950 seine ersten Produktionsstätten und unterhielt gleichzeitig ein Büro in der Schweiz. Als 1981 ein Grossbrand ausbrach, der weite Teile des Geländes zerstörte, entstand eine neue Vision für einen zeitgenössischen Park. Heute beherbergt der Vitra Campus einige der grössten Namen der Architektur: das von Frank Gehry entworfene Vitra Design Museum, die Fire Station von Zaha Hadid und das Vitra Haus von Herzog & de Meuron – der Vitra-Flagship-Store, der bis heute 3,5 Millionen Besucher angezogen hat.
Plötzlich bemühen wir uns bewusst, ins Büro zu kommen, um andere zu treffen. Wir wollen nicht mehr einfach nur am Schreibtisch sitzen und bloss unsere Arbeit erledigen.
Die Geschichte einer der grössten Möbelmanufakturen Europas beginnt jedoch mit bescheideneren Wurzeln. Gegründet 1950 von Erika und Willi Fehlbaum, war Vitra ursprünglich ein Ladenbaugeschäft. Erst nachdem Willi Fehlbaum bei einem Besuch in den USA 1953 auf die Stühle des Designerehepaars Charles und Ray Eames gestossen war, schwenkte das Unternehmen ins Möbelgeschäft um. Die Leitung wurde 1977 an Sohn Rolf Fehlbaum übergeben, 2005 wurde mit Hanns-Peter Cohn der erste Geschäftsführer von ausserhalb der Familie eingestellt. Obwohl Nora Fehlbaum mit ikonischen Möbelstücken aufgewachsen ist, war der Weg zur Übernahme des Familienunternehmens nicht in Stein gemeisselt. Durch ihren MBA und ihre Erfahrung als Beraterin stieg sie schliesslich 2010 in das Designunternehmen ein, bevor sie 2016 den Posten der CEO übernahm – und damit heute die dritte Generation von Vitra darstellt.
Seit ihrem Einstieg in das Unternehmen hat Fehlbaum den Architekturpark von Vitra betreut, den Launch des Onlineshops geleitet und die Accessoires-Kollektion ausgebaut. Heute gibt es unter dem Vitra-Dach Hunderte von Produkten – von Couchtischen über Chaiselounges (eine gepolsterte Kombination aus Sitz- und Liegemöbel, Anm.) bis hin zu einer Möbelskulptur des dänischen Architekten und Designers Verner Panton im Wert von 15.000 CHF. Eine Kultur der Zusammenarbeit und Partnerschaft prägt seit jeher das Unternehmen und seine Arbeit mit unabhängigen Designern, Architekten und Grafikern aus aller Welt.
Bei Zahlen hält sich das Unternehmen generell äusserst bedeckt, aber laut Linkedin beschäftigt Vitra rund 1.000 Mitarbeiter, wobei die grosse Zahl der in der Produktion tätigen Personen hierbei noch nicht mitgerechnet ist. Der Jahresumsatz wird laut Statista auf 350 Millionen € geschätzt. Der Umsatz kommt aus dem Möbelsortiment, aber Vitra tritt auch als Full-Service-Anbieter für Büros und öffentliche Räume auf – etwa beim Changi Airport in Singapur oder der Tate Gallery of Modern Art in London.
Selbst inmitten einer globalen Pandemie findet man Fehlbaum an den meisten Tagen in einem offenen Bereich nahe der Lobby am Hauptsitz in Birsfelden, Schweiz. „Für mich ist das ein Teil einer produktiven Routine“, sagt sie. „Ohne einen Arbeitsplatz, zu dem ich gehen kann, würde ich mir wirklich schwertun.“ Für Vitra hat sich die Umstellung der Arbeit in den digitalen Raum im Zuge der Coronakrise manchmal als Einschränkung erwiesen: Die persönliche Zusammenarbeit mit Designern (die bei Vitra „Autoren“ genannt werden) und Architekten musste reduziert werden und die meisten der 32 Showrooms von Vitra und das dazugehörige Museum hatten ihre Türen für einen Grossteil des Jahres 2020 geschlossen.
„Eine Tech-Firma, deren Produkt eine Software ist, ist vielleicht offener für permanente Remote-Arbeit“, sagt Fehlbaum. „Die Talente, nach denen diese Unternehmen suchen, können in einer Remote-Arbeitsumgebung gedeihen. Das Gleiche gilt wahrscheinlich nicht für einen Designer.“ Mit der Einführung von Impfstoffen in weiten Teilen Europas scheint für 2021 eine Rückkehr in die Büros bevorzustehen. In diesem neuen Klima stellt sich Fehlbaum Arbeitsplätze als einen Ort der Kameradschaft, des Austauschs und der Zusammenarbeit vor.
