MASTERS OF DISASTERS

Mord, Überfall, Chaos! Social Media zeigen uns meist eine gefilterte Realität. Doch Andrew Frame, der Gründer von Citizen, nutzt Notfalldaten, um Nutzern in Echtzeit einen Feed voller Kriminalität zu liefern.

Mit einem Fingertippen auf den Bildschirm erfüllen uns Smartphones binnen Augenblicken den Grossteil unserer Wünsche – ­Nahrung, Unterkunft, Transport, ­Unterhaltung, Sex. Der Gründer der App ­Citizen, Andrew Frame, glaubt, dass er unseren Telefonen eine weitere wichtige Notwendigkeit hinzufügen kann: persönliche Sicherheit. „Wir alle haben Supercomputer in der Tasche, die Locations orten und live Videos über­tragen können“, sagt Frame.

Am Sitz seines Start-ups in New York beobachten junge Mitarbeiter, wie sich quer über die USA verstreut Chaos und Kriminalität verbreiten: In Philadelphia wird ein Kind entführt, in Baltimore kollidiert ein Polizeiauto mit einem 15-Jährigen, in Los Angeles wird ein Mann mit einem Messer verwundet, in New York bricht ein Feuer aus. Die Schreibtische von Citizen sind mit riesigen Monitoren gefüllt – eine Mischung aus Flugzeugcockpit und einem Tradingfloor an der Wall Street. Die hier tätigen Analysten lauschen über ihre Kopfhörer Audioclips, während ihre Augen auf Text-Chats und Stadtpläne gerichtet sind. Ihre Finger tippen schnell, während sie zwischen Vorfällen hin- und herschalten, Sicherheitswarnungen abgeben und Videos und Updates an Citizens Nutzer schicken, die sich in der Nähe der Notfälle be­finden.

„Wir haben die Daten aus ­Notrufen für die Menschen verfügbar gemacht“, sagt der 39-jährige Frame, der mit seiner Baseballkappe und seinem karierten Hemd zehn Jahre jünger aussieht, als er eigentlich ist. Laut seinem Blog hat Citizen bereits geholfen, vermisste Personen zu finden, entführte Kinder zu retten, auf Gebäudebrände aufmerksam zu machen und Raubüberfällen, Schiessereien und bewaffneten Verdächtigen aus dem Weg zu gehen. Ärzte in der Notaufnahme nutzen Citizen, um sich auf neue Patienten vorzubereiten, Nachrichtensender brauchen die App, um zu wissen, welche Artikel sie schreiben sollten, und Communitys checken die Anwendung regelmässig, um über Probleme in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft auf dem Laufenden zu bleiben.

Citizen ist derzeit in fünf Städten (New York, Los Angeles, Baltimore, Philadelphia und San Francisco) aktiv und hat mehr als eine Million aktive Nutzer. Jede Woche senden TV-Nachrichten mehr als 100 Videos, die von Citizen aufgenommen wurden. Das Unternehmen, das 2016 als Verbrechensbekämpfungstool namens Vigilante ins Leben gerufen und damals von Apple aus Sicherheitsgründen verboten wurde, rangiert heute in den Top Ten der News-Apps, oft noch vor CNN, Buzzfeed, der New York Times und Google News. Doch Citizen ist nicht der einzige Akteur in der Branche. Das in San Francisco ansässige soziale Netzwerk Nextdoor, das derzeit auf 2,1 Milliarden US-$ geschätzt wird, lässt seine Mitglieder Verbrechen und verdächtige Aktivitäten melden; Ring, ein Unternehmen, das smarte Türklingeln herstellt und von Amazon letztes Jahr um eine Milliarde US-$ gekauft wurde, bietet eine Überwachungsfunktion für Nachbarschaften, die es Benutzern und Strafverfolgungsbehörden ermöglicht, Nachrichten und Warnungen zu veröffentlichen.

