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Sebastian Thrun gilt als Pionier in den Bereichen autonomes Fahren und KI. Nachdem er an der Carnegie Mellon University und an der Stanford University KI-Labore aufgebaut hatte, gründete er X, ein Forschungslabor von Google – und anders als viele andere Forscher, die in dem Bereich zu grösserer Vorsicht aufrufen, ist Thrun sehr optimistisch, was die Zukunft von KI angeht.
Selbstfahrende Autos, fliegende Taxis, die Google-Brille: Der Wissenschaftler und Informatikprofessor Sebastian Thrun war bereits an zahlreichen Projekten beteiligt; viele davon hat er geleitet. Zurzeit arbeitet er als ausserordentlicher Professor an der Stanford University, wo er unter anderem an probabilistischer Robotik forscht, und ist Chairman und Mitgründer der Online-Universität Udacity. Laut Google Scholar wurde er über 150.000 Mal zitiert und hat einen h-Index (eine Kennzahl für die weltweite Wahrnehmung eines Wissenschaftlers in Fachkreisen) von 159.
Aber Thrun arbeitet nicht nur im Labor, er ist auch Entrepreneur. Auf die Frage, wie viele Unternehmen er gegründet oder mitbegründet hat, antwortet der Deutsch-Amerikaner bescheiden: «Nicht so wahnsinnig viele. Ich würde sagen: an die zehn.» Er baute auch das Google-Forschungslabor X auf. «Ich habe drei Karrieren hinter mir», sagt Thrun. «Die erste war die wissenschaftliche, die zweite die bei der Grossfirma Google und die dritte war bei Kleinstfirmen, in denen ich mit zehn Leuten gearbeitet habe.» Thrun hatte seine Nase auch immer im Thema KI. Er sei der erste Deutsche gewesen, sagt er, der an einer Connection Machine arbeiten durfte; diese Supercomputer der 1980er und 1990er waren ursprünglich für Anwendungen im KI-Bereich gedacht, auch wenn sie später mehr in den Computerwissenschaften genutzt wurden. «Mein Arbeitsschwerpunkt damals waren neuronale Netzwerke – quasi das, worum sich heute vieles dreht, aber 30 Jahre zu früh.»
Doch wie kommt ein Deutscher dazu, bei Google an selbstfahrenden Autos zu forschen und fliegende Taxis zu bauen? Und was denkt Thrun über die aktuellen Entwicklungen in der KI?
Thrun wurde 1967 in Solingen geboren. Nach dem Abitur studierte er medizinische Informatik an der Universität Hildesheim. Er hatte ein «grosses Interesse am menschlichen Geist und der menschlichen Intelligenz» und besuchte deshalb nicht nur Informatikkurse, sondern auch Kurse zu Medizin, Philosophie, Psychologie und Biologie. «Ich habe mich auf künstliche Intelligenz fokussiert, speziell auf neuronale Netzwerke», erzählt Thrun, der später seine Diplomarbeit über letzteres Thema schrieb. «Das war für mich die konkreteste Art, zu verstehen, wie Menschen Entscheidungen treffen, ihr Umfeld wahrnehmen, wie ihr Gehirn funktioniert.»
Neuronale Netzwerke sind Modelle für maschinelles Lernen, die von der Struktur des Gehirns inspiriert sind. Sie eignen sich besonders für Aufgaben wie prädiktive Modellierung oder KI. Diese Netzwerke können aus ihren Erfahrungen lernen und Schlussfolgerungen aus komplexen Informationen ziehen. Auch Large Language Models wie Open AIs Chat GPT sind auf Basis neuronaler Netzwerke aufgebaut.
In den 1980ern, als Thrun studierte, war diese Forschungsrichtung aber eine Nische. Thrun: «Das war damals noch kein sehr grosses Thema. Die meisten KI-Forscher gingen davon aus, dass das Gehirn eine Art logische Maschine ist, der man die richtigen Regeln vorgeben muss, damit sie in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen.» Auch die Datenmengen und die Finanzierung in die KI-Forschung waren damals auf einem ganz anderen Niveau. Laut Our World in Data investierten Unternehmen 2013 – einige Jahre nachdem Thrun anfing, in dem Bereich zu forschen – 17 Mrd. US-$ in KI; 2021 waren es über 270 Mrd. US-$.
