Nowhere like Katz’s

In Manhattans Lower East Side betreibt Jake Dell in der fünften Generation Katz‘s Deli – hier wird das wohl berühmteste Pastrami-Sandwich der Welt verkauft. Jedes Jahr pilgern Tausende von Touristen zur Ecke Ludlow und Houston zu dem Restaurant aus dem Film „Harry und Sally“, doch auch New Yorker lieben das dick belegte Brisket-Sandwich. Dem jungen Besitzer gelingt eine Gratwanderung zwischen Tradition und Moderne – wie, hat er uns bei einem Besuch erklärt.

„Who’s next?“ Der Mann mit dem ­Papierhut und dem „Katz’s Deli“-Shirt unter dem Schild „Cutter 3“ schaut seinen nächsten Kunden etwas grimmig an. Er ist hinter dem Tresen ­immer in Bewegung, denn es ist Mittagszeit – der Laden brummt, die Schlangen bei den acht Cuttern sind lang. Den Klassiker will der Kunde, bitte, das Pastrami-Sandwich. Mit einer Fleischgabel pikst der ­Cutter das Stück gepökeltes Rindfleisch auf, schneidet es mit einem scharfen Messer in dünne Scheiben und stopft es grosszügig zwischen zwei Brotscheiben. Das geht schnell und sieht fast ein bisschen lieblos aus, ist aber Kunst. Einige der Cutter machen diesen Job schon seit Jahrzehnten. Der berühmte Arbeitgeber: Katz’s Deli auf der Lower East Side in Manhattan, New York City, an der Ecke East Houston (sprich: Hausten) Street und Ludlow.

Katz’s ist eine New Yorker Institution. Tische und Stühle stehen dicht an dicht, um den Hunderten von Gästen Raum zu geben, rechts liegt die Theke mit den acht Cuttern. In den grossen Fenstern zur Houston Street hängen grosse gepökelte Würste; die Wände sind mit dunklen Holzpaneelen verkleidet und bedeckt mit gerahmten Fotos – Erinnerungen. Davon gibt es hier jede Menge, zum Beispiel jene an den Dreh der berühmten ­Szene aus „Harry und Sally“, in der Meg Ryan ein Pastrami-Sandwich isst und einen Orgasmus schauspielert.

Was für die Deutschen Pommes und Currywurst ist, ist für den New Yorker sein Pastrami-Sandwich – Pastrami ist besonders lang haltbares Rindfleisch, das in mehreren Arbeitsschritten (Pökeln, Würzen, Räuchern) haltbar gemacht wird. Weit verbreitet ist das New York City Style Pastrami mit der würzigen Pfeffer-und-Koriander-Mischung. „Der Bestseller bei uns“, erklärt Deli-Besitzer Jake Dell – dazu gibt’s eine Schale eingelegter Gurken.

Es herrscht ein ohrenbetäubendes Grundrauschen von Hunderten von Touristen und New Yorkern, die sich um die einfachen Tische drängeln. An vielen sitzen ganze Familien, dann wiederum speisen ­einige Gäste alleine, haben sich an den Rand der Halle zurückgezogen, lesen Zeitung oder auf ihrem Smartphone. Das ist das Besondere hier: New Yorker Stammgäste – Wall-Street-Banker, Bauarbeiter und Pensionisten – frequentieren das Lokal ebenso wie Touristen aus aller Welt. An manchen Tagen essen hier 3.000 Menschen. Es hänge aber auch von der Jahreszeit ab, sagt Dell: „Im Januar und Februar sind fast nur New Yorker da, im Dezember sind es fast nur Touristen. Mein 17-Uhr-Publikum an einem Freitag sind New Yorker. Wir New Yorker haben keine Zeit für Quatsch, wir müssen los. Weisst du, was ich meine? ‚Also, let’s go. Gib mir mein Sandwich. Ich muss los!‘“ Dell spricht liebevoll über seine „Fellow New Yorkers“, die manchmal völlig zu Unrecht unhöflich genannt werden – sie sind lediglich in Eile in der Stadt, die niemals schläft.

