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„Initial Coin Offerings“ – kurz ICOs – gelten für manche als die Zukunft der Kapitalmärkte. Doch der Markt, an dem Ideen und Unternehmen finanziert werden, steht vor zahlreichen Fragezeichen. Wie gehen die Regulierungsbehörden mit der neuen Art des Crowdfundings um? Und was bedeutet der Boom für Investoren?
Kryptowährungen gelten schon lange als „Wilder Westen“ der Finanzmärkte. Während aber Bitcoin diesem Image nach seiner Ankunft im Mainstream vielleicht nicht mehr ganz gerecht wird, hat die Szene schon den nächsten wilden Ritt vor sich – die Jagd nach Münzen. Denn der Hype rund um Initial Coin Offerings (ICOs) begeistert so einige – und verunsichert viele andere.
Das zeigt sich auch an den seltsamen Blüten, die die Szene treibt. Da machen Stars wie Paris Hilton für ICOs Werbung – und revidieren ihr „Endorsement“ nach zwielichtigen Vorwürfen rund um das durchführende Start-up (Lydian; Anm.) dann wieder. Da warnen Insider wie Ethereum-Mitgründer Charles Hoskinson vor -einer „tickenden Zeitbombe“. Und da verbietet die chinesische Regierung kurzerhand jegliche ICO-Aktivität im Land – offiziell, um Betrugsfälle zu vermeiden.
Zur Erklärung: ICOs stellen eine neue, weitgehend unregulierte Art der Unternehmens-bzw. Projektfinanzierung dar. In einer abgewandelten Form von Crowdfunding wird eine neue Kryptowährung – „Coin“ oder „Token“ – ausgegeben, die gegen bestehende wie Bitcoin oder Ether eingetauscht wird. Die Investoren erwerben damit Zugang zu den Funktionen und Services einer Blockchain-basierten Infrastruktur, unterstützen eine auf der Blockchain-Technologie basierende Idee oder hoffen, bei Erfolg des Projekts mit dem Weiterverkauf der Coins Gewinne zu erzielen. Das Feld wird von Insidern als Zukunft der Kapitalmärkte gesehen, klassische Börsengänge und Venture-Capital-Investoren kämen demnach gehörig unter Druck.
Dabei liegt noch einiges im Unklaren. Denn über welche Rechte Coins oder Tokens -verfügen (müssen), ist weitgehend undefiniert. Selbst der Begriff „Initial Coin Offering“ mit seiner Ähnlichkeit zum „Initial Public Offering“ (IPO) ist vielen Insidern ein Dorn im Auge. Denn während bei einem Börsengang erstmals (initial) und öffentlich (public) Unternehmensanteile (Aktien) verkauft werden, ist das bei ICOs nicht immer der Fall. (Um Verwirrungen zu vermeiden, verwenden wir für diesen Artikel den Begriff ICOs und wenden die Begriffe „Coin“ und „Token“ beliebig austauschbar an; Anm.).
Auch deswegen existieren ICOs noch weitgehend unreguliert. Doch gerade in diesem Hinblick ist derzeit so einiges in Bewegung. Auch Luka Müller, Partner bei MME Legal, plädiert für ein Umdenken in Form einer Namensänderung. Die Zürcher Rechtsanwaltskanzlei gilt als eine der global führenden in Sachen ICOs. Müller: „Der Begriff Initial Coin Offering impliziert, dass es sich immer um ein Finanzprodukt handelt. Das ist aber nicht der Fall – das sagen auch die Regulatoren. Wir (bei MME; Anm.) benennen es daher auch nicht ICO, sondern Token Generating Event – TGE. Und diese TGEs können öffentlich oder nichtöffentlich, initial oder nicht-initial sein.“
In die gleiche Kerbe schlägt Smith + Crown, ein auf Kryptowährungen spezialisiertes Analystenhaus: „Teams führen oft mehrere Finanzierungsrunden durch und verkaufen Tokens, die nicht im traditionellen Sinne einer ‚Coin‘ entsprechen. Viele Teams haben daher aufgehört, ihre Verkäufe als ICOs zu bezeichnen, und verwenden Begriffe wie ‚Token Sale‘, ‚Donation Event‘ oder ‚Software Sale‘.“
Trotz der Schwierigkeiten bei der Namensgebung wächst der Markt prächtig. Insgesamt wurden mit ICOs bisher weltweit rund 2,3 Milliarden US-$ eingenommen, mehr als die Hälfte davon allein in den ersten sieben Monaten des Jahres 2017. Zum Vergleich: Das ist mehr als das Volumen von klassischer frühphasiger VC-Finanzierung in Start-ups im gleichen Zeitraum. Dabei stellten laut der Onlineplattform CoinSchedule die zehn erfolgreichsten ICOs insgesamt rund eine Milliarde US-$ auf. Den Rekord hält Tezos, eine neue, „selbstheilende“ Blockchain, deren zugrundeliegende Schweizer Stiftung rund 230 Millionen US-$ von Investoren erhielt. Filecoin (Herkunft: USA), EOS (Cayman Islands), Bancor (Schweiz) und Status (Schweiz) sammelten jeweils zwischen 90 und 210 Millionen US-$ ein. Davon wurden bereits rund 600 Millionen US-$ alleine in der Schweiz eingesammelt. Auch in Österreich launchte mit Herosphere gerade der erste ICO des Landes.
