Ökosystem Handel: Aus der Krise in die Zukunft

Eine Welt ohne Globalisierung ist heutzutage unvorstellbar. Doch so, wie das Ökosystem Handel in den letzten 40 Jahren funktioniert hat, wird es wohl nun nicht mehr sein: Die Coronakrise wies das System in eine neue Richtung. Wie sieht also die Zukunft des Handels aus? Ein Gastkommentar von Rainer Will.

Es ist für uns heutzutage eine Selbstverständlichkeit, in jedem Supermarkt Avocados zu finden. Dabei denkt kaum jemand darüber nach, wie weit sie gereist sind. Ohne Kollaboration, ohne moderne Logistik und ohne professionelles Supply Chain Management gäbe es keine Globalisierung. Österreich nimmt hierbei die Rolle des wichtigsten Logistikstandorts für Zentral- und Osteuropa ein. Die Branche beschäftigt mehr als 160.000 Menschen. Sie bildet gemeinsam mit der Landwirtschaft, der Industrie und dem Handel mit seinen 600.000 Beschäftigten das Rückgrat jener Wertschöpfungsketten, die unsere Wirtschaft am Laufen halten.

In den vergangenen 40 Jahren waren diese Wertschöpfungsketten von einer beispiellosen Dynamik geprägt. Technologische Innovationen, Automatisierung und Robotics ermöglichten Just-in-Time-Fertigung und Mass Customization. Das Ausgliedern von Produktionskapazitäten in asiatische Billiglohnländer wurde salonfähig und ebnete den Weg für den Aufstieg Chinas zur Supermacht. Das Reich der Mitte entwickelte sich im Rekordtempo zur Werkbank der Welt – und ist es bis heute geblieben. Jahrhundertprojekte wie die „Neue Seidenstrasse“ würden den Gütertransport auf der Strasse, der Schiene, zu Wasser und in der Luft revolutionieren, so der Tenor.

Und dann kam Corona. Was als lokale Epidemie in Wuhan begann, erfasste wenige Monate später auch Europa und die ganze Welt. Seit mehr als 100 Tagen befinden wir uns nun im Covid-Krisenmodus. Aus wirtschaftlicher Sicht zählt der Handel zu den am schwersten betroffenen Branchen: Im Schnitt rechnen die Handelsunternehmen heuer mit einem Umsatzrückgang von 32 %. Sie wollen ihre Investitionen um mehr als die Hälfte zurückfahren. Hinzu kommt: Nur jeder vierte Betrieb glaubt, dass die Umsätze 2021 wieder das Vorkrisenniveau erreichen. Wie sieht es auf Konsumentenseite aus? Der Handelsverband rechnet 2020 mit einem coronabedingten Rückgang der Haushaltsausgaben von 15 Milliarden €, 2021 dürften weitere elf Milliarden verloren gehen. Am stärksten hat Covid-19 die Handelssegmente Bekleidung, Schuhe und Möbel getroffen. Der Mode- und Luxusgüterbereich leidet darunter, dass die kaufkräftigen Touristen aus dem Ausland fehlen. Generell könnte der Handel – im Best-Case-Szenario, also ohne weiteren (regionalen) Lockdown, ohne Maskenpflicht beim Einkaufen und wenn die Gesundheitssituation der Bevölkerung so bleibt, wie sie ist – noch vergleichsweise glimpflich davonkommen, denn die Ausgabenrückgänge betreffen primär Investitions­güter und Dienstleistungen.

Es mag plakativ klingen, aber jede Krise bietet auch neue Chancen. Drei Entwicklungen werden sich durch Corona beschleunigen: Erstens hat die Bargeldnation Österreich Gefallen am bargeldlosen Bezahlen gefunden. Kontaktloses Bezahlen via NFC boomt – kürzlich wurde auf Initiative des Handelsverbands das Limit für NFC-Payment ohne PIN-Eingabe auf 50 € angehoben. Zweitens hat der Lockdown die Akzeptanz von Onlineshopping erhöht – in allen Branchen und Altersgruppen. Viele Händler haben versucht, den Internethandel auszubauen, damit konnten sie zumindest einen Teil ihrer Umsatzverluste auffangen; im Corona-Jahr 2020 werden die Ausgaben der Privathaushalte im E-Commerce um 17 % zulegen. Drittens erleben wir ein Umdenken auf Konsumentenseite: Faktoren wie Regionalität, Qualität und Nachhaltigkeit rücken stärker in den Vordergrund. Das ist eine Chance sowohl für die 13.000 heimischen Webshops als auch für den stationären Handel, mit Qualität „made in Austria“ zu punkten. Mehr als 4.500 regionale Webshops sind bereits im österreichischen Webshop-Verzeichnis „eCommerce Austria“ gelistet, und jeden Tag kommen neue hinzu.