Dell sagt, er habe aber auch Stammgäste aus Übersee, aus Singapur zum Beispiel. Das erklärt den Singsang unterschiedlicher Sprachen im Restaurant. Am Eingang versucht ein Mitarbeiter gestikulierend und rufend den Überblick zu behalten und verteilt kleine lila Billets, auf denen die Bestellung später notiert wird. Man zahlt beim Hinaus­gehen, und so darf ihm niemand durch­rutschen. Zur Mittagszeit wird es aber richtig voll – und die Menschen haben Hunger.

Ein sauberer Biss ins Pastrami-Sandwich von Katz’s Deli ist gar nicht so einfach, denn das zart geschnittene Fleisch stapelt sich höher als ein Burger. Wer kein Fleisch isst, kann eine Erbsensuppe oder Matze­knödelsuppe essen. Dazu gibt es Cola oder Bier. Katz’s ist ein Deli, also eine Mischung aus Delikatessengeschäft, Restaurant und schnellem Mittagstisch, und verkauft Würstchen und Suppen, Pastrami- und Brisket-Sandwiches. Das Besondere: Das Fleisch wird ganz frisch zwischen die Brot­scheiben geschnitten.

Besitzer Jake Dell geht zur MIttagszeit gerne herum und schaut nach den Kunden. „Ich bin der Hüter ihrer persönlichen Katz´s Geschichten.“

Die Tradition reicht weit zurück: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten in der Lower East Side Millionen neu zugewanderter Familien. Dies und der Mangel an öffentlichen und privaten Verkehrsmitteln führten zu einer soliden Gemeinschaft, sodass Katz’s zu einem zen­tralen Treffpunkt wurde. Freitags versammelte sich die Nachbarschaft, um Würstchen und Bohnen zu essen, eine Katz’sche Tradition. In Katz’s Deli treffen sich das Jiddische (Matzoh Ball Soup!) und das alte New York, deswegen klingt und schmeckt so vieles sehr deutsch (Frankfurter!) und gleichzeitig nach der Lower East Side des 19. Jahrhunderts. Das Unternehmen ist seit 1888 in Familienbesitz, wenn auch durch wechselnde Familien.

Jake Dell, gerade Anfang 30, ist die dritte Generation seiner eigenen Familie, die fünfte insgesamt, die den Laden führt. Er geht in der Mittagszeit gerne von Tisch zu Tisch und spricht mit den Gästen: Was ist besonders lecker, wo hakt es? Auch heute macht er seine Runde. Im Gespräch sitzen wir an einem der Tische im Deli, Dell ist jeden Tag hier und immer mittendrin. Im zehnten Jahr ist er nun der Chef; schon seine Kindheit hat er hier verbracht. „Jeden Geburtstag habe ich hier ge­feiert“, erinnert er sich. „Wenn wenig los war, sassen wir mit meinen Klassenkameraden, etwa zehn oder elf von uns, an einem dieser Tische hier im hinteren Bereich und assen zu Mittag. Ich hatte hier meine Bar-Mizwa, als ich 13 war; wir schlossen das Restaurant für diesen Tag. Das hier war die Tanzfläche – der DJ hatte sich gleich da aufgebaut (zeigt auf den Speiseraum, Anm.). Ich bin in diesem Geschäft aufgewachsen. Für mich war es einfach nur ‚das Restaurant‘. Es ist der Ort, an dem mein ­Vater gearbeitet hat, der Ort, an dem mein Grossvater gearbeitet hat.“ Sein Grossvater sprach fliessend Jiddisch und konnte deshalb auch mit Deutschen und Russen ­kommunizieren, wenn auch mehr schlecht als recht. „Niemand wusste, dass er kein Deutsch sprach, aber er tat so, als ob, nur mit einem starken Akzent. Trotzdem waren die Leute beeindruckt“, sagt Dell und lacht. Diese Erinnerungen kommen ihm jeden Tag ­wieder neu, wenn er den Laden zu Mittag betritt.