Diese doch beachtlichen Zahlen sind insbesondere verwunderlich, als der Markt eigentlich erst in den Kinderschuhen steckt. Der erste ICO wurde 2013 von Mastercoin durchgeführt, das erste wirklich prominente Beispiel folgte 2014 mit der Ethereum Foundation. Die Stiftung nahm damals rund 2,3 Millionen US-$ ein – ein grosser Erfolg. Das Wachstum dürfte aber gerade erst beginnen. Im Moment investieren vor allem Blockchain-Insider in ICOs – etwa solche, die mit den Kursgewinnen von Bitcoin reich geworden sind. Doch das könnte sich ändern. „Es wird definitiv neues, frisches Kapital in den Markt fliessen. ICOs könnten die Zukunft der Kapitalmärkte darstellen. Im Gegensatz zu IPOs ist es für Investoren problemlos möglich, in ICOs zu investieren“, sagt Demelza Hays von der liechtensteinischen Fondsgesellschaft Incrementum. Sie beschäftigt sich seit geraumer Zeit intensiv mit der Rolle von Kryptowährungen im Asset Management.
Grundsätzlich lassen sich laut Hays drei Typen von Coins unterscheiden. Money-Coins wie Bitcoin oder Litecoin, Infrastruktur-Coins wie Ethereums Ether oder Tezos’ Tezzie sowie sogenannte „General Purpose Coins“, deren Angebot gerade jetzt stark im Wachsen begriffen ist. Während die ersten beiden dezentralisiertes Geld bzw. dezentralisierte Verträge darstellen, entsprechen General Purpose Coins mehr der zuvor beschriebenen Art des „neuen Crowdfundings“. Patrick Dai, Mitgründer von Qtum, einem in Singapur ansässigen Open--Source-Blockchain-Projekt, beschreibt die Motivation eines ICOs im Forbes-Podcast „Unchained“ folgendermassen: „Der ursprüngliche Ansatz ist: Ich habe eine gute Idee und will ein Open-Source-Projekt bauen, habe aber kein Geschäftsmodell. Ich benötige dazu also die Community, die mich unterstützt, mir quasi Geld spendet.“
Doch das schnelle Wachstum des Marktes könnte nicht nur Positives mit sich bringen. Denn mit der Wahrscheinlichkeit, schnelles Geld zu verdienen – die Renditen wirklich erfolgreicher ICOs betragen gerne mal mehrere Tausend Prozent –, steigen auch die Betrugsfälle. Und überhaupt steht hinter einem wichtigen Aspekt für einen funktionierenden Kapitalmarkt noch ein grosses Fragezeichen. Denn wie diese Art der Unternehmensfinanzierung reguliert werden soll, ist noch völlig unklar. Wertpapiere – also Securities – fallen grundsätzlich in die Zuständigkeit der jeweiligen Finanzmarktaufsicht. Ob Coins solche Wertpapiere darstellen, lässt sich aber nicht pauschal beantworten. Die US-amerikanische Securities and Exchange Commission (Aufsichtsbehörde; Anm.) äusserte sich kürzlich zu einem spezifischen ICO („The Decentralized Autonomous Organization – DAO“, die 2016 150 Millionen US-$ einnahm) zu diesem Thema. Es handle sich, so die SEC, bei den ausgegebenen Tokens um Securities, also Finanzmarktprodukte. Sie unterstehen der Aufsichtsbehörde und müssen reguliert werden.