Obwohl Citizen keine Umsätze generiert, sammelte das Unternehmen bereits 40 Millionen US-$ von einflussreichen Venture-Firmen wie Sequoia Capital, Founders Fund, Slow Ventures, 8VC, Kapor Capital und Lux Capital ein. Prominente Investoren sind etwa der Rapper Drake oder Basketballstar LeBron James. „Wir waren begeistert von der Kombination aus Transparenz, der Unternehmensmission sowie einem leidenschaftlichen Gründer, der weiss, was zu tun ist“, sagt der ehemalige Slow-Ventures-Partner Scott Marlette.

Citizen erhält seine Informationen, indem es öffentliche Radiosendungen abhört – so, wie es auch Journalisten und Kriminelle seit Jahrzehnten tun. Es tut dies ohne Unterstützung oder Genehmigung der Behörden. Um Datenschutz zu wahren und Klagen zu vermeiden, veröffentlicht Citizen nur Sicherheitsbedrohungen. Berichte über Verdächtigte, über medizinische Fragen, Selbstmorde oder häusliche Unruhen werden nicht veröffentlicht. Zudem wird jeder Beitrag von einem Menschen veröffentlicht. Mit einem Fingerklick wird die Benachrichtigung auf einer Strassenkarte platziert sowie um zusätzliche Details und Benutzerkommentare erweitert. Mit der App können aktuelle Notfälle in der ganzen Stadt erkundet werden, symbolisiert durch rote Punkte.

Wenn Nutzer nahe genug an einen Vorfall kommen, erscheint auf dem Handy eine Aufnahme­taste, mit der ein Livevideo aufgenommen werden kann. Frame sagt, dass die Mitarbeiter von Citizen alle Inhalte überprüfen, bevor sie auf die Plattform gelangen – um Privatsphäre zu schützen, Streiche zu vermeiden und die Liveübertragung von Morden oder Gewalt zu verhindern (was auf Facebook und Youtube ein Problem darstellt). Die Nutzer werden weder für ihre Videos bezahlt noch werden Videos mit Likes versehen.

Andrew Frame
... brachte sich selbst das Hacken bei, bevor er wegen dem Durchdringen von zwei NASA-Systemen vom FBI gesucht wurde. Er half bei der Errichtung der Facebook-Architektur mit und startete das Unternehmen Ooma, bevor er sein heutiges Start-up Citizen gründete.

Fans sehen Citizen als Möglichkeit, die Sicherheit in der Nachbarschaft zu steigern. Andere glauben, dass die Livevideo-Funktion sowohl Verdächtige als auch die Polizei schützen kann. „Es ermöglicht Gemeinden und Strafverfolgungsbehörden eine transparente und vertrauensvolle Beziehung – und das kann Veränderung ermöglichen“, sagt Ben Jealous, Ex-Chef der NAACP und derzeit Kapor-Capital-Partner, der in Citizen investiert hat. Kritiker sehen hingegen eine App, die Voyeurismus befeuert und Angst auslöst, die selbst die sicherste Stadt der Welt aussehen lassen könnte, als würde sie in einer Flut von Verbrechen untergehen. Darüber hinaus könne die Plattform Nutzer ermutigen, sich selbst in Gefahr zu begeben.

„Es wird nicht garantiert, dass nicht manches in der App unbegründet sein könnte – und es gibt keine Massnahmen, die sagen, dass etwas ein Fehlalarm war“, sagt Justin Brannan, ein New Yorker Stadtrat, der die App öffentlich kritisiert. „Die Anwendung baut nicht nur ein Gefühl von Angst und Schrecken auf, sondern dieses Gefühl wird auch nicht korrigiert. Das ist rücksichtslos.“ Frame sieht das anders: „Wir denken, dass Transparenz und Informationen helfen. Uns wurde gesagt, dass wir verrückt sind, dass das rücksichtslos und destruktiv ist, aber wir gingen das Risiko ein.“

Für Andrew Frame ist Citizen das Zusammentreffen von zwei Dingen, die sein Leben geprägt haben: Technologie und Strafverfolgung. An einem Morgen im Jahr 1997 in Las Vegas wurde Frame, damals 17 Jahre alt und Betreiber eines Internet-Serviceanbieters, plötzlich von bewaffneten FBI-Leuten geweckt. Sein erster Gedanke: Sein Mitbewohner hatte etwas angestellt. Als Frame jedoch nur in Boxershorts bekleidet mit Handschellen abgeführt wurde, war ihm klar, dass die Polizisten ihn endlich gefunden hatten.