Dass er nun selbst Besitzer und Chef ist, hat er selbst nicht unbedingt so kommen sehen. Er zog als junger Mann nach Boston, wollte Medizin studieren. Dann sah er jemanden in der Cafeteria mit einem Katz’s-­Deli-T-Shirt. „Ich fragte ihn: ‚Oh, Sie sind aus der Stadt, ja?‘ Er sagte: ‚Nein, ich bin aus Kentucky.‘ Und ich sagte: ‚Wie zur Hölle kennen Sie dann mein Restaurant?‘ Das war ein selt­samer Moment für mich.“ Es habe ­etwas ge­dauert, aber dann sei ihm klar geworden, dass das Deli seiner Familie auf der Lower East Side etwas Magisches habe und „ein ganz besonderer Ort“ sei.

„Es ist das Essen, die Atmo­sphäre und die Nostalgie, die ­lange Geschichte. Ich habe begonnen zu sehen, wie glücklich die Leute hier sind. Es bedeutet mir viel, Kunden zu treffen und ihre Geschichten zu verstehen. Es gab auch den Moment, in dem ich dachte: ‚Wenn ich es nicht mache, dann wird es Katz’s mög­licherweise bald nicht mehr geben – und das wäre traurig!‘ Ich habe die Verpflichtung, dieses Erbe und diesen Ort zu bewahren. Und das nehme ich nicht auf die leichte Schulter. Das ist etwas, was ich tun möchte. Es war also eine sehr aktive Entscheidung, diesen Ort zu schützen; und die Geschichten, die mit diesem Ort verbunden sind. Das ist ehrlich gesagt das Schönste an diesem Job: dass jeder eine Geschichte hat. Jeder hat ­seine eigene Katz’s-Geschichte, und ­jeder möchte mir diese Geschichte erzählen, und ich bin der Hüter dieser ­Geschichten“, erzählt Dell.

Geschichte quillt in Katz’s Deli aus jedem Foto an der Wand, leuchtet aus den Original-Neonschildern und tropft aus den Senf- und Ketchup­flaschen, die auf jedem Tisch stehen. Während des Zweiten Weltkriegs dienten die drei Söhne der damaligen Besitzer in der Armee, und wie viele Eltern schickten sie ihren Söhnen Essen. Damals wurde der Firmenslogan „Send A Salami To Your Boy In The Army“ geboren.

Doch die Geschichte beginnt schon weit vorher. Zwischen 1881 und 1925 wanderten fast drei Millionen Juden in die Vereinigten Staaten ein. Die meisten zogen an die Lower East Side. Dort entstand eine lebhafte Theaterszene. In der Blüte­zeit gab es mehr als 50 jiddische ­Theater in New York, in denen Stars jüdisches und nicht jüdisches Publikum bespielten. In dieser Zeit war das Restaurant ständig mit Schauspielern, Sängern und Komödianten aus den vielen Theatern an der 2nd ­Avenue und dem Nationaltheater in der ­Houston Street gefüllt. Noch immer hängen alte ­Fotos aus dieser Zeit an den Wänden des Delis.

Das Pastrami Sandwich ist eine New Yorker Leibspeise. Es wird oft serviert mit einem Schüsselchen saurer Gurken.

1888 gründeten die Iceland-Brüder ein kleines Feinkost­geschäft mit dem Namen Iceland Brothers. 1903 stiess Willy Katz dazu und sie änderten den Namen des Ladens ­offiziell in Iceland & Katz. Willys Cousin Benny schloss sich ihm 1910 an und kaufte die beiden Brüder raus, um offiziell Katz’s Delicatessen zu gründen. Katz’s Deli wurde während des Baus der U-Bahn auf die ­andere Strassenseite an seinen heu­tigen Standort verlegt. Auf dem leeren Grundstück in der Houston Street wurden Fässer mit Fleisch und Essiggurken gelagert, bis 1946 bis 1949 die heutige Fassade des Geschäfts hinzugefügt wurde.

Harry Tarowsky kaufte sich 1917 in die Partnerschaft ein. Der ­nächste Besitzerwechsel fand statt, als ­Willy Katz verstarb und sein Sohn Lenny das Geschäft übernahm. In den späten 1970er-Jahren verstarben sowohl Benny Katz als auch Harry Tarowsky und überliessen den Laden Bennys Schwiegersohn Artie Maxstein und Harrys Sohn Izzy Tarowsky.