Die Schweizer Finanzmarktaufsicht Finma argumentierte in einer Aussendung kürzlich in eine ähnliche Richtung. Während die Behörde Interviewanfragen zum Thema derzeitig ablehnt (Forbes stellte eine solche an Finma-Direktor Mark Branson) –, teilte sie in einer Pressemitteilung mit: „Aufgrund der teilweise grossen inhaltlichen Nähe von ICOs beziehungsweise Token-Generating-Events mit Vorgängen des traditionellen Finanzmarkts ist es wahrscheinlich, dass verschiedene ICO-Modelle in den Anwendungsbereich von zumindest einem dieser Finanzmarktgesetze fallen.“
Doch das Urteil gilt wiederum nicht für alle Coins oder Tokens. Überhaupt würde sich ein grundlegendes Problem ergeben, wenn alle ICOs automatisch als regulierungswürdiges Finanzprodukt gelten. Denn die Behörden, etwa die Schweizer Finma, die US-amerikanische SEC, die deutsche Bafin oder die österreichische FMA, haben schlicht nicht die Kapazitäten – und oft auch nicht das nötige Know-how –, um so viele neue „Coins“ zu regulieren. Derzeit betrachten die Regulatoren jeden Fall einzeln.
Hinzu kommt, dass die Crypto-Community eine geteilte Meinung zu haben scheint, ob und wie die Szene reguliert werden soll. So ging der Kurs der Kryptowährung Ether als Reaktion auf die SEC-Entscheidung, dass ICOs durchaus Wertpapiere sein könnten, zwischenzeitlich auf einen zehnprozentigen Tauchgang.
Am eindrucksvollsten und kompromisslosesten agierte in der Regulierungsfrage aber die chinesische Regierung. Peking verhängte am 4. September 2017 kurzerhand ein landesweites Verbot für jegliche ICO-Aktivitäten. Die Entscheidung hatte – und hat – weitreichende Folgen: Einnahmen aus in China durchgeführten ICOs müssen Investoren zurückerstattet werden, die Ankündigung führte zu Abverkäufen quer durch alle Kryptowährungen. Dass in China etwas geschehen musste, war vielen Beobachtern aber schon zuvor klar. Der Markt war ausser Kontrolle geraten. 100.000 chinesische Investoren gaben in kürzester Zeit rund 400 Millionen US-$ für ICOs aus. Dabei stand weniger der Glaube an die Blockchain-Technologie im Vordergrund, sondern die Suche nach dem schnellen Geld. Lili Zhao, Head of Global Partnerships bei Brickblock, einem Start-up, das Aktienhandel über die Blockchain anbietet, zu dem Thema: „Chinesische Investoren wollten Geld verdienen. Zu Beginn stieg der Wert einiger ‚Coins‘ um mehr als 1.000 Prozent an. -Investoren erwarteten dann Renditen dieser Grössenordnung – doch das ist nicht nachhaltig. Und es lockt Betrüger an.“
Die People’s Bank of China (PBOC), die chinesische Zentralbank, schätzte in einer Aussendung, dass rund 90 Prozent aller in China stattfindenden ICOs überhaupt nichts mit Blockchain-Projekten zu tun hatten. Tatsächlich versuchten neben zahlreichen Betrügereien auch ganz traditionelle Unternehmen plötzlich, über ICOs Kapital einzusammeln. Ein besonders skurriler Fall betraf ein Unternehmen, das das chinesische Dessert Mooncakes verkauft – und einfach mal einen ICO durchführen wollte.