1995 promovierte Thrun und ging als Assistant Professor an die Carnegie Mellon University in Pennsylvania, USA, wo er bereits zuvor ein Auslandssemester gemacht hatte. Dort baute der Forscher den Studiengang für maschinelles Lernen auf. Acht Jahre später bot ihm die Stanford University eine volle Professur an. Thrun wechselte nach Kalifornien, wo er damit beauftragt wurde, das Stanford Artificial Intelligence Lab (SAIL) aufzubauen. «Mein erster Job war, der KI in Stanford ein neues Zuhause zu geben», so Thrun. «Es gab mehrere Professoren, die in dem Sektor gearbeitet haben, aber die waren alle über die Uni verstreut.» Seine Aufgabe war es, sie alle zusammenzubringen und die Forschung zu leiten. Der Professor unterrichtete dort auch Sam Altman, den Gründer von Open AI. «Ein sehr cleverer Typ», sagt Thrun über ihn knapp.
«Im Stanford Artificial Intelligence Lab habe ich auch Sam Altman, den
Gründer von Open AI, unterrichtet. Ein sehr cleverer Typ.»
Sebastian Thrun
Zwei Jahre nach seinem Start in Stanford im Jahr 2005 gewann Thrun mit seinem Team die DARPA Grand Challenge, einen Wettbewerb der Defense Advanced Research Projects Agency des US-Verteidigungsministeriums. Dadurch sollte die Entwicklung vollautonomer Fahrzeuge vorangetrieben werden. In der Grand Challenge 2004, dem ersten Jahr, in dem der Bewerb ausgetragen wurde, mussten die Gefährte 150 Meilen durch die Mojave-Wüste fahren. Das Preisgeld für den ersten Platz betrug eine Mio. US-$. Keines der über 100 Teams schaffte die Route. Am weitesten kam das Team von Thruns ehemaligen Kollegen an der Carnegie Mellon University: Deren Fahrzeug «Sandstorm» schaffte rund 5 % der Strecke, bevor es vom Pfad abkam und in ein Hindernis krachte.
Ein Jahr darauf wurde das Preisgeld verdoppelt, wieder mussten die Teilnehmer durch die Mojave-Wüste fahren. 195 Teams nahmen teil, fünf davon schafften die ganze Strecke, vier davon in unter zehn Stunden. Thruns Team nahm mit dem modifizierten VW Touareg «Stanley» teil. Er fuhr die Strecke in knapp unter sieben Stunden und gewann so den ersten Platz.
Knapp dahinter waren wieder die Forscher der Carnegie Mellon University: Sie belegten den zweiten (Zeit: 7:05) und dritten Platz (7:14). Doch zwischen ihren Autos und «Stanley» gab es einen fundamentalen Unterschied: «Sie haben die gesamte Wüste mit Karten belegt und Satellitenbilder benutzt, die dem Roboter vorzeigen, wie er fahren muss», so Thrun über die Konkurrenz. «Wir haben maschinelle Lernverfahren eingesetzt. Das Fahrzeug hat sich selbst trainiert. Es hat sich selbst beigebracht, wie man fährt, wie man Sensoren interpretiert. Sogar während des Rennens hat es gelernt – das war die Geburtsstunde des modernen selbstfahrenden Autos», so Thrun. Viele der Teilnehmer sind auch heute noch führend in diesem Feld.
Im Jahr 2009, sechs Jahre nachdem er seine Professur in Stanford angetreten hatte, wechselte Thrun in den Privatsektor. Er hatte bereits davor während eines Sabbaticals ein Unternehmen gegründet, das später von Google gekauft und umbenannt wurde – in Google Street View. Nun heuerte Larry Page ihn an, um Google X aufzubauen, Googles Inkubator für Moonshot-Projekte, das heute nur noch X heisst. Das erste dieser Projekte sollte ein selbstfahrendes Auto werden. «Wir haben ein Projekt gestartet, das damals Chauffeur hiess, heute heisst es Waymo», so Thrun. Es gab bereits Autos, die von selbst auf Autobahnen fahren konnten, doch Thrun brachte einige seiner ehemaligen Kollegen an Bord – und «dann haben wir das erste selbstfahrende Auto gebaut, das auch auf öffentlichen Strassen in Innenstädten fuhr», so Thrun. Die Technik dahinter war eine ähnliche wie die, mit der «Stanley» die DARPA Grand Challenge gewann: Anstatt zu versuchen, dem Auto alle Verkehrsregeln beizubringen, fütterten Thrun und seine Kollegen dem Auto Daten. Basierend auf Wahrscheinlichkeiten konnte es so auf der Strasse berechnen, wie ein Mensch in einer bestimmten Situation fahren würde.