Wie der Handel der Zukunft aussehen wird? Er wird digitaler sein und sich stärker online abspielen. Der Trend zu Omnichannel und Konnektivität wird sich ebenso fortsetzen wie der Siegeszug der Plattformökonomie. Die Bedeutung von E-Commerce-Marktplätzen wird weiter steigen. Big Data und künstliche Intelligenz werden eine hochpersonalisierte Kundenansprache ermöglichen. Auf der Fläche wird der Faktor Mensch erfolgsentscheidend bleiben – kompetente Beratung, Shopping als Erlebnis, die Schaffung einer Wohlfühlatmosphäre, damit kann der stationäre Handel punkten. Eines hat uns Corona auf jeden Fall gezeigt: Unser globalisiertes Wirtschaftssystem ist weit weniger stabil und resilient als vermutet. Wir sollten im Sinne der Versorgungssicherheit darüber nachdenken, Produktionskapazitäten aus Fernost nach Europa zurückzuholen.

 

Rainer Will
absolvierte sein Diplom an der Wirtschaftsuniversität Wien und war unter anderem Vorstandsmitglied bei Ecommerce Europe, einem Verband, der Unternehmen vertritt, die Waren und/oder Dienstleistungen online an Verbraucher in Europa verkaufen. Seit 2015 ist Will CEO des Handelsverbands Österreich.

Viele Menschen und Betriebe kämpfen zurzeit um ihr finanzielles Überleben. Wenngleich unsere Wirtschaft wieder schrittweise hochgefahren wurde, heisst das nicht, dass auch die Kaufkraft und unser Konsum sofort anspringen werden. Der Handel braucht die Gastronomie, beide brauchen den Tourismus und sie alle sind abhängig von den Entwicklungen auf den Weltmärkten. Wir müssen dafür sorgen, dass die Konjunktur in Österreich einen V-förmigen und keinen L-förmigen Verlauf nimmt.

Was es dafür braucht? Rasch zur Verfügung gestelltes Eigenkapital. Eine zeitnahe Auszahlung der Fixkostenzuschüsse. Eine Mehrwertsteuersenkung auf 16 % analog zu Deutschland. Die versprochene Lohnsteuersenkung ist ein erster wichtiger Schritt, um den Faktor Arbeit zu entlasten – weitere müssen folgen. Wir hören immer wieder, Corona sei ein Treiber für die digitale Transformation. Für Digitalisierung braucht es allerdings auch eine Kriegskasse. Jetzt ist der Zeitpunkt, um E-Commerce-Initiativen gezielt seitens des Staates zu fördern. So können wir KMU-Händlern den Aufbau krisenresilienter Vertriebskanäle ermöglichen. Und es braucht Fair Play. Daher sagen wir in Richtung Politik: Es wird Zeit, E-Commerce-Plattformen aus Drittstaaten in die Pflicht zu nehmen, am besten durch Einführung einer Plattformhaftung: Amazon, Wish und Co sollen für Produktfälschungen, die korrekte Entrichtung der Mehrwertsteuer und die Bezahlung der Abfallentsorgungsgebühren haften, wenn die gelisteten China-Händler nicht direkt in Anspruch genommen werden können. Wer in Österreich Gewinne erwirtschaftet, sollte auch hierzulande in die Sozialtöpfe einzahlen.

Last, but not least erfahren viele heimische Betriebe mangelnde Wertschätzung. Ich bin überzeugt, dass sich die Haltung gegenüber dem Unternehmertum nachhaltig ändern muss. Die Coronakrise war bislang keine Werbung, sich in Selbstständigkeit zu begeben, Mitarbeiter anzustellen und Verantwortung zu übernehmen. Mit einer stärkeren Verankerung der „zweiten Chance“ in den staatlichen Corona-Massnahmen und einer entsprechenden Dotierung könnten wir ein Signal setzen, das auch zeitgerecht wirken muss – wenn nämlich die Insolvenzregelungen wieder in Kraft gesetzt werden. Jetzt fixieren, 2021 davon profitieren.

Gastkommentar: Rainer Will
Illustration: Valentin Berger

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