Hinter dem Verbot dürfte für China jedoch mehr stecken als nur die Bekämpfung von Betrugsfällen. Denn der Grund für das ICO-Verbot in China hat mit der Szene selbst wenig zu tun. Vielmehr scheint China kein Interesse daran zu haben, unreguliertes Kapital aus dem Land fliessen zu lassen. Das gleiche Motiv brachte Peking bereits Ende 2016 dazu, die Schwelle für bewilligungspflichtige Auslandsinvestitionen chinesischer Unternehmen von 50 auf fünf Millionen US-$ zu senken. Einige Beobachter sehen das Verbot sowieso nicht als Fluch, sondern als Segen für ICOs. Lili Zhao: „Nach dem Verbot in China wird sich die Anzahl der Investoren, die mit ICOs spekulieren, reduzieren. Das ist gut für die Szene und macht Platz für all jene, die wirklich etwas erreichen wollen.“
Doch auch im Westen sind die Summen, die Start-ups mit ICOs verdienen, massiv gestiegen. Das beste Beispiel ist Tezos: Das Blockchain-Protokoll geht auf das Ehepaar Arthur und Kathleen Breitman zurück, zwei selbst ernannte Krypto-Anarchisten und Gründer des Unternehmens Dynamic Ledger Solutions. Das Projekt mit seinem Token „Tezzie“ (der in die -Kategorie „Infrastruktur-Coins“ fällt), sammelte 2017 230 Millionen US-$ ein. Tezos ist laut Eigenangaben eine „sich selbst korrigierende Blockchain“, die aus den Fehlern bestehender Protokolle wie Ethereum und Bitcoin lernen soll. Nachdem Schwächen in anderen Protokollen entdeckt und von Betrügern ausgenutzt wurden, entbrannten in den jeweiligen Communitys nämlich heftige Debatten über die Zukunft der Blockchains. Diese Streitigkeiten rund um die Governance der Protokolle eskalierten und führten sowohl bei Bitcoin als auch bei Ethereum schliesslich zu Spaltungen („hard forks“), wodurch von beiden Protokollen nun effektiv zwei Versionen existieren.
Diese Governance-Fragen, insbesondere jene bei Ethereum, brachten die Breitmans zum Nachdenken. Tezos soll solche richtungsweisenden Diskussionen um die Governance eines Blockchain-Protokolls vermeiden. Letztendlich soll das Protokoll es – stark vereinfacht – schaffen, sich selbst weiterzuentwickeln und Schwächen auszubessern. Experten beschreiben die Technologie als durchaus fortgeschritten. Doch obwohl die Qualität unumstritten scheint, mussten auch die Tezos-Erfinder Kritik einstecken. Einerseits, weil die Stiftung in der Schweiz nur wenige Wochen vor dem ICO gegründet wurde – obwohl die beiden Gründer in San Francisco leben und arbeiten. Das Newsportal „Finews“ spekulierte, dass hier das Schweizer Stiftungsrecht ausgenutzt werden sollte, um Steuern zu sparen. Luka Müller von MME hält diesen Vorwurf für nicht zulässig. „Das Schweizer Stiftungsrecht ist das unflexibelste der Welt. Es dient einzig dem Stiftungszweck – der durch eine Audit-Gesellschaft sowie die staatliche Aufsicht doppelt überprüft wird.“
Dass gerade in der Schweiz die Sensibilität bezüglich Scheinkonstrukten besonders gross ist, ist jedoch verständlich. Ein anderer Diskussionspunkt ist vermutlich aber viel legitimer – und für die Zukunft der ICOs auch viel relevanter: die Höhe der Entschädigung. Denn die Tezos-Technologie wurde von den Breitmans über Jahre hinweg entwickelt. Sie wollten ihre Technologie dann aber „Open Source“ stellen, sie also für die Community zugänglich machen. Die Gründer setzten daher vorab fest, dass 8,5 Prozent der ICO-Einnahmen an sie persönlich fliessen würden. Da der ICO ohne Cap stattfand, also kein maximaler Höchstbetrag definiert wurde, verdienten die Breitmans mit dem ICO rund 19 Millionen US-$. Dieses Geld will die Tezos-Stiftung nun nutzen, um das Unternehmen Dynamic Ledger Solutions zu kaufen, so die ICO-Unterlagen. Ein Exit im eigenen Haus quasi.