Diese Herangehensweise, die mehr auf Statistik setzt, war deutlich effektiver, als dem Auto Verkehrsregeln beizubringen. Waymo wurde 2016 (damals war Thrun nicht mehr an Bord) eine eigenständige Firma. Die selbstfahrenden Autos, deren Technik laufend weiterentwickelt wird, fahren heute in San Francisco und Phoenix als Taxis. Doch dafür, dass Tech-Firmen – von Google über Uber bis hin zu Apple – schon seit Jahren versprechen, selbstfahrende Autos zur Norm zu machen, ist das eine schwache Bilanz. Laut Thrun ist die Technologie einerseits noch zu teuer, um sie im grossen Stil einzusetzen; andererseits machten es Edge Cases (Ausnahmefälle) lange Zeit schwierig, solche Autos sicher einzusetzen. Trotz der schlechten Erfolgsbilanz ist Thrun optimistisch: «Ich glaube, dass sie auch bald nach Europa kommen, auch wenn die führenden Unternehmen im Moment in den USA und in China sitzen.»
Nicht alle von Thruns Projekten für X wurden so gross wie Waymo: Ein Prototyp der Augmented-Reality-Brille Google Glass kam 2013 auf den Markt, 2015 wurde der Verkauf wieder eingestellt. Google produzierte zwar ein Nachfolgemodell für Industrieunternehmen, doch auch dessen Verkauf wurde 2023 gestoppt. Ein weiteres Projekt mit wechselhaftem Erfolg war Kitty Hawk: 2010 von Thrun gegründet sollte das Unternehmen autonome Fluggeräte bauen. Es brachte mehrere Produkte auf den Markt, war aber nicht profitabel. Kitty Hawk wurde später an Boeing verkauft.
Heute ist Thrun in dem Start-up Sage AI Labs involviert. Das Unternehmen möchte einen KI-Assistenten bauen, der Menschen beim Einkaufen von Kleidung hilft. «Ich kann unserem Shopping Assistant sagen: ‹Ich bin eine Frau und fliege nächste Woche nach Saudi-Arabien› – der Assistent versteht, dass Frauen in Saudi-Arabien die Schultern und Beine abdecken müssen, und findet online entsprechende Kleidung», nennt Thrun einen möglichen Use Case. Die Idee dahinter: «Diese Art von Gespräch wird den Zugriff auf Online-Informationen revolutionieren», so Thrun. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs stand das Produkt kurz vor einem Testlauf. Ist er erfolgreich, möchte Sage AI Labs auch Assistenten für andere Online-Geschäftsbereiche einführen.
Letztes Jahr unterzeichneten Tausende Forscher und Unternehmer, darunter Tesla-Gründer und -CEO Elon Musk und Apple-Mitgründer Steve Wozniak, einen offenen Brief, der eine sechsmonatige Pause für grosse KI-Experimente forderte. Damals schrieb Thrun in einem Linkedin-Beitrag: «Wir sollten die Forschung im Bereich der KI auf keinen Fall aufgeben. Wir sollten das Gegenteil tun: Wir sollten diese Modelle verfeinern, damit sie brauchbarer, vertrauenswürdiger und genauer werden.» Ein Jahr später, während unseres Gesprächs, hat der Deutsch-Amerikaner seine Meinung nicht geändert: «Ich bin sehr optimistisch», so Thrun über die KI-Entwicklung. «Ich glaube, dass es im Moment keine Gefahr gibt, dass KI ausser Kontrolle gerät; viele schätzen das falsch ein. Alles, was wir uns geschaffen haben, ist ein Spiegel der Gesellschaft.» KI-Modelle wie Open AIs Chat GPT greifen auf Informationen zu, die bereits im Internet sind. Aber selbst Thrun sagt, dass die Gefahr besteht, dass solche Modelle für kriminelle Zwecke genutzt werden: «Es gibt immer Missbrauch und wir müssen daran arbeiten, dass dieser minimiert wird.» Dazu kommt, dass KI leicht zu missbrauchen ist: Das Erstellen von Deepfakes ist relativ einfach und billig, über soziale Netzwerke können Fehlinformationen schnell verbreitet werden.
Trotz dieser Gefahren ist Thrun, der in einigen KI-Firmen investiert ist, optimistisch. Er sagt: «Die Welt ist über die letzten Jahrzehnte sehr viel besser geworden – wir leben länger, wir haben mehr Essen, wir haben mehr Energie. Ich denke, dass diese Sequenz von neuen Erfindungen und neuen Gedanken immer schneller wird.» Unternehmen werden deshalb, so sein Argument, in den nächsten Jahren Technologien entwickeln, die die Probleme von KI bewältigen. «Diese Technologien sind nicht generell schlecht», so Thrun. Hoffentlich behält er recht.
Fotos: Verena Vötter
Foto: Waymo