Mitte der 1980er-Jahre ­musste die neue ­Eigentümergeneration ­jedoch feststellen, dass sie keine ­eigene Familie hatte, der sie das Geschäft hätte überlassen können. Damals fand der Wechsel zur ersten Dell-Generation statt. Der langjährige Freund und Gastronom Martin Dell, sein Sohn Alan (der Koch und Manager in einem benachbarten Feinkostladen war) und Schwiegersohn Fred Austin traten 1988, zum 100-jährigen Bestehen des Ladens, offiziell in die Partnerschaft ein.

Jake Dell stieg Ende 2009 offiziell in das Geschäft ein und ist derzeit für alle Abläufe verantwortlich. Er ehrt die lange Tradition: An den Wänden flimmern Neonschilder aus den 50er-Jahren; teilweise bewerben sie Bier, das gar nicht mehr gebraut wird. Dell hat nur die Toiletten modernisiert, sonst hat er das Restaurant weitestgehend unangetastet gelassen; vor allem aber das Essen: „Das Essen ändert sich nie“, sagt Dell.

Katz’s soll gleich bleiben, eine „Pocket of Tradition“ im sich stets wandelnden New York, sagt Dell. „Was ich an New York liebe, ist, dass es sich ständig verändert und weiter­entwickelt. Ich habe mit ­Ausnahme von vier Jahren mein ganzes ­Leben hier gelebt, also lebe ich jetzt seit rund 30 Jahren in der Stadt – und ich habe nicht das Gefühl, die ­ganze Stadt zu kennen. Das ist so reizvoll und aufregend lebendig!“ Das gebe ihm Leben; es solle aber nicht heissen, dass es nicht wichtig sei, dass es auch eine gewisse Tradition gebe. Dell: „Das ist, was wir sind und was wir tun. Wir sind Teil einer Tradition in einem Meer des Wandels. Ich denke, es ist wichtig, diese Traditionen zu bewahren – und dass bestimmte Leute das tun, während andere Leute lustige und kreative, aufregende Dinge tun, um uns weiter voranzutreiben.“

Dell hat trotzdem genug Spielraum gefunden, um Neues zu probieren. Seit der Pandemie liefert Katz’s innerhalb von New York City, bietet Catering an und hat einen kleinen Shop in Brooklyn geöffnet, „ein kleiner Imbiss für Stammgäste. Es ist nur ein ‚Grab and go go‘. Es gibt keine Sitzplätze.“ Typisch New York.

„Business, knock on wood, is good“ – seine Buchhaltung macht Dell teilweise wie früher mit Stift und Papier. Er ist verantwortlich für 200 Mitarbeiter. Katz’s versucht ­ständig, zu expandieren. Die USA seien ein Markt, den es sich lohne, anzugreifen, sagt Dell, mit mehr als 300 Millionen Einwohnern – das wären 300 Millionen Sandwiches. „Wir sind zwar nicht in der Lage, 300 Millionen Pakete zu verschicken, aber wir werden das schon schaffen. Danach ­könnte man anfangen, auch inter­nationale Optionen zu erforschen. Kanada haben wir schon geschafft; in der EU gibt es noch Hürden.“

Eine nächste Generation gibt es übrigens auch schon: Dells Tochter Laylam war schon zweimal im Katz’ Deli zu Gast – Jake Dell sagt, sie war etwas überfordert, aber von den Cuttern fasziniert. „Es hat ihr ­gefallen. Sie wird hier genauso ­aufwachsen wie ich, Geburtstage feiern und nach der Schule Zeit hier verbringen. Wenn sie hier arbeiten will, toll; wenn nicht, respektiere ich das auch. Sie wird aber jedenfalls ein Teil dieses Ortes sein!“

An manchen Tagen speisen hier mehrere tausend Menschen über den Tag verteilt.

Jake Dell hat den mehr als 100 Jahre alte Katz´s Deli vor etwa 10 Jahren übernommen. Das Essen und das Ambiente sind unverändert, aber er expandierte nach Brooklyn und baut einen Lieferdienst auf. Seine Tochter Layla ist die vierte Generation seiner Familie, die in dem Restaurant aufwächst.

,
Deputy Editor in Chief

Up to Date

Mit dem FORBES-NEWSLETTER bekommen sie regelmässig die spannendsten Artikel sowie Eventankündigungen direkt in Ihr E-mail-Postfach geliefert.