Dass die Breitmans für ihre Arbeit Geld erhalten wollen, ist natürlich legitim. Luka Müller – MME betreute Tezos – dazu: „Teams entwickeln jahrelang Technologien und überlegen sich dann, wie sie diese kommerzialisieren können. Das Tezos-Team wurde letztendlich für das Open Source-Angebot seiner Entwicklung entschädigt.“ Das sei nicht ungewöhnlich, sagt Müller. Einzig, dass die Entschädigung an der Gesamtsumme gemessen wurde, sei nicht ganz üblich. Für Müller birgt das Thema einige ganz grundlegende Fragen: „Wie messen wir die adäquate Entschädigung für eine Leistung? Wie bestimmen wir den fairen Preis?“
Ein Tezos nicht unähnliches Projekt – die Entwicklung einer „besseren Blockchain“ – verfolgt übrigens auch das in Liechtenstein angesiedelte Start-up Aeternity. Gründer Yanislav Malahov: „Aeternity ist eine neue, skalierbare Blockchain mit integriertem Oracle- und Governance-System. Unser Ziel ist es, möglichst viele Menschen zu ‚kryptofizieren‘.“ Das Start-up, dessen Gründer Malahov gemeinsam mit seinem Kollegen Nikola Stojanow zu den Forbes „30 under 30“ in Bulgarien zählt, sammelte insgesamt 24 Millionen US-$ ein. Damit ist Aeternity die grösste Kampagne Liechtensteins. Doch Malahov, der mit Aeternity nicht nur eine Konkurrenz für Ethereum und Co. sein, sondern tatsächlich die „am meisten angewandte Blockchain-Technologie erstellen“ will, wünscht sich mehr Freiraum für die Szene. „Es wäre wünschenswert, wenn die Crypto-Community die Chance bekommt, sich selbst zu regulieren. Dass sie etwa mittels Bewertungsplattformen und ‚Due Diligence‘--Initiativen eine wachsende Reife beweisen und zeigen kann, dass sie selbst in der Lage ist, die Spreu vom Weizen zu trennen. Ohne, dass von regulatorischer Seite zu harsche Einschnitte befürchtet werden müssen.“
Diese Grundauffassung wird auch anderorts vertreten. Ein Beispiel ist ein „ICO Code of Conduct“, den die in Zug ansässige Interessen-gemeinschaft Crypto Valley Association momentan ausarbeitet. Er soll Klarheit für Investoren, Regulierungsbehörden und Start-ups -schaffen. Doch ob es für eine effiziente (Selbst-)Regulierung nicht vorab klare Regulierungsvorschriften bräuchte, ist in gewisser Weise ein Henne-Ei-Problem.
Vielleicht ist das Kalkül der Zuger Community ja ein ganz anderes – nämlich, sich einen Vorsprung gegenüber anderen Hubs wie Singapur zu erarbeiten. So schreibt die CVA in -einer Presseaussendung, „dass die Branche von einem klaren Code of Conduct rund um Token Launches profitieren würde. Unternehmen wird geholfen, ihren rechtlichen und moralischen Pflichten nachzukommen und Investoren ein klares Verständnis der Risiken zu geben.“ Das wäre ein klares Signal, dass das Crypto Valley eine grössere Rechtssicherheit als andere Standorte bieten könnte. Denn klarerweise ist der Wettbewerb nach dem Verbot in China gross.
Doch Wettbewerb entfacht der ICO-Markt auch in einer anderen Hinsicht. Denn nicht nur die Venture-Capital-Szene, sondern auch traditionelle Börsengänge könnten Schwierigkeiten bekommen, sollte der Boom anhalten. ICOs vermeiden im Gegensatz zu Venture Capital eine starke Einflussnahme von Investoren, auch die Abgabe von Unternehmensanteilen entfällt in den meisten Fällen. Wie sehr die Start-up-Szene die Befriedigung geniesst, nicht mehr von Investoren abhängig zu sein, beschreibt Yanislav Malahov von Aeternity in klaren Worten: „Es ist bemerkenswert, was für ein Phänomen sich hier gerade wie ein Lauffeuer ausbreitet und die klassischen VCs (Venture Capitalists; Anm.) auf ihrem hohen Thron zum Schwitzen bringt.“
IPOs, also Börsengänge, unterliegen -deutlich strengeren Regulierungsvorschriften als ICOs. Luka Müller: „Ich traue mich zu sagen, dass die IPO-Industrie sich verdammt warm anziehen muss. Diese Prospekte, die mehr als 150 Seiten umfassen, will doch niemand mehr lesen.“ In der Tat ist die Papierflut bei ICOs gegenüber IPOs deutlich reduziert. So betrug der erste Prospectus (begleitendes Dokument für Börsengänge) zum Börsengang der Snapchat-Mutter Snap satte 250 Seiten. Das Konzeptpapier von Tezos umfasste hingegen lediglich 20 Seiten.