Uns wurde gesagt, dass wir verrückt sind, dass das rücksichtslos und destruktiv ist, aber wir gingen das Risiko ein.

Frame wuchs in Nevada auf, Geld war in seiner Jugend nie viel vorhanden. Computer waren seine Fluchtmöglichkeit; er baute sein erstes System mit Linux und lernte, wie Computer und das Internet funktionieren. Bald verbrachte er die Nächte in Chatrooms – wo er das Hacken erlernte.

Mit 14 Jahren bekam Frame mithilfe eines gefälschten Ausweises einen Job als Telemarketer. Er verliess die Schule mit 16 Jahren, um tagsüber zu arbeiten und nachts zu hacken. „Ich kam an den Punkt, an dem ich quasi in jedes System einsteigen konnte.“ Fasziniert von Ufos durchbrach er bald zwei Hauptsysteme der Nasa – genannt Lima und Bean – in deren Jet Propulsion Laboratory. Dank eines weiteren gefälschten Ausweises und eines aufgehübschten Lebenslaufs erhielt Frame 1997 einen Job bei Cisco, als Systemingenieur. Es war ein Traum – bis Frames Vergangenheit diesen Traum in einen Albtraum verwandelte.

Die Razzia war Teil einer zwei Jahre dauernden Untersuchung des Nasa-Hacks. „Freunde und Verwandte riefen mich an und sagten: „Das FBI kam gerade zu mir nach Hause – was hast du getan?“ Am Ende verhängte der Richter ein „Catch Me If You Can“-Urteil: keine Gefängnisstrafe, eine Geldstrafe von 25.000 US-$ und 100 Stunden sozialer Dienst sowie fünf Jahre Bewährung. Die Bedingung: Frame musste der Nasa alle Schwachstellen in ihrem Jet Propulsion Network zeigen. „Er erwischte die Regierung mit heruntergelassenen Hosen“, sagte Frames Anwalt John Spilotro. „Das Schöne daran war, dass er ihr geholfen hat, sie wieder hochzuziehen.“

2004 gründete Frame mit Ooma ein Hardwareunternehmen. Es ermöglichte kostenlose Telefonate über das Internet. Gleichzeitig verbrachte er viel Zeit mit Napster-Mitgründer Shawn Fanning, den er in einem Chatroom kennengelernt hatte – und bald auch mit Sean Parker und Mark Zuckerberg. Er half informell beim Aufbau der Facebook-Architektur. Bezahlt wurde er für ein paar Wochen Arbeit mit Aktien, die ihn reich machten. Frame will keine genauen Zahlen nennen, bestätigt aber, dass der Betrag achtstellig war.

Die Idee zu Citizen kam ihm 2015, während er auf die Rückseite von Mietshäusern in Manhattan schaute. Er dachte an die unsichtbaren modernen Signale, die durch die Gebäude ziehen – drahtlose Anrufe, Wi-Fi, Polizeifunk. Was, wenn es für Smartphones eine Möglichkeit gäbe, Notrufe zu erfassen? Er erzählte seinen Entwicklern, dass er in einer Woche einen Prototyp brauchte.

Er nannte das Projekt Vigi­lante, was ein Fehler war. Für einen jungen Menschen steht Vigilante vielleicht für jemanden wie Batman. Doch der Begriff ist nicht für alle positiv konnotiert. Vigilante launchte am 25. Oktober 2016. Zuerst war das Team enttäuscht, denn es passierte nichts. Doch am nächsten Morgen war Vigilante Trending Topic auf dem sozialen Netzwerk Reddit. Einige Tage nach dem Start der App rief Apple bei Frame an. Vigilante verstiess gegen eine Regel des App-Store: „Apps sollten Kunden nicht dazu bringen, an illegalen Aktivitäten teilzunehmen (etwa Glücksspiel, Anm.) oder ihre Geräte so zu benutzen, dass sie sich selbst oder anderen körperlich schaden.“ Frame argumentierte, dass dies ein Sicherheitstool und keine Anwendung zur Verbrechensbekämpfung sei – aber der Name Vigilante und das Video halfen ihm nicht. Apple verbat die App, das Wachstum fror ein.