In den letzten Wochen beobachtete sie, wie sich die Vitra-Kantine zu einem sozialen Knotenpunkt für Catch-ups jenseits des Neun-Uhr-Kaffees und des Mittagessens entwickelte. „Was ist die Rolle der Arbeit? Ja, Arbeit bietet ein Gehalt und bringt hoffentlich Erfüllung“, sagt sie. „Aber sie bietet auch einen sozialen Kontext für viele von uns – in manchen Fällen den einzigen, den wir haben. Das ist eine Verantwortung, derer sich Unternehmen vor Corona vielleicht nicht bewusst waren.“
Vitras Antwort auf die veränderten Ansprüche an den Arbeitsplatz ist „The Club Office“ – ein Konzept, das seit letztem Sommer in Arbeit ist. „Das Club Office ist in erster Linie ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen“, erklärt Fehlbaum. „So, wie die Mitglieder eines Schachklubs oder eines Tennisklubs. Man geht aus freien Stücken dorthin, weil man dort sein möchte und sich mit anderen Menschen mit ähnlichen Interessen austauscht.“ Der Club ist in drei Bereiche aufgeteilt: Der erste ähnelt einer Lounge, in der man Kollegen treffen oder Kundenbesuch empfangen kann, der zweite Bereich ist halb öffentlich und für Workshops und Meetings gedacht; der dritte ist privat und soll von denjenigen genutzt werden, die Ruhe und Frieden benötigen – alles in allem ein Ort voller Sofas und umstellbarer Möbel mit zahlreichen Ladestationen und Zoom-freundlichen Plätzen. Einer der ersten Anwender dieses Modells ist Rasmus Rothe, Mitgründer des Venture-Studios Merantix, der Anfang April den Artificial Intelligence Campus in Berlin eröffnete.
Doch Fakt ist auch: Die Nachfrage nach Gewerbeimmobilien schrumpft. Die Experten der Credit Suisse prognostizieren, dass die Büroflächen in der Schweiz bis Ende 2021 um rund 700.000 m² abnehmen, da flexibles Arbeiten sein Stigma verliert. In den nächsten zehn Jahren könnte die Nachfrage sogar um 15 % sinken. Die britische Grossbank HSBC etwa kündigte bereits an, weltweit ihre Büros um 40 % zu verkleinern, und Finanzunternehmen wie Lloyds und Standard Chartered folgen mit ähnlichen Massnahmen. Das ist das neue Umfeld, dem sich globale Möbelhersteller – darunter auch Vitra – gegenübersehen. Welche räumlichen Lösungen werden benötigt? Welche Möbel werden dieser Art des Arbeitens gerecht? „Man wird weniger höhenverstellbare Schreibtische inklusive ergonomischen Stühlen sehen“, sagt Fehlbaum. „Also eigentlich das, wofür die meisten Büros in den letzten Jahrzehnten gestanden haben.“
Wird Design im Zuge dessen seine Relevanz verlieren? „Im Gegenteil: Die Ästhetik wird noch wichtiger werden“, behauptet Fehlbaum. „Ich denke, wir werden alle ein bisschen müde werden von dieser Health-first-Situation, in der der gesamte öffentliche Raum wie eine gefährliche Umgebung gestaltet ist. Ich glaube nicht, dass das für irgendjemandes Psyche gesund ist.“ Schon jetzt steigen die Verkaufszahlen der Vitra-Klassiker, die es schon seit rund 70 Jahren gibt, immer weiter – man denke nur an den Lounge Chair von Charles und Ray Eames oder den legendären Panton Chair (der erste Stuhl, der in einem Stück aus Kunststoff gefertigt wurde). „Es ist ein Objekt, das den Menschen ein Gefühl von Beständigkeit gibt in einer Zeit, in der viele Dinge völlig ausser Kontrolle zu sein scheinen“, so Fehlbaum.
Nora Fehlbaum
... absolvierte einen MBA und stieg 2010 in das Designunternehmen Vitra ein, bevor sie 2016 den Posten der CEO übernahm – nach ihrem Grossvater und ihrem Onkel repräsentiert sie die dritte Generation des Familienunternehmens Vitra.
Kontrolle und Gewissheit – auch ohne sie bleibt Fehlbaum optimistisch. „Ich nehme von der globalen Krise ein gewisses Gefühl von Mut mit. Wir kommen aus einer Zeit – gerade in der Welt der Innenarchitektur –, in der es an einem zukunftsorientierten und positiven Geist teilweise gefehlt hat“, sagt Fehlbaum. „Manchmal braucht man eine Krise, um eine Vision und ein Gespür für das zu entwickeln, was kommen soll. Hoffentlich wird sie uns das geben, ästhetisch wie funktional.“
Text: Olivia Chang
Fotos: Tom Ziora, Vitra
Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 3–21 zum Thema „Künstliche Intelligenz“.