Auch die Finanzierungs- und Investitionsschwelle für Investoren spielt in der Frage eine nicht zu verachtende Rolle. Bei ICOs -hätten auch kleinere Volumen die Möglichkeit, -finanziell mitzumischen: „Um in einen IPO zu investieren, benötigt man in den USA 250.000 US-$ Jahreseinkommen sowie eine Million US-$ Nettovermögen. In ICOs kann hingegen jeder investieren – und dadurch Ideen finanzieren.“ Auch für Start-ups ist ein ICO deutlich billiger. Ein Börsengang in den USA kostet rund 3,7 Millionen US-$ an Zeichnungsgebühren, die typischerweise an Unternehmen wie Goldman Sachs fliessen. ICOs lassen sich hingegen nahezu kostenlos durchführen.
In absoluten Zahlen sieht die Sache jedoch (noch) ganz anders aus. Laut der Wirtschaftsanwaltskanzlei Baker McKenzie gab es in den ersten sechs Monaten 2017 101 IPOs mit einem Gesamtvolumen von 22,3 Milliarden US-$ – mehr als das Zehnfache des mit ICOs eingesammelten Kapitals im gleichen Zeitraum. Insider, auch Demelza Hays, sind neben der Kostenfrage aber vor allem von den ideologischen Möglichkeiten angetan, die der ICO-Markt ihnen eröffnet: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Kapitalmärkte ist es möglich, dass jeder in Ideen investieren kann – ganz ohne Intermediäre. Wir sehen hier die Zukunft der Kapitalmärkte!“
Trotz der Dynamik ist aus heutiger Sicht schwierig abzuschätzen, wie sich der Markt entwickeln wird. Hays rät interessierten -Investoren, sich die Szene gut anzusehen – dabei jedoch Vorsicht walten zu lassen: „Investoren müssen sich gut informieren und ihre Due Diligence durchführen. Ein Grossteil der stattfindenden ICOs sind noch immer Betrugsfälle.“
Diese sind manchmal recht billig ausgestaltet, wenn Betrüger etwa einfach die Unterlagen von erfolgreichen ICOs – etwa Tezos – kopieren. Doch andere sind hier schlauer und tarnen ihre Betrügereien so, dass nur absolute Experten sie erkennen. Zudem hat der ICO-Markt nicht nur zahlreiche Charakteristika einer Blase – sondern auch keinerlei rechtliche Basis. Denn wenn Coins gekauft werden, um später für Gewinn weiterverkauft zu werden, unterscheidet sich das nicht wesentlich vom Investieren in Aktien. Doch die Rechtslage ist unklar. Hays: „Coins sind rechtlich nicht bindend. Investoren müssen sich das immer vor Augen führen. Die Risiken sind da, doch die Szene bietet zahlreiche Möglichkeiten. Mehr als ein Prozent seines Portfolios sollte man jedenfalls aber nicht in ICOs oder auch Krypto-währungen investieren.“
Wer im ICO-Markt auf der Suche nach Renditen à la Bitcoin ist, braucht jedoch eine enorm gute Nase. Die meisten ICOs verlieren Geld, nur einige wenige Ausreisser gehen durch die -Decke. Viel eher sollten sich Investoren auf die Suche nach guten Ideen begeben und hoffen, einen „Star“ gewählt zu haben. Denn mit ICOs reich zu werden, hat für Blockchain-Unerprobte mehr Casino- als Asset-Management-Charakter. Und wenn Regulierungsvorschriften strenger werden oder Liquidität plötzlich austrocknet, sitzt man womöglich auf unverkäuflichen Assets – die dann klarerweise ihren Wert verlieren. Einen guten Blick ist der Markt aber dennoch wert. Denn es ist tatsächlich denkbar, dass ICOs in der Zukunft der Kapitalmärkte ein grosses Wort mitsprechen werden. Bis dahin sind zwar noch einige Fragen zu beantworten, unterhaltsam wird es aber allemal. Denn die Goldsuche im Wilden Westen mit seinen Gaunern und Helden war schon immer spannend. Da bilden auch Finanzmärkte keine Ausnahme.