Monatelang beschäftigte sich Frame mit einer Lösung. Er änderte den Namen in Citizen und änderte die Marketingbotschaft: weg von Verbrechensbekämpfung, hin zu Sicherheit. Nach monatelangen Verhandlungen nahm Apple die App im März 2017 wieder in Betrieb. „Jeder denkt, dass wir die App verändert haben, aber das haben wir eigentlich nicht getan. Wir haben uns nur ein wenig zurückgehalten und den Namen geändert“, sagt Frame.

Citizen muss nun ein weiteres drängendes Problem lösen: Wie soll die werbefreie Plattform Geld verdienen? Frame gibt dazu keine Details preis. Quellen im Unternehmen deuten auf ein Modell hin, bei dem sich Citizen von Universitäten, Flughäfen, Stadien und anderen Orten, an denen sich viele Menschen aufhalten, bezahlen lässt, damit diese Organisationen Benachrichtigungen an Nutzer schicken dürfen – entweder, um Notfallanweisungen zu versenden oder um nach einem Fehlalarm Panik zu vermeiden. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass Benutzer Beamte über Sicherheitsbedenken informieren, quasi eine mobile Version des Leitspruchs „See Something, Say Something“.

Citizen erhält seine Informationen, indem es öffentliche Radiosendungen abhört. Es tut dies ohne Unterstützung oder Genehmigung der Behörden. Mit der App können aktuelle Notfälle in der ganzen Stadt erkundet werden, symbolisiert durch rote Punkte.

Investoren sehen, dass jedes Jahr Milliarden US-$ für Sicherheit ausgegeben werden. Wenn Citizen an Bedeutung gewinnt, könnte es eine wesentliche Ergänzung zu den bestehenden Sicherheitssystemen sein und sich zu einem lukrativen, nützlichen Unternehmen entwickeln. Der ehemalige Kommissar der New Yorker Polizei Bill Bratton meint, dass viele Menschen, die Angst haben, dass die Behörden ihren Standort verfolgen, nie eine offizielle App zur Strafverfolgung herunterladen würden. Er wettet, dass Citizen als vertrauenswürdige, unabhängige App ein Werkzeug für Rettungsdienste sein kann, um wichtige Informationen schnell und effizient an die Öffentlichkeit weiterzugeben. „Besser informierte Bürger sorgen für eine besser informierte Polizei“, sagt Bratton.

Eine neue Citizen-Version soll im Herbst dieses Jahres erscheinen. Frame bleibt vage, sagt aber, dass Citizen die Kritik wahrnimmt, wonach die App unnötige Angst verursache. Er erforscht auch Möglichkeiten, um Benutzer oder Communitys bei Problemen zu erreichen, die keine Notfallhelfer erfordern. Obwohl er sein Geschäftsmodell zurückhaltend findet, verspricht Frame, dass Citizen kein Geld mit Werbung oder dem Austausch von Benutzerinformationen verdienen wird. „Wir werden niemals Einnahmen erzielen oder unser Geschäft durch den Verkauf ­personenbezogener Daten aufbauen. Unser gesamtes Unternehmen ist darauf ausgerichtet, Benutzer zu schützen, und dazu gehört auch der Schutz ihrer Privatsphäre.“

Frame ist lange nicht mehr der Teenager-Hacker, der nahezu im Gefängnis landete, weil er Regierungssysteme geknackt hatte. „Als der Richter mir meine Bewährungsstrafe gab, fühlte es sich an, als wäre ich von einer unheilbaren Krankheit geheilt worden“, sagt Frame. „Ich werde nie wieder auch nur ein Stoppschild übersehen.“

Text: Steven Bertoni / Forbes US
Fotos: Jamel Toppin / Forbes US

Der Artikel ist in unserer Dezember-Ausgabe 2019 „Sicherheit“ erschienen.

Forbes